Erst verboten, dann Popkultur: Die Entstehungsgeschichte des Drag

Aufwendig geschminkt und in pompösen Kleidern: Dragqueens sieht man heute überall – auch auf dem Roten Teppich. Dabei waren die Anfänge der Dragkultur geprägt von Stigmatisierung und Rassismus. Über die Historie einer schillernden Kunstform.

Von Emily Martin
Veröffentlicht am 10. Juni 2024, 10:24 MESZ
Drei Dragqueens beim Karneval in Rio.

Eine Gruppe Dragqueens beim Karneval in Rio de Janeiro, Brasilien, im Jahr 1980. Bevor Drag Eingang in den kulturellen Mainstream fand, waren sein Zuhause Dragballs, die im Geheimen veranstaltet wurden.

Foto von Bruno Barbey, Magnum

Im März 2009 ging die erste Folge von RuPaul’s Drag Race in den USA auf Sendung. Seitdem hatten Zuschauer*innen in 15 Staffeln Gelegenheit, Dragqueens dabei zuzusehen, wie sie in der Show, die 2018 mit einem Emmy ausgezeichnet wurde, um den Titel ,America’s Next Drag Superstar' konkurrieren. RuPaul’s Drag Race hat die Dragkultur der breiten Masse näher gebracht. Doch ihre Wurzeln liegen viel weiter zurück: im Volkstheater und in der Stummfilmzeit, in der Frauenrollen von Männern gespielt wurden, und in der LGBTQ-Subkultur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. 

Weil Drag seit langer Zeit und teilweise bis heute mit einem Stigma behaftet ist, liegen große Teile seiner Geschichte im Dunkeln. Viele Dragqueens sehen in den sogenannten Dragballs den wahren Ursprung ihrer Kunstform. Bei diesen im Geheimen veranstalteten Wettbewerben traten in erster Linie lateinamerikanische und Schwarze Kunstschaffende gegeneinander an.

RuPaul Andre Charles, der Millionen von Fans als RuPaul bekannt ist, posiert während eines Fotoshoots mit einem Rock aus Stroh. Die wahrscheinlich berühmteste Dragqueen unserer Zeit ist für ihre Reality-Show RuPaul’s Drag Race mit mehreren Emmys ausgezeichnet worden.

Foto von Al Clayton, Getty Images

Volkstheater und Dragballs: Ursprung des Drag

Manchen Historiker*innen zufolge sind die Anfänge des Drags in der Theaterwelt des antiken Griechenlands und Roms zu finden. Hier war es gängig, weibliche Rollen mit männlichen Darstellern zu besetzen. Laut Simon Doonan, Autor des Buchs Drag: The Complete Story, war die Verkörperung von Frauen durch Männer aber auch Teil des traditionellen japanischen Theaters Kabuki im 17. Jahrhundert und von Inszenierungen an der Oper in Peking im 18. Jahrhundert.

Auch im 16. Jahrhundert war Drag in den Stücken des englischen Dichters William Shakespeare eine wichtige Komponente. Besonders prominent tritt er in dem Stück Was ihr wollt auf, im Mittelpunkt dessen Handlung die junge Frau Viola steht, die sich als Cesario, einen Knaben, verkleidet.

Es gibt aber auch Stimmen aus der historischen Wissenschaft, die sagen, Drag wäre erst viel später entstanden. Die Dragqueen Lady J., die einen Doktortitel in Musikwissenschaften hat und zur Geschichte der Dragkultur forscht, verortet seine Anfänge im viktorianischen England der 1860er Jahre. Zu dieser Zeit beschreibt Ernest Boulton, ein Teil des Crossdresser- und Performance-Duos Boulton and Park, seine Auftritte als Drag – und nutzt den Begriff somit zum ersten Mal in der Geschichte. Einigen Berichten zufolge soll er ihn von den Unterkleidern abgeleitet haben, die die Künstler auf der Bühne trugen und deren Saum wie eine Schleppe über den Boden gezogen wurde – auf Englisch „to drag“.

Etwa zur selben Zeit erfreuten sich in den USA sogenannte Minstrel Shows großer Beliebtheit. In dem rassistischen Varieté malten sich vorwiegend weiße Schauspieler ihre Gesichter schwarz an, um Klischees über Afroamerikaner*innen nachzustellen. Im Rahmen dieser Shows traten aber auch Männer auf, die Frauen spielten. Eine wiederkehrende Rolle war laut Lady J. das ,valler gal', eine dunkelhäutige Frau, die von einem Mann dargestellt wurde.

Mit dem Übergang vom Volkstheater zum Vaudeville in den 1880er Jahren wurde aus dieser Figur eine glamouröse weiße Frau, deren Merkmale eine schlanke Taille und elegantes Make-Up waren. Am eindrücklichsten wurde sie vermutlich von dem amerikanischen Stummfilmstar Julian Eltinge verkörpert.

Die Darstellung von Frauen durch Männer hatte in der Popkultur dieser Zeit also einen festen Platz. Parallel dazu fand sie aber auch Einzug in die US-amerikanische Subkultur der Dragballs – und daran hatte nicht zuletzt die erste selbsternannte ,Queen of drag' ihren Anteil.

BELIEBT

    mehr anzeigen

    Vanity Legend posiert im Jahr 1988 bei einem Dragball in New York City. Die Wettbewerbe haben ihre Wurzeln im späten 19. Jahrhundert, als sie von Mitgliedern der Schwarzen, Latino- und LGBTQ-Communitys ins Leben gerufen wurden.

    Foto von Catherine McGann, Getty Images

    Eine Mardi Gras-Feier im Jahr 1974. Alternativ zu der These, dass die Dragkultur mit Dragballs ihren Anfang nahm, gibt es auch Stimmen, die ihren Ursprung in der Theatertradition sehen, Frauenrollen mit männlichen Darstellern zu besetzen.

    Momentaufnahme eines Dragballs in Harlem im Jahr 1988. Der New Yorker Stadtteil war einer der Hotspots der sogenannten Ballroom-Szene.

    Foto von Catherine McGann, Getty Images

    Dragkünstler Anthony Truly gibt im Jahr 1997 eine Tanzstunde in einem Sportstudio in New York City.

    Foto von Inge Morath, Magnum

    Die erste Dragqueen

    Es gibt nur wenige Aufzeichnungen und Überlieferungen von den ersten Dragballs, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Teilnahme an ihnen extrem riskant war. Wer sie besuchte, musste mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen.

    Lady J. zufolge waren es in erster Linie Mitglieder der Schwarzen und der Latino-Communitys, die diese Veranstaltungen ins Leben riefen. Zwar gab es auch schon damals offizielle Drag-Wettbewerbe, doch von diesen waren sie aufgrund ihrer Hautfarbe ausgeschlossen. Also organisierten sie ihre eigenen.

    Manche Historiker*innen sagen, die Wiege der Dragballs seien jährliche Gala-Events gewesen, die in den späten 1860er Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem stattfanden. Andere sehen seinen Ursprung in Tanzpartys, die William Dorsey Swann in Washington, D. C., veranstaltete.

    Swann wurde im Jahr 1858 im US-Bundesstaat Maryland in die Sklaverei geboren. Im Jahr 1882 begann er, Dragballs zu organisieren, und war die erste Person in der Geschichte, die sich als „Queen of drag“ bezeichnete – ein Titel, aus dem später der Begriff Dragqueen hervorging.

    Die Lebensgeschichte von Swann wurde im Jahr 2005 bekannt, als der Autor und Historiker Channing Joseph in einer Ausgabe der Washington Post aus dem Jahr 1888 einen Artikel fand, der über eine Polizeirazzia in Swanns Haus berichtet. Der Text beschreibt, dass die Gäste mit Satinkleidern und Damenhüten bekleidet den Cakewalk tanzten. Dieser war von Menschen in Sklaverei erfunden worden und imitierte die Bewegungsmuster der Plantagenbesitzer. Während Swann die Polizei vom Eindringen in sein Haus abzuhalten versuchte, gelang es laut Joseph einigen Gästen zu fliehen und so ihrer Verhaftung zu entkommen.

    Swanns Tanzpartys hatten über Jahre regelmäßig, aber immer im Geheimen stattgefunden. Eingeladen wurde mündlich und im Flüsterton, denn die Männer, die an ihnen teilnahmen, mussten befürchten, wegen Prostitution oder Homosexualität angeklagt zu werden. In seinem Essay, das Joseph im Jahr 2020 für The Nation schrieb, erwähnt er, dass Swanns Haus bereits im Jahr 1887 von der Polizei gestürmt worden war und er im Jahr 1882 eine kurze Zeit in Haft saß, nachdem er Partydekoration gestohlen hatte.

    Der Aktivist setzte sich hartnäckig für das Versammlungsrecht der queeren Community ein. Er wehrte sich nicht nur gegen seine Verhaftung im Jahr 1888, sondern schrieb auch einen Brief an den damaligen US-Präsidenten Grover Cleveland mit Bitte um Begnadigung. Diese wurde ihm allerdings verwehrt.

    Der französische Vaudeville-Theaterschauspieler Robert Bertin in der Rolle der Opernsängerin Anna Thibaud.

    Foto von Lyon Bioletto, Archivio GBB, contrasto, Redux

    Zwei Besucher des Gay and Lesbian Freedom Festivals in Waschington, D.C., im Jahr 1995. Die Veranstaltung findet jährlich im Juni während des Pride Month statt.

    Foto von Mark Reinstein, Corbis via Getty Images

    Yas, Queen: von der Subkultur zum Mainstream

    In New York City etablierten sich Dragballs laut der Autobiografie des US-amerikanischen Dichters Langston Hughes, die im Jahr 1940 erschien, auf dem Höhepunkt der sogenannten Harlem Renaissance im frühen 20. Jahrhundert. Daraus entwickelte sich die Harlem Ballroom-Szene, die in der Dokumentation Paris is Burning aus dem Jahr 1990 porträtiert wird.

    Nach wie vor finden überall auf der Welt Dragballs statt. Sie sind nicht nur Teil der Dragkultur, sondern inzwischen auch im Mainstream angekommen. Das Voguing – ein Tanzstil, der die Bälle dominiert – inspirierte Madonna zu ihrem Hit Vogue. Und viele Ausdrucksweisen und Schlagworte, die im Umfeld der Bälle entstanden sind – etwa „yas“, „work“ oder „shade“ – sind inzwischen nicht nur im englischsprachigen Raum in die moderne Umgangssprache eingeflossen.

    Das Vermächtnis der ersten Dragqueens lebt also weiter – auch das von William Dorsey Swann: In Washington, D.C., wurde kürzlich eine Straße nach ihm umbenannt, um seine ikonische Bedeutung für die Bewegung zu ehren.

      

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved