Rapa Nui: Die bewegte Geschichte der „Osterinsel“
Am Ostersonntag 1722 entdecken Niederländer eine kleine Insel im Pazifik und benennen sie nach dem christlichen Feiertag. Tatsächlich heißt das bewohnte Eiland Rapa Nui – und seine Einheimischen ahnen noch nichts von ihrem bevorstehenden Untergang.
Stumme Riesen: Die Moai sind weltbekannt. Um ihre Entstehung und Fortbewegung rankten sich ebenso viele Mythen und Theorien wie um den Untergang ihrer Erbauer.
Das Logbuch des niederländischen Seefahrers Jakob Roggeveen schreibt den 5. April 1722. Es ist Ostersonntag, als die Besatzung der Flotte aus drei Schiffen nach monatelanger Reise unbekanntes Land am Horizont erblickt. Eigentlich befinden sich die Europäer hier, westlich von Südamerika – im Nirgendwo des Pazifischen Ozeans –, auf der Suche nach „Terra Australis“.
Doch anstatt des erhofften Südkontinents finden die Seeleute nur ein kleines Eiland vor. Roggeveens Neugier um das kleine Fleckchen Erde, umgeben von nichts als dem riesigen Pazifik, ist geweckt. Kurzerhand benennt er die vermeintliche Entdeckung nach dem christlichen Feiertag: Paasch-Eyland – die Osterinsel.
Der Tag markiert für die Ureinwohner*innen der Insel den Anfang vom Ende ihrer bis dahin erstaunlich resilienten Zivilisation.
Ungewöhnlicher Erstkontakt: Auf Waffengewalt folgt Gastfreundschaft
Als sich Roggeveens Flotte neugierig der Insel nähert, vermutet die Besatzung zunächst, sie sei leblos und karg. Doch je näher sie ihrer Küste kommen, desto ersichtlicher wird ihnen: die Landschaft ist bewohnt. Unterdessen werden die großen Schiffe von den ebenso neugierigen Augen der Einheimischen bemerkt. Einige von ihnen besteigen ihre Kanus, um die fremden Ankömmlinge zu begrüßen. Denn Besuch hatten sie an diesem isolierten Ort – den sie selbst als „Zentrum der Welt“ benennen – noch nie.
Portraizeichnungen, erstellt während James Cooks Besuch auf der „Osterinsel“, zeigen eine Rapa Nui Frau...
...und einen einheimischen Mann.
Doch kaum setzen die Niederländer Fuß auf der Insel wird die Situation laut Roggeveens Aufzeichnungen unübersichtlich: Die bewaffneten Ankömmlinge fühlen sich scheinbar durch die interessierten Einheimischen bedrängt, Schüsse fallen. Ein Dutzend Rapa Nui sterben durch die Kugeln. Was in völliger Eskalation hätte enden können, entwickelt sich zur Verwunderung der Europäer dennoch zu einem freundlichen Erstkontakt. Laut Roggeveens Logbuch wird ihnen trotz der Todesfälle mit Gastfreundschaft begegnet, sie erhalten sogar Geschenke in Form von Früchten.
Dennoch ist ihr Besuch nicht von langer Dauer, kurze Zeit später setzen Roggeveen und seine Männer ihre Suche nach Terra Australis fort – mit vielen Fragen im Gepäck. Die wenigen Aufzeichnungen des kurzen Stopps während ihrer Expedition werden für lange Zeit die einzigen weitestgehend gesicherten Anhaltspunkte für das einstige, ursprüngliche Leben auf Rapa Nui bleiben. Denn in diesem paradiesischen Zustand werden es keine fremden Seefahrer mehr zu Gesicht bekommen.
Das isoliere Rapa Nui – und seine blühende Zivilisation
Zur Zeit von Roggeveens Besuch im Jahr 1722 bewohnen mehrere Gemeinschaften von insgesamt rund 3.000 Männern, Frauen und Kindern die kleine, nur rund 12 Kilometer breite und 24 Kilometer lange Insel. Die Menschen hier nennen sich selbst Rapa Nui oder auch Rapanui – denselben Namen tragen ebenso ihr Zuhause und ihre Sprache.
Topografische Karte von Rapa Nui zeigt die Standorte der ahu Plattformen sowie einzelner Moai.
Über die frühe Geschichte des Lebens auf der Osterinsel gibt es mangels schriftlicher Aufzeichnungen lange Zeit kaum gesicherte Informationen. Besiedelt wurde die Insel nicht etwa vom näher gelegenen Südamerika aus, sondern von Polynesiern. Als begnadete Seefahrer steuerten sie die Insel mit ihren herausragend konstruierten Kanus an, die teils eher Katamaranen ähnelten. In diesen mussten sie über Wochen auf offener See ausharren, bevor sie ihr neues Zuhause schließlich erreichten. Wissenschaftliche Analysen datieren ihre Ankunft auf den Zeitraum zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert n. Chr.
Laufende Steinriesen: Die stummen, ausdrucksstarken Moai
Innerhalb der nächsten 700 Jahre, bis die ersten Europäer ihre Eindrücke der Insel schriftlich festhielten, entwickelten sich die Menschen und ihre Kultur isoliert von der Außenwelt weiter. In dieser Zeit errichteten sie ihre weltweit einzigartigen Kunstwerke, die zahlreichen, überlebensgroßen Statuen aus vulkanischem Tuffstein entlang der Küste.
Ölgemälde aus der Zeit um James Cooks Besuch auf Rapa Nui, der „Osterinsel“. Deutlich erkennbar sind die Pukao aus rotem Sandstein, die auf manchen der Moai platziert wurden.
Die meisten der sogenannten Moai ragen etwa vier Meter in die Höhe, manche erreichen sogar eine Höhe von bis zu zehn Metern. Senkrecht stehen sie da, in Reih und Glied auf ebenso gigantischen, puzzleartig aus Steinen zusammengesetzten Plattformen namens ahu, mit dem Rücken zum Meer und den Gesichtern ins Landesinnere gerichtet. Manche von ihnen tragen zusätzlich Pukao – Kopfbedeckungen oder Kronen aus rotem Sandstein. Alle haben einen ähnlich ausdrucksstarken, ernsten Blick, prominente Nasen und Augenhöhlen. Die Rapa Nui fertigten und nutzten sie einst vermutlich, um den Geistern ihrer verstorbenen Häuptlingen oder Vorfahren zu gedenken.
Für die Fertigstellung eines Moai benötigte ein Dutzend Rapa Nui vermutlich etwa ein ganzes Jahr. Die Personen, die an der Erbauung beteiligt waren, konnten sich für lange Zeit nicht an anderweitiger gemeinnütziger Arbeit wie der Nahrungsbeschaffung beteiligen – die Erschaffung der Steinriesen brachte eine dementsprechend große Verantwortung mit sich. Nicht immer konnten die Erbauer dieser gerecht werden. In viele Statuen wurden vergeblich Zeit und Fleiß investiert: Teilweise mussten die Projekte aufgrund von plötzlichen Rissen im Gestein aufgegeben werden, teilweise waren die Erbauer aber auch schlicht zu ambitioniert. Der größte gefundene Moai, El Gigante, misst stolze 22 Meter und hätte aufgrund seiner 200 Tonnen auch nach seiner Fertigstellung sein ausgewähltes ahu vermutlich nie erreicht.
Unvollendet: Rund 400 Moai Statuen in diversen Stadien der Fertigstellung haben den Steinbruch nie verlassen.
Von den insgesamt 1.043 vollendeten Steinriesen – der erste entstand um circa 1300, der jüngste im frühen 17. Jahrhundert – entstammen die meisten dem Rano Raraku Steinbruch. Dieser liegt teils bis zu 18 Kilometer von den an der Küste liegenden Plattformen entfernt. Auf die neugierige Frage von Europäern wie Roggeveen, wie die Giganten kilometerweit bis zu ihren auserkorenen Plätzen kamen, hatten die Rapa Nui eine einfache, wenn auch zunächst nicht ganz glaubhafte Antwort: Die tonnenschweren Statuen sollen ihren Weg in Richtung Meer „aufrecht gegangen“ sein.
Am wahrscheinlichsten ist es, dass die Moai mittels Seilen an ihren finalen Standort gebracht wurden: Dabei stützen und bewegen drei Teams die Steinriesen rechts, links und von hinten abwechselnd, um sie so Stück für Stück über den teils unwegsamen Untergrund zu bewegen. In einem Tempo von einem Kilometer pro Tag könnten die Statuen auf diese Weise ihre Plattformen erreicht haben.
Ökologischer Selbstmord, sozialer Kollaps und Konflikte?
Rund 50 Jahre nach den Niederländern erreicht der britische Entdecker James Cook die Insel im März des Jahres 1774. Zu seiner Verwunderung entspricht die „Osterinsel“ allerdings so gar nicht dem, was Roggeveen Jahrzehnte zuvor als Paradies beschrieben hatte. Viele der Moai scheinen inzwischen umgestürzt zu sein – wohl durch Erdbeben oder ihre Erbauer selbst.
Den Rapa Nui scheint es laut Cook ebenfalls deutlich schlechter zu ergehen, die Bevölkerungszahl muss sich seit Roggeveens Besuch rapide verringert haben. Rückblickend bot sich dem Roggeveen damals bereits der Anfang vom Ende der Zivilisation. Einige Theorien zum Zusammenbruch gingen zunächst davon aus, dass der Verlust der biologischen Vielfalt zum Niedergang der Rapa Nui führte.
Tatsächlich veränderte sich die Landschaft mit der Ankunft der Polynesier rapide. So wurden große Wälder, bestehend aus den riesigen, bald darauf ausgestorbenen Rapa Nui Palmen, für den menschlichen Nutzen abgeholzt. Gleichzeitig wurden die Wälder von den mitgebrachten Nutztieren geschwächt, der Polynesischen Ratte. Zwar erbrachten Knochenanalysen, dass die Rapa Nui die Hälfte ihrer Nahrungsmittel aus dem Meer beschafften – doch die Ratte war als schnell reproduzierte Fleischquelle unerlässlich. Ihre Population hatte sich rasend schnell verdoppelt. Durch die Palmnüsse als Hauptnahrungsmittel brachten die Tiere die Regeneration der Palmenwälder zum Erliegen.
Exemplarische Darstellung für die Veränderung der Landschaft durch das Abhandenkommen der ursprünglichen Fauna Rapa Nuis.
Studien anhand von Pollen und geologischen Merkmalen zeigten zudem: Um das Jahr 1650 waren sämtliche Wälder von der Insel verschwunden – und durch Bodenerosion nach und nach der ertragreiche Boden. Doch dies zwang die Bevölkerung nicht etwa in die Knie, sondern förderte kreative Lösungen für die Landwirtschaft: Mittels Kiesmulch legten sie effektive Obstgärten und Felder an, die das Wasser besser speichern konnten – eine Technik, wie sie weltweit in verschiedensten Kulturen Anwendung fand.
Funde von unterschiedlich geformten Messern aus Obsidian, einem sehr scharfen Vulkangestein, ließen wiederum Theorien aufkeimen, dass die Rapa Nui diese in Krisenzeiten als Waffen gegen sich selbst richteten. Jedoch ergaben Untersuchungen der Klingen, dass diese hauptsächlich für alltägliche Aufgaben wie die Essenszubereitung genutzt wurden. Zudem weisen lediglich zwei Prozent der gefunden Skelette Anzeichen von körperlicher Gewalt auf – ein weiteres Anzeichen für eine größtenteils sehr friedliche Gemeinschaft. Ein Fakt, den bereits Roggeveen und Cook bestätigten.
Sklaverei und Missionierung: Auf gefallene Moai folgt der Untergang der Rapa Nui
Die Rapa Nui kamen also seit der Besiedelung mit den Veränderungen der Natur gut zurecht. Eine weitaus plausiblere Erklärung für die dezimierte, kränkliche Population, die Cook vorfand, ist der Erstkontakt einige Jahrzehnte zuvor. Knochenanalysen zeigen: Die Europäer brachten mit großer Wahrscheinlichkeit die Geschlechtskrankheit Syphilis auf die Insel. Viele Skelette, die auf die Zeit nach Roggeveens Erstkontakt datiert werden können, weisen die Krankheit auf.
1861, rund 90 Jahre nach Cooks Besuch, bringt schließlich der Amerikanische Bürgerkrieg indirekt Unheil über die „Osterinsel“. Weil die USA als Hauptexporteur wegfallen, witterten peruanische Bauern ihre Chance im Baumwoll-Wettbewerb. Wohl die Hälfte der Rapa Nui werden entführt und zu Opfern des auf Sklavenarbeit ausgerichteten Baumwollanbaus. Viele sterben durch die miserablen Arbeitsbedingungen. Nur drei Jahre später werden rund 100 verbliebene Rapa Nui wieder auf ihre Heimatinsel verbracht. Mit ihnen an Bord: Ein christlicher Geistlicher. Auf die Ausbeutung soll die Missionierung folgen. Doch schon auf der Überfahrt sterben viele Rapa Nui – statt dem christlichen Glauben kommt mit den Überlebenden das Pockenvirus auf die Insel und kostet erneut zahlreichen Einheimischen das Leben.
Mit scharfem Obsidian schnitzten die Rapa Nui ihre rund einen Zentimeter hohen Rongorongo Schriftzeichen auf Holztafeln.
1888 wird die „Osterinsel“ schließlich von Chile annektiert, in „Isla de Pascua“ umbenannt und chilenischen Landwirten als Weideland versprochen. Die zu diesem Zeitpunkt übrigen 111 Rapa Nui werden erneut verdrängt und stark eingeschränkt. Mit dem Untergang ihrer Zivilisation und Kultur verbleiben ihnen bis heute hauptsächlich mündlich überlieferte Geschichten, etwa in Form von Liedern. Ihr Schriftsystem namens Rongorongo, bestehend aus etwa 600 Symbolen, konnte aufgrund der Verschleppungen und Epidemien sowie dem Tod von Gelehrten, die es lesen konnten, bis heute nicht entschlüsselt werden.
Den mittlerweile wieder 4.000 auf der Insel lebenden Rapa Nui bleibt damit ein wichtiger Teil ihrer Vergangenheit verwehrt. Der Ostersonntag im Jahr 1722 markiert den Beginn des Untergangs ihrer Kultur. Letztendlich wurde ihren Vorfahren vor allem eines zum Verhängnis: die „Entdeckung“ ihrer Heimat durch die Europäer.