Verschollen in der Arktis: Was passierte mit den Mitgliedern der Franklin-Expedition?

Über drei Jahre harrte die Besatzung der Schiffe Erebus und Terror im 19. Jahrhundert in der Arktis aus, eingeschlossen im ewigen Eis. Nun konnte ein Offizier der Expedition identifiziert werden – und Details über den Kannibalismus der Männer liefern.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 18. Okt. 2024, 08:45 MESZ
S/W-Druck: Mehrere Männer in der Arktis finden ein Boot mit Skeletten.

Eine Rettungsexpedition findet tote Teilnehmer der Franklin-Expedition im Eis.

Foto von Die Gartenlaube, Ernst Keil, 1860

Im Jahr 1845 schickte die Seemacht Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland eine Forschungsexpedition ins ewige Eis der Arktis. Ihr Ziel: die Durchquerung und Kartierung der letzten 500 unbekannten Kilometer der Nordwestpassage, die den Atlantischen und den Pazifischen Ozean im Norden Amerikas verbindet. 

Das Kommando wurde dem britischen Polarforscher Sir John Franklin übertragen. Er war zum Start der Expedition bereits 59 Jahre alt – und hatte seit 17 Jahren keinen Fuß mehr in arktische Gefilde gesetzt. Weder er noch eines der 127 weiteren Besatzungsmitglieder der Schiffe HMS Erebus und HMS Terror überlebten die auf drei Jahre angelegte Expedition. 

Was genau geschah damals in der Arktis? Um das herauszufinden, setzen Wissenschaftler*innen seit knapp zwei Jahrhunderten archäologische Puzzleteile zusammen. Nun konnten Forschende aus Kanada die Geschichte um ein neues Detail erweitern: Sie identifizierten die Identität von einem Offizier der HMS Erebus. Ihre Studie erschien in der Zeitschrift Journal of Archaeological Science: Reports.

Kanchha Sherpa, Edmund Hillary,  Tenzing Norgay und Team

Eingeschlossen im Eis: Das tragische Ende der Expedition

Nach einem erfolgreichen Start der Franklin-Expedition im Jahr 1845, bahnte sich die Katastrophe bereits im September 1846 an: Die gut ausgestatteten Schiffe HMS Erebus und HMS Terror blieben westlich von King William Island – heute zu Kanada gehörend – im Packeis stecken. Nach anderthalb Jahren Stillstand wurden sie im April 1848 aufgegeben und die noch verbliebenen Männer versuchten, den etwa 350 Kilometer südlich gelegenen Außenposten der Hudson’s Bay Company auf dem Landweg zu erreichen. Vergeblich. 

Berichten der Inuit aus dem Jahr 1854 zufolge sollen die Besatzungsmitglieder völlig ausgezehrt und verzweifelt durch die Landschaft gestriffen sein und in der unwirtlichen Arktislandschaft sogar auf Kannibalismus zurückgegriffen haben, um nicht zu verhungern. Diese Berichte wurden in den 1990er Jahren durch forensische Untersuchungen bestätigt. Doch auch das nützte am Ende nichts: Die gesamte Mannschaft starb, bevor Rettungsmissionen die Arktis erreichen konnten.

BELIEBT

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    Karte von King William Island mit eingezeichneten Wegen der Mannschaft.

    Die Karte zeigt, wo die Mannschaft 1848 die Schiffe verließ (roter Punkt, oben links) und welchen Weg die Männer nahmen (gestrichelte Linie).

    Foto von University of Waterloo

    Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden auf und in der Nähe von King William Island immer wieder Überreste der über 100 Expeditionsteilnehmer gefunden. Doch erst im Mai 2021 konnte der erste Leichnam identifiziert werden: Es handelte sich dabei um John Gregory, Ingenieur auf der HMS Erebus. Nun haben Forschende der University of Waterloo in Kanada eine zweite Person identifiziert: James Fitzjames, 1. Offizier der HMS Erebus, der im April 1848 eine letzte kurze Notiz über den ungeplanten Verlauf der Expedition hinterließ. 

    „Unter dem Kommando von Captain F. R. M. Crozier sind 105 Offiziere und Männer an Land gegangen“, heißt es in dieser schicksalhaften Notiz, die am 25. April 1848 am Victory Point im Nordwesten der King-William-Insel deponiert wurde, nachdem die Mannschaft die Schiffe aufgegeben hatte. Und weiter: „Sir John Franklin starb am 11. Juni 1847 und die Gesamtverluste der Expedition belaufen sich bis zum heutigen Tag auf 9 Offiziere und 15 Männer.“ Es war der Anfang der Odyssee im Eis, die die 105 Überlebenden auf King William Island in den Tod führen sollte.

    Porträt von James Fitzjames in Uniform.

    1. Offizier auf der HMS Erebus: James Fitzjames auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1845.

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    Kieferknochen weisen Spuren von Kannibalismus auf

    Über 170 Jahre nach dem tragischen Unglück konnte Fitzjames durch die DNA-Probe eines lebenden Nachkommen identifiziert werden. Diese stimmte mit der DNA überein, die die Forschenden an der archäologischen Stätte auf King William Island entdeckten.

    „Die Identifizierung der Überreste von Fitzjames liefert neue Einblicke in das traurige Ende der Expedition“, sagt Douglas Stenton, außerordentlicher Professor für Anthropologie an der University of Waterloo. Sein Unterkieferknochen weise Schnittmarken auf, die nur im Zusammenhang mit Kannibalismus entstanden sein können.

    3D-Scans von Fitzjames’ Unterkiefer

    3D-Scans von Fitzjames’ Unterkiefer zeigen Spuren von Kannibalismus. 

    Foto von University of Waterloo

    „Dies zeigt, dass er vor einigen anderen Seeleuten starb und dass weder Rang noch Status in den letzten verzweifelten Tagen der Expedition eine Rolle spielten“, so Stenton. Da jeglicher Kannibalismus – auch sogenannter Überlebenskannibalismus – im 19. Jahrhundert als moralisch verwerflich und abscheulich angesehen wurde, zeugt der Fund vom Ausmaß der Verzweiflung, das die Franklin-Seeleute verspürt haben müssen, erklärt Dr. Robert Park, Professor für Anthropologie an der University of Waterloo. 

    Nachkommen ermöglichen Identifizierung der Toten

    Die Überreste von Fitzjames und den anderen Seeleuten, die mit ihm umkamen, ruhen jetzt bei einem Gedenkstein an der Fundstelle auf King William Island. Eine Gedenktafel erzählt die Geschichte der Männer.

    Nachkommen von Teilnehmern der Franklin-Expedition werden gebeten, sich an Stenton zu wenden: „Wir freuen uns darauf, mit weiteren Nachkommen von Mitgliedern der Franklin-Expedition zusammenzuarbeiten, um zu sehen, ob ihre DNA zur Identifizierung weiterer Personen beitragen kann.“

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