Ein Jahr Proteste in Iran: „Für uns hat eine neue Zeitrechnung begonnen“

Hunderte Todesopfer und überfüllte Gefängnisse: Die Bevölkerung in Iran lehnt sich seit einem Jahr massiv gegen das Regime auf. Und das antwortet mit Gewalt. Wie ist es den Menschen in den vergangenen Monaten ergangen? Drei Frauen aus Iran berichten.

Von Taymas Matboo
Veröffentlicht am 19. Sept. 2023, 08:46 MESZ
Demonstrierende Menschen halten ein großes Plakat mit der Aufschrift "Power to the people"

Dieses Bild entstand im Oktober 2022 in Berlin bei einer Großdemonstration zur Solidarität mit den Protesten gegen die iranische Regierung. Mehr als 80.000 Menschen beteiligten sich. Weltweit werden seit vergangenem Jahr immer wieder Demonstrationen organisiert. In Iran selbst gab und gibt es bei den landesweiten Protesten immer wieder Festnahmen, Verletzte und Tote.

Foto von Leonhard Lenz/ Commons Wikimedia

365 Tage Revolte in Iran – Protestierende auf den Straßen, brennende Kopftücher, landesweite Generalstreiks, singende und tanzende Menschen auf öffentlichen Plätzen. Zudem schätzungsweise über 30.000 Festnahmen und mindestens 800 Todesopfer, abgeschaltetes Internet, unzählige Todesurteile: Vor einem Jahr fiel die iranische Kurdin Jîna Mahsa Amini in Polizeigewahrsam unter ungeklärten Umständen ins Koma. Sie war von der staatlichen „Sittenpolizei“ in Teheran verhaftet worden, mit der Begründung, sie habe die Kleidervorschriften nicht eingehalten. Wenige Tage nach der Festnahme starb sie in einem Krankenhaus. Seitdem gibt es Massenproteste. 

Mit der kurdischen feministischen Parole „Jin* Jîyan Azadî – Frau* Leben Freiheit“ werden die Proteste angeführt. Nicht nur im Land selbst, sondern weltweit. Wie ist es den Menschen im Land im vergangenen Jahr ergangen? Drei Frauen, die sich an den Protesten in Iran beteiligten, berichten. 

Nasi*, 59, Anästhesistin aus Teheran: 

Die vergangenen zwölf Monate waren schlimm. Die vielen Nachrichten über Verhaftungen und die zahlreichen Todesnachrichten von jungen Menschen haben mich sehr getroffen – ich werde die Gesichter der ermordeten Jugendlichen nie vergessen. 

Ich kann nachts oft nicht schlafen und weine viel. Wut und Angst haben mich vereinnahmt – auch wenn die Situation in Iran nicht neu ist: Angst bestimmt mein Leben hier seit über 44 Jahren. Seit Bestehen der Islamischen Republik werden Menschen, die gegen das Regime sind, unter Druck gesetzt. Ich lebe permanent mit einem Gefühl des Erstickens, mit Drohungen und dem Druck der sogenannten Sittenwächter. Es ist verrückt, aber ich habe selbst dann Angst vor der Polizei, wenn ich außerhalb von Iran reise. Viele Male wurde ich in Teheran mit auf die Wache genommen, einmal sogar inhaftiert, weil ich nicht vorschriftsmäßig die vom Regime verordnete Kleidung trug. Ich empfinde den Hijab als umständlich, er stört mich.

Als 2022 die Proteste begannen, versuchte ich mich nach einer Weile zu beteiligen, indem ich nachts im Schutz der Dunkelheit Parolen gegen das Regime schrie. Ich rief von der Terrasse meines Hauses und versuchte, die Menschen um mich herum zu zivilem Ungehorsam zu ermutigen. Viele taten es monatelang jeden Abend.

Teheran ist seit Beginn der Proteste bunter und schöner geworden. Die Zahl der Frauen, die den Hijab abgelegt haben, hat über das vergangene Jahr stetig zugenommen. Viele junge Mädchen laufen mit langen Haaren und farbenfrohen Kleidern durch die Straßen. Als ich gesehen habe, dass diese mutigen jungen Frauen ihr Kopftuch ablegen, habe ich einfach mitgemacht. Ich ging ohne Hijab auf die Straße, zum ersten Mal seit September 1980. Anfangs haben mich einige der jungen Frauen überrascht angeschaut – vielleicht, weil sie nicht damit gerechnet haben, eine ältere Frau mit komplett ergrauten Haaren zu sehen, die sich an ihre Seite stellt. Das war jedoch das Mindeste, was ich tun konnte. 

Mittlerweile ist es zur Normalität geworden in der Öffentlichkeit: Viele Frauen in Teheran – ob jung oder alt – tragen kein Kopftuch mehr. Niemand sieht mich mehr überrascht an. Manchmal aber ermutigen mich entgegenkommende Passant*innen mit einem Lächeln oder einem Zeichen der Sympathie oder auch des Sieges. Frauen musizieren nun auf den Straßen oder tanzen. Das war vor zwei Jahren noch undenkbar. 

 

“Ich ging ohne Hijab auf die Straße, zum ersten Mal seit September 1980.”

Seit einigen Wochen achten Frauen jedoch während des Autofahrens wieder mehr darauf, den Hijab zu tragen, denn die Kontrollen sind massiv verschärft worden: Vor allem an Kreuzungen finden Videoüberwachungen statt. Über die Nummernschilder können die Personen in den Autos identifiziert werden – einer Freundin wurde für einige Wochen der Führerschein entzogen und sie musste eine hohe Geldstrafe zahlen. 

Das Traurigste an den Geschehnissen ist die Aussichtslosigkeit: Ich habe mittlerweile kaum noch Hoffnung auf einen Regimewechsel. Es wird keine Änderungen geben, solange wirtschaftliche Interessen die Weltgemeinschaft leiten und diese das iranische Regime durch Handelsabkommen unterstützt. Letztes Jahr haben viele mutige Menschen aus tiefster Kehle geschrien, dass sie keine Islamische Republik mehr haben wollen. Aber ihre Stimmen wurden alle erstickt. Die Regierung hat den rechtlichen und sozialen Druck extrem erhöht. Wir sind Gefangene in diesem Land. 

Das gilt auch für das Fenster nach draußen, das Internet: Die Geschwindigkeit ist gedrosselt, einige Seiten sind teilweise überhaupt nicht zugänglich. Die meisten sozialen Netzwerke werden gefiltert. Um die Internetblockade zu umgehen und bestimmte Inhalte zu sehen, muss ich VPN-Programme installieren, und die sind teuer. Für mich und für viele andere Menschen in Iran ist das finanziell kaum noch stemmbar: In Iran herrscht Inflation und durch Embargos sind die Preise extrem gestiegen. Eigentlich war ich im Ruhestand. Nun arbeite ich jedoch wieder in einem großen Krankenhaus in Teheran – es geht nicht anders: Bei den explodierenden Lebenshaltungskosten reicht meine Rente nicht zum Leben. 

Ich bin sehr besorgt über die Zukunft, vor allem über die kommenden Todestage der vielen jungen, ermordeten Menschen. Es wird sicherlich zu Ausschreitungen kommen. Welche schrecklichen Druckmittel werden sie dieses Mal anwenden, um die Menschen zum Gehorsam zu bewegen?“

BELIEBT

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    Sayeh*, 27, Kosmetikerin aus Arak:

    „Ich gehe schon seit 2017 immer wieder auf die Straße gegen das Regime – in diesem Land gibt es so viele Gründe für Protest: ob zu niedrige Renten oder steigende Preise. Aber vergangenes Jahr war es anders als vorher: Ich hatte keine Angst mehr, ich habe nur Wut gespürt. Und das ging vielen so. In meinem Umfeld entwickelte sich eine so noch nie dagewesene Energie. Es wurden plötzlich Protestaktionen durchgeführt, die vor der Jîna-Revolution für viele undenkbar gewesen wären.

    Wir zogen regelmäßig in Gruppen von sechs Personen los. Da ich in einer kleinen Stadt lebe, versuchten wir, uns so zu kleiden, dass man uns nicht sofort erkennt. Wir trugen Kappen, Masken und Brillen, einfarbige Kleidung ohne Muster. Vorher wickelten wir unseren Körper mit Plastikfolie ein und befestigten Metallgefäße an sensiblen Körperstellen unter unserer Kleidung, um uns vor den Schüssen aus den Schrotgewehren der Sicherheitskräfte zu schützen. 

    Gleich bei der ersten Demonstration im September 2022 wurde ich verletzt. Polizisten warfen mich zu Boden und zerrten mich an den Armen über den Asphalt. Ich konnte mich befreien. Meine Verletzungen an Schulter und Brustkorb haben mich nicht aufgehalten. Im Gegenteil: Sie haben mich noch wütender und entschlossener gemacht. Am darauffolgenden Tag stieg ich auf ein Auto und verbrannte mein Kopftuch.

    Galerie: Mit Kunst gegen das Regime

    Die festgenommenen Demonstrierenden, die nicht bereit waren, ihre Kritik am Regime schriftlich wie öffentlich zurückzunehmen, wurden eingesperrt und gefoltert. Die Gefängnisse sind voll mit unschuldigen Menschen. Trotzdem trauen sich weiterhin viele Frauen, den erzwungenen Hijab von den Straßen Irans zu verbannen – indem sie ihn einfach nicht mehr tragen. In meinen Augen ist der Hijab das Symbol der Unterdrückung der freien Frau. Seit vergangenem Herbst trage ich mein Haar konsequent unbedeckt. Trotz der Angst vor der Sittenpolizei und der Androhungen, ausgepeitscht zu werden, lasse ich mich nicht einschüchtern. Und ich versuche, andere zu ermutigen. 

    Tag zu Tag härter, sowohl wirtschaftlich als auch sozial, und besonders für politische Aktivist*innen. Jeden Moment lebt man in Angst, von der Regierung festgenommen und verschleppt zu werden. Es wird von Seiten des Regimes hart durchgegriffen. Trotzdem geben wir nicht auf. Am Todestag von Jîna Amini haben hier in Arak die Sprechgesänge junger Menschen die Straßen erfüllt. Es sind auch wieder Schüsse gefallen. 

    Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die unterdrückten Menschen in Iran in Eintracht - unabhängig von politischen und religiösen Unterschieden - auf die Straße gehen und diese diktatorische Regierung gemeinsam stürzen. Ich bin mir sicher, die Freiheit ist nah.“ 

    Raha*, 32, Anwältin, lebt in einer Kleinstadt in der Provinz Ilam 

    „Für die Menschen in Iran begann mit dem 16. September 2022 eine neue Zeitrechnung. Ich spreche trotz meiner derzeitigen Resignation von einer Revolution. Seit dem gewaltsamen Tod unserer Jîna ändert sich unser aller Leben in diesem Land. Ich bin auch ihrer Familie sehr dankbar, die unfassbar mutig ist und sich bis heute nicht hat einschüchtern lassen. Sie kämpft unerschrocken gegen das Unrecht.

    Wie in vielen Orten Irans entstand auch in meiner Heimatstadt nach Jînas Tod ein Protestzug von etwa 1.000 Menschen. Eine beachtliche Zahl für unsere vergleichsweise kleine Stadt. Wir Frauen verbrannten unsere Hijabs und riefen gemeinsam mit den Männern „Jin Jîyan Azadî“. Es war das erste Mal, dass es die Menschen aus meinem Ort wagten, öffentlich aufzubegehren. Einige Tage später wurden viele junge Menschen festgenommen. Sie drangen am frühen Morgen, während noch alle schliefen, mit 20 Mann in die Häuser ein und nahmen die Menschen mit an einen unbekannten Ort. Die jüngste Person war ein 15-jähriges Mädchen.

    Festnahmen wurden wochenlang immer wieder durchgeführt. Aus Solidarität mit den Festgenommenen öffneten die Ladenbesitzer*innen ihre Geschäfte nicht – diese Art von Solidarität gab es überall in Iran. Einige der Inhaftierten aus meinem Ort kamen gegen extrem hohe Kautionen frei, eine enorme finanzielle Belastung für die meisten Familien.

    Bei einer Demonstration in der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Ilam erlebte ich ein Ausmaß von Gewalt, das ich mir so nicht hätte vorstellen können. Auf Motorrädern fuhren die Sicherheitsleute des Regimes in die Menge und prügelten ohne Hemmungen mit Schlagstöcken auf die Demonstrierenden ein. Es wurde systematisch mit Schrotkugeln geschossen. Eine Freundin hat ihr Augenlicht verloren, einer Bekannten haben sie die Nase weggeschossen, ein lieber Freund von mir verlor sein Leben, als er einer Demonstrierenden zu Hilfe eilte. Ich werde diese Bilder nie wieder los. Die Menschen, die Gesichtsverletzungen von den Schrotkugeln davongetragen haben, sind nun nicht nur gezeichnet, sondern in der Öffentlichkeit für alle leicht als Regimekritiker*innen zu erkennen – vor allem für die Leute des Regimes. 

    “Ich übernehme diese Fälle nicht, weil ich glaube, etwas für sie tun zu können. Ich übernehme sie, um die Demonstrierenden moralisch zu unterstützen. Juristisch bin ich machtlos.”

    Als Anwältin muss ich leider sagen, dass meine Arbeit vergebens ist. Die Verteidigung dieser Menschen, die bei Demonstrationen festgenommen wurden, ist nur eine Farce. Ich übernehme diese Fälle nicht, weil ich glaube, etwas für sie tun zu können. Ich übernehme sie, um die Leute moralisch zu unterstützen. Juristisch bin ich machtlos. Ich kann gar nichts für sie tun. Unter Druck und Drohungen und unter Folter werden falsche Geständnisse abgelegt, die nicht mehr anfechtbar sind. Methoden wie Nägel ziehen, sehr harte Schläge ins Gesicht und auf den Kopf, Elektroschocks und sexuelle Misshandlungen sind üblich. Es herrscht kein Recht, nur Willkür. 

    Was etwas hilft ist, die Namen von Inhaftierten zu veröffentlichen. Gerade von jenen, denen es sehr schlecht geht, die keine finanziellen Mittel haben, um Schmiergelder zu zahlen – wie Vahid Tshavaran. Es scheint, als wären sie Vergessene dieser Welt. Sichtbarkeit kann in iranischen Gefängnissen Menschenleben schützen.

    Seit etwa einer Woche – kurz vor den Todestagen von Jîna und den anderen ermordeten jungen Menschen wie Nika, Sarina oder Hadis – finden aktuell wieder vermehrt Festnahmen statt, auch in meinem Heimatort. Solange nicht halb Teheran auf die Straße geht, wird nichts passieren. Wir in unserer kleinen Stadt sind nur wenige, nur die Masse kann etwas bewegen. 

    Wir haben ein Jahr lang alles gegeben. Umsonst war es nicht. Das Bild unserer Stadt hat sich verändert. Frauen laufen nun mit langen Haaren, in wunderschönen bunten kurdischen Röcken oder mit ganz ausgefallenen modernen Stylings über den Hauptplatz. Diese Freiheit lassen wir uns von niemandem mehr nehmen. Die Revolution hat begonnen.“

    * Zum Schutz unserer Protagonistinnen haben wir ihre Namen geändert. 

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