Archäologie der Neuzeit: Ausgrabungen an der Berliner Mauer, in Flüchtlingslagern und KZ-Gedenkstätten

Um archäologisch relevant zu sein, muss ein Gegenstand nicht mehrere Hundert Jahre unter der Erde liegen. Auch Funde, die erst 80, 50 oder gar 1 Jahre alt sind, können von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein. Über Ausgrabungen an besonderen Orten.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 14. Okt. 2024, 08:58 MESZ
Berliner Mauer mit Graffiti und Grenzwachen im Hintergrund.

Dieses Bild wurde 1986 von Thierry Noir am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg gemacht. Heute sind von der Berliner Mauer nur noch wenige Abschnitte erhalten, ein großer Teil befindet sich noch unter der Erde. Archäolog*innen können dabei helfen, dass die Geschichte der Mauer nicht in Vergessenheit gerät.

Foto von CC BY-SA 3.0

Sarkophage aus dem Alten Ägypten, Keramiken der Alten Römer oder mittelalterliche Pestfriedhöfe – wenn wir an Archäologie denken, schweifen wir oft direkt weit in unsere Vergangenheit.

Dabei hat Archäologie auch etwas mit unserer modernen Lebenswelt zu tun. Alltagsgegenstände der Gefangenen in Konzentrationslagern, Hinterlassenschaften in sogenannten Flüchtlingscamps oder Relikte aus der ersten Phase der Corona-Pandemie – auch das kann archäologisch untersucht werden. Ab wann beginnt also Archäologie?

Inhalt

Rechtliche Grundlagen: Archäologie beginnt gestern

Laut der Konvention von Valletta/Malta, dem Europäischen Übereinkommen zum Schutz des archäologischen Erbes, betrifft die Archäologie „alle Überreste und Gegenstände sowie alle aus vergangenen Epochen herrührenden sonstigen Spuren des Menschen“. Dabei klingt der Ausdruck „vergangene Epochen“ zunächst vage. Claudia Theune vom Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Universität Wien konkretisiert die Definition: „Vergangenheit fängt im Grunde gestern an“, sagt sie. „Somit beginnt dann auch die Archäologie.“

Das ist auch in den Denkmalschutzgesetzen der einzelnen Länder, die die Konvention von Valletta unterzeichnet haben, festgehalten. Was genau archäologisch untersucht werden darf und archäologischen Wert hat, hat also einen festen rechtlichen Rahmen. Dieser ist in Deutschland zwar von Bundesland zu Bundesland etwas unterschiedlich formuliert, besagt aber im Grunde: All das, was vom Menschen geschaffen ist und von geschichtlicher, kultureller oder wissenschaftlicher Bedeutung ist, muss geschützt werden. Befinden sich diese Gegenstände unter der Erde, fallen sie unter die Zuständigkeit von Archäolog*innen – es gibt also keine Zeitgrenze, die besagt, dass archäologische Objekte mindestens 100 oder 200 Jahre alt sein müssen. „Die Archäologie arbeitet mit Alltagsgegenständen“, sagt Theune. Schlüsse auf die ehemaligen Besitzer*innen ließen sich also auch aus Funden ziehen, die noch nicht alt sind.

Ist ein Fund erstmal ausgegraben, greift in Deutschland dann das sogenannte Schatzregal: Eine gesetzliche Regelung laut der Dinge, die archäologisch gefunden werden, zunächst dem Staat gehören. Das gilt auch für Funde, die Privatpersonen machen.

Ausgrabungen im Flüchtlingslager: Die wichtigsten Alltagsgegenstände

Wenn die Archäologie also gestern beginnt, zählen zu den Ausgrabungsstätten nicht nur alte Gräberfelder oder antike Ruinen, sondern auch moderne Orte. Darunter zum Beispiel Lager für Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Dort finden Archäolog*innen Alltagsgegenstände, die teilweise nur sehr kurze Zeit im Boden verbracht haben. 

Ein Projekt, an dem die Universität Pisa beteiligt ist, betrachtet solche Camps auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Im Rahmen von ISOLA (Investigate the global stories of everyday objects in Lampedusa) werden Objekte untersucht, die von Geflüchteten mitgenommen und verloren oder zurückgelassen wurden. Ein ähnliches Projekt untersucht diese Fragen in Bezug auf die Fluchtbewegungen von Mexiko in die USA. Laut Theune kann man im Rahmen solcher Forschung Antworten auf die Fragen finden, die etwas über die Lebensrealität der Geflüchteten verraten. Zum Beispiel: Welche Alltagsgegenstände waren den Menschen besonders wichtig und wurden auf die Flucht mitgenommen? Haben die Menschen aus verschiedenen Regionen ähnliche Dinge für ihre Flucht eingepackt oder unterscheiden sie sich?

BELIEBT

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    Inmitten von Steinen und Erde liegt Besteck und eine Art Kuchenform.

    Alltagsgegenstände, darunter Besteck, die im Rahmen des ISOLA-Projekts in Flüchtlingscamps auf Lampedusa gefunden wurden.

    Foto von MAPPA Lab / Digital Methodologies APPlied to Archaeology

    Bei diesen Ausgrabungen finden die Archäolog*innen oftmals auch Gegenstände, die Menschen gehört haben, die auf der Flucht verstorben sind. „Die kritische Kraft der zeitgenössischen Archäologie wird genutzt, um stillen Spuren eine Stimme zu geben, die mit Ereignissen und Erfahrungen verbunden sind, die sonst im Schatten der Geschichte bleiben würden“, heißt es seitens der Universität Pisa. So unterscheidet sich die Archäologie, die sich mit der Neuzeit beschäftigt, von der konventionellen: Sie konzentriert sich auf eine Vergangenheit, die quasi noch nicht abgeschlossen ist.

    Protestcamps und Berliner Mauer: Untersuchung von „unbequemen Denkmälern“

    Ähnlichen Fragen kann man auch an anderen neuzeitlichen Fundstätten auf den Grund gehen. Das sagt auch der Archäologe Attila Dézsi, der in seiner preisgekrönten Doktorarbeit ein im Jahr 1980 errichtetes Protestcamp von Atomkraftgegner*innen archäologisch untersucht hat. „Archäologische Forschung wie Denkmalpflege beschäftigt sich zunehmend mit den materiellen Überresten des 20. und 21. Jahrhunderts“, schreibt er. Ein Fokus liege dabei auch auf der Aufklärung und Vermittlung von „unbequemen Denkmälern und Orten des Nationalsozialistischen Terrors“. 

    Ein solch ,unbequemes‘ Denkmal ist beispielsweise das von ihm untersuchte Protestcamp Freie Republik Wendland nahe Gorleben in Niedersachsen. Dort haben mehrere Hundert Menschen 33 Tage lang gegen das geplante Atommülllager protestiert. Im Zuge seiner Promotion untersuchter Dézsi mit Kolleg*innen das damals von der Polizei geräumte Areal archäologisch und legte dabei unter anderem Glasfragmente, Plastikgeschirr und Konservendosen frei. 

    Mehrere Menschen auf einem Grabungsfeld auf einer Wiese.

    Die Ausgrabungen am ehemaligen Standort des Protestcamps im Jahr 2017.

    Foto von Attila Dézsi

    Im Rahmen der Ausgrabungen konnte man so den Alltag der Menschen nachvollziehen – und auch den Aufbau des Camps untersuchen. „Da es natürlich keine Baupläne und schon gar keine Baugenehmigung gab, lassen sich Aussehen, Siedlungsstruktur und Behausungsformen im Protestdorf heute nur mit archäologischen Methoden rekonstruieren“, sagt Jürgen Richter vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität zu Köln in Bezug auf Dézsis Forschungsarbeit. Wichtig sei außerdem, dass Dézsis Arbeit dabei geholfen habe, einen wichtigen Ort der Protestkultur des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen zu bewahren. 

    Doch auch bei bekannteres Denkmälern ist archäologische Arbeit wichtig. So zum Beispiel bei der Berliner Mauer, ein ,unbequemes Denkmal‘, das bis heute sinnbildlich für die DDR-Diktatur steht. Auch diese wird durch archäologische Untersuchungen bereits seit einiger Zeit aufgearbeitet. Beispielsweise zeugen Patronenhülsen und Alltagsobjekte rund um die Berliner Mauer von den Schicksalen der Fliehenden, die durch Archäolog*innen aufgearbeitet werden konnten. Auch der Alltag der Grenzsoldaten konnte durch Funde von Konservendosen bereits teilweise rekonstruiert werden, ebenso die Menge an Arbeit und Ressourcen, die in den Bau der Mauer und Grenzposten geflossen sind. Das zeigen beispielsweise die Strom- und Wasserversorgung an der Mauer, die durch Archäolog*innen rekonstruiert wurde.

    Aufarbeitung der NS-Zeit durch Ausgrabungen in Konzentrationslagern

    Für Archäolog*innen steht also auch die Erhaltung eines Ortes und seiner Bedeutung für die Nachwelt im Vordergrund. So auch bei Ausgrabungen in ehemaligen Konzentrationslagern. „Da kaum noch Zeitzeugen leben, gewinnen archäologische Funde als materielle Zeugen der Geschichte eine immer größere Bedeutung, um die Lebenswirklichkeit von Opfern und Tätern der NS-Zeit nachvollziehbar zu machen“, sagt Mathias Pfeil, Generalkonservator am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (BLfD).

    Ein Löffel liegt neben einen Maßstab auf einem weißen Untergrund.
    Löffel, Gabeln und Messer liegen nebeneinander aufgereiht auf einem Tisch.
    Links: Oben:

     Löffel aus der Tötungsanstalt Schloss Hartheim. Auf dem Griff steht in hebräischer Schrift der Name Josef geschrieben.

    Foto von OÖ Landes- Kultur GmbH, Land Oberösterreich, Sammlung Archäologie: Römerzeit, Mittelalter, Neuzeit
    Rechts: Unten:

     Besteck, das am Obersalzberg archäologisch freigelegt wurde. Es sind Alltagsgegenstände aus dem Haushalt eines SS-Untersturmführers. Ausgrabungen an Orten des NS-Terrors, an denen Opfer oder Täter lebten, geben Einblicke in eine Zeit, aus der es immer weniger Zeitzeugen gibt.

    Foto von Archäologie Hofmann & Heigermoser GbR

    In einem Positionspapier haben Expert*innen des BLfD, des Bundesdenkmalamtes in Wien (BDA) und der Universität Wien sich deshalb für die Wichtigkeit der Dokumentation und des Erhalts von Bodendenkmälern aus der NS-Zeit ausgesprochen. „Auch in Zeiten der vielfältigen Überlieferungen durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und von schriftlichen und bildlichen Dokumenten der jüngeren Vergangenheit besitzen Objekte ein zusätzliches hohes Potential, um etwa Strukturen von Macht und Terror der nationalsozialistischen Diktatur deutlich werden zu lassen“, sagt Theune, die Teil des Expertenteams ist. 

    Und nicht nur Zeitzeugenberichte können durch die Gegenstände, die archäologisch aufgedeckt und untersucht werden, unterstützt und ergänzt werden – auch historische Aufzeichnungen können durch solche Funde reevaluiert werden.

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