Hate Speech: Darum reagieren Menschen in Krisensituationen oft aggressiv

Klimawandel, politische Unruhen, Inflation, Krieg: Zahlreiche Krisen beunruhigen die Bevölkerung. Doch wieso reagieren einige mit Wut und Aggression darauf? Eine psychologische Einordnung.

Von Sarah Langer
Veröffentlicht am 26. Jan. 2024, 11:17 MEZ
Hate speech: Darum reagieren Menschen in Krisensituationen oft aggressiv

Auch auf Demonstrationen können die Emotionen der Gesellschaft überkochen. 

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Krisensituationen sind vor allem eins: beängstigend. Laut einer Studie von R + V stiegen die allgemeinen Ängste der Gesellschaft 2023 auf einen Höchstwert der letzten fünf Jahre an. An erster Stelle lag mit 65 Prozent die Angst vor zu teuren Lebenserhaltungskosten. Neu dazu kam 2023 die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft und dadurch resultierende Unruhen – mit 50 Prozent. Und Angst ist es, die schnell in Wut umschlagen kann. Das erklärt auch Dr. Joris Lammers, Professor für Politische Psychologie an der Uni Köln. „Unsicherheiten in der Gesellschaft lösen auch immer Unsicherheiten in jedem Einzelnen aus. Fragen wie „Was bedeutet das für mich persönlich?“, „Reicht das Geld?“, oder „Wie werde ich in Zukunft leben?“ spielen eine große Rolle. Die Unsicherheit gilt als der größte Auslöser für Wut und Aggression bei uns Menschen.“ Da Sicherheit eines der größten psychologischen Grundbedürfnisse sei, löse Unsicherheit in vielen eine starke Angst aus. Diese Angst gegen ein bestimmtes „Feindbild“ zu richten, das man klar benennen kann, falle vielen Leuten leichter als die Unwissenheit, so der Psychologe. Durch genau diese Feindbilder entstehe auch das Phänomen der Verschwörungstheorien. „So können Menschen die Probleme und dadurch die Unsicherheit erklären und sie klar benennen.“ 

Auf der Suche nach Lösungen: Feindbilder vereinfachen die Komplexität der Realität

 Noch dazu spiele das extreme Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine Rolle. „Wir Menschen sind Gruppentiere, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist ebenfalls eines unserer Grundbedürfnisse. Dabei soll die eigene Gruppe immer besser sein als die andere“, so Dr. Lammers. Mit dem Wissen, dass es einen Feind gibt, der für alles verantwortlich ist, könne man die „feindliche“ Gruppe herab- und die eigene und damit auch sich selbst aufwerten. Ob dies mit Fakten oder mit Hetze passiere, sei dabei irrelevant. Weiter erklärt der Psychologe: „Die Wirklichkeit ist sehr komplex. Je mehr man diese Komplexität vereinfachen kann, indem man sich ein Feindbild sucht und diesem die Schuld an allen komplexen Fragen gibt, umso einfacher bekommt man selbst eine Lösung.“ Je größer das Problem, umso größer werde die Unsicherheit und umso mehr werde eine Erklärung benötigt. Gebe man beispielsweise Migrant*innen oder einer bestimmten Partei oder Person die Schuld, habe man diese automatisch abgegeben – und seine eigene Zugehörigkeitsgruppe als besser dargestellt, indem man sich der Verantwortung entziehe. 

Auch der Wunsch nach einer Gruppenzugehörigkeit und der Verteidigung dieser spielt eine große Rolle. 

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Die Schuld bei anderen zu suchen, statt bei sich selbst, sei immer einfacher. Der politische Psychologe erklärt, dass diese Form der Kommunikation in der Politik oft verwendet werde, von manchen Parteien mehr als von anderen. Dieses eigentlich menschliche Verhalten diene hier dazu, die eigene Gruppe zu stärken und sich interessant für potenzielle Wähler zu machen. So ordnet Ex-Präsident Donald Trump viele Probleme des Landes den Migrant*innen und der Migration in den USA zu. Damit ist nicht nur ein Schuldiger gefunden, er zieht so auch konservative Amerikaner auf seine Seite. Der eigene Standpunkt wird jedoch oft mit besonderer Härte beschützt, weshalb es nicht unüblich ist, dass dem erschaffenen Feindbild mit viel Wut und Aggression gegenübergetreten wird.  

Soziale Medien als Sammelbecken für Wut und Aggression

Die sozialen Medien bilden dabei ein Sammelbecken für diese Wut und Aggression. Laut Dr. Lammers sei das nicht verwunderlich. Gerade im Internet sinke zusätzlich die Hemmschwelle des sozialen Miteinanders, eine soziale Enthemmung finde statt – schuld daran sei die Anonymität.

Laut der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sind fast 80 Prozent aller Internet-User ab 14 Jahren schon einmal mit der sogenannten Hate Speech, zu Deutsch Hassreden, in Berührung gekommen. Der Begriff wird wie folgt definiert: „Hasspostings enthalten Äußerungen, die Einzelne oder Gruppen diskriminieren, zum Beispiel wegen ihrer Herkunft, Religion, ihrer sozialen Zugehörigkeit, wegen einer Behinderung oder wegen ihres Geschlechts. Ziel der sogenannten Hater ist es, Hass auszudrücken und zu verbreiten und Gruppen oder einzelne Personen abzuwerten. Die Täter versuchen, Gruppen oder Einzelne als weniger wert darzustellen.“ Weiter heißt es, dass zwar Meinungsfreiheit bestehe, jedoch gebe es klare Ausnahmen: Volksverhetzung, das Billigen von oder Aufrufen zu Straftaten, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung.

In einem Interview mit dem mdr erklärt Immo Fritsche, Professor für Sozialpsychologie: „Wir haben viele historische Beispiele dafür, dass in Zeiten starker Intergruppenkonflikte so etwas wie Verrohung stattgefunden hat. Im Krieg beispielsweise, wo gegnerische Parteien abgewertet oder auch entmenschlicht werden. Das erleichtert den Konflikt und setzt sich auch auf der Alltagsebene fort.“ Was dann stattfindet, ist die sogenannten Dehumanisierung, die zwar gruppenstärkend wirkt, jedoch zu einer zwischenmenschlichen Abstumpfung führt und auch ein immer weiteres Entfernen von der ursprünglichen Thematik ist möglich. 

BELIEBT

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    Angriff ist nicht die beste Verteidigung. 

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    Wie das Echokammer-Phänomen die eigene Meinung festigt

    Wieso aber festigt sich eine Meinung so, dass man sie mit allen Mitteln verteidigt? Es ist auf das Phänomen der „Echokammer oder Filterblase“ zurückzuführen. Laut dem Journalistikon besagt die Echokammer, „dass sich die öffentliche Kommunikation in voneinander isolierte ,Kammern‘ verlagert – ein Prozess, der als Fragmentierung bezeichnet wird. Eine solche Fragmentierung verläuft dabei nicht zufällig, sondern entlang von Einstellungen und Meinungen: Auf der Mikroebene geht die Echokammer-Hypothese also davon aus, dass sich Menschen mit ähnlichen Ansichten zunehmend in geschützten Räumen austauschen.“ So wird die Meinung mehr und mehr – einseitig – gefestigt und eben diese kommuniziert und vor Gegnern beschützt. 

    Hinzu komme das Konzept des motivierten Denkens („motivated reasoning“), das sich auf das psychologische Phänomen bezieht, dass Menschen zwar logisch denken können, in ihrer Argumentation aber oft in eine eigennützige Richtung lenken. „Beides kommt hier zusammen“, erläutert Dr. Lammers. „Die Hinwendung zu Echokammern passt zu unseren eigennützigen Wünschen und erleichtert eigennützig motivierte Schlussfolgerungen (motivated reasoning).“ 

    Fragen statt Fakten: Darum ist Angriff nicht die beste Verteidigung

    Was wäre nun eine Konsequenz, um aus dieser Entzweiung einen gemeinsamen Weg zu gehen oder zumindest einen Kompromiss zu finden? Dr. Lammers meint, dass wir unseren Standpunkt und unsere Diskussion zwar auf Argumente und (wissenschaftliche) Fakten stützen müssten, dass aber der Versuch, andere durch argumentative Fakten zu überzeugen, oft nicht effektiv sei. „Fakten überzeugen nur, wenn sie mit den eigenen Werten und Überzeugungen übereinstimmen. Zielführender wäre es, auf die genauen Unsicherheiten und Ängste des Gegenübers einzugehen und diese ganz klar mit Strategien zu lösen, beziehungsweise Vorschläge dafür anzubieten.“ 

    Man solle nicht ebenfalls angreifen, sondern eher Fragen stellen, die den Gegenüber zum Zweifeln bringen. Wer versuche, seine Gegner zu überzeugen, solle überlegen, was man gemeinsam habe. Appelliere man an gemeinsame Werte oder Ziele, gelinge es oft besser, eine Verbindung herzustellen und den Gegner zu überzeugen. „Es wird leichter fallen, wenn man sich auf das fokussiert, was man gemeinsam hat. Menschen mit politischen Einstellungen von links sorgen sich beispielsweise um den Klimawandel. Menschen, die sich eher rechts ansiedeln, interessieren sich in den meisten Fällen weniger für den Regenwald, setzen sich aber für Tradition ein. Hier bieten sich Argumente wie der Erhalt deutscher Wälder, wie dem Bayrischen Wald oder dem Schwarzwald an“, nennt Dr. Lammers als Beispiel. So könne eine Kommunikation auf eine Ebene gebracht und im besten Fall sogar gemeinsame Ziele umgesetzt werden. Gefallen lassen müsse man sich jedoch nichts, selbst im Internet könne man schlimme Kommentare und Beleidigungen zur Anzeige bringen. 

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