Ostsee: Gesunkener Raddampfer war Fluchtschiff aus dem Zweiten Weltkrieg
Kurz vor der Küste Dänemarks liegt seit dem Zweiten Weltkrieg ein altes Schiff versunken. Nun ist klar, welche dramatische Geschichte sich hinter dem Wrack verbirgt.
Ein Taucher bei der Erkundung des Wracks.
In der Ostsee, kurz vor der dänischen Insel Møn, liegt seit Jahrzehnten ein mysteriöses Schiffswrack am Meeresgrund. Örtlichen Tauchern ist das Wrack zwar bekannt, um welches Schiff es sich genau handelt, weiß allerdings lange Zeit niemand. Bis im August 2024 ein Team des Marine Research Germany projects das bis dato unidentifizierte Wrack betaucht. Mit dabei: Schiffswrack-Experte Holger Buss.
Der gelernte Elektroingenieur wird sofort von den unidentifizierten Überresten in den Bann gezogen – und nimmt sich vor, die Identität des gekenterten Raddampfers zu ermitteln. Mit Erfolg: Buss findet heraus, dass es sich bei dem Wrack um den deutschen Raddampfer Express I handelt, der im Jahr 1945 zur Flucht vor der Roten Armee genutzt wurde. Dabei kenterte das Schiff kurz vor der dänischen Küste – und lag bis jetzt unerkannt am Ostsee-Grund.
Wie identifiziert man ein Schiffswrack?
Entdeckt hat Buss seinen Enthusiasmus für Schiffswracks erstmals bei einem Tauchgang im Jahr 2017 mit der Gruppe Gezeitentaucher. Seither ist er vom Wrackfieber gepackt. Um den Wracks wieder neues Leben einzuhauchen erstellt er von ihnen 3D-Modelle – und hat auf diese Weise bereits 12 namenlose Wracks in Nord- und Ostsee identifiziert. Nun reiht sich in diese Liste auch das einst unbekannte Wrack vor Møn ein.
Gelungen ist Buss auch diese Identifizierung mithilfe eines 3D-Modells. Dafür nahm er während der Expedition Tausende Fotos auf. „Mein Anspruch ist immer, das Wrack lückenlos und fehlerfrei zu scannen“, sagt Buss. Dazu müsse er mit gleich mehreren Kameras jeden Quadratzentimeter des Wracks und einen möglichst großen Teil des Untergrundes aufnehmen. Aus diesem Bildmaterial lässt Buss dann mithilfe eines Computers ein 3D-Bild erstellen und gibt diesem anschließend mithilfe eines 3D-Druckers eine plastische Form.
Es brauchte etwa 12 Stunden, bis das 60 Zentimeter lange Modell fertig gedruckt war. Hier abgebildet im Vergleich zur Express II, dem Schwesterschiff der Express I.
Um das Wrack vor Møn zu identifizieren, verglich der Wrack-Experte dann die Gegebenheiten des 3D-Modells mit historischen Aufnahmen, Dokumenten und Aufzeichnungen.
Detektivarbeit führt zur Identifizierung des Schiffs
Eine erste Idee, dass das geheimnisvolle Wrack ein Schiff aus dem Zweiten Weltkrieg sein könnte, bekam Buss bereits, als er altes Bildmaterial vergangener Expeditionen zum Wrack sichtete. „Auf einem Bild war ein K98-Gewehr abgebildet, das Standardgewehr der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg“, sagt Buss. Die Annahme lag also nahe: Es musste sich um ein Schiff handeln, das von der Kriegsmarine genutzt wurde. Zusätzlich konnte Buss anhand des Modells feststellen, dass das Schiff ein sogenannter Heckradfrachtdampfer sein muss.
Vergleiche mit Aufzeichnungen über derartige Schiffe, die im Zweiten Weltkrieg genutzt wurden, zeigten schließlich: Nur zwei Heckradfrachtdampfer stimmten in Form und Länge mit dem 3D-Scan überein. Beide Schiffe gehören zu einem Dreiergespann aus Raddampfern, die das Maschinen- und Schiffbauunternehmen Atlas-Werke im Jahr 1911 entwickelt hatten: Express I, II und III.
Gebaut wurden die Schiffe für eine Reederei, die sie im Güterverkehr auf der Weser und dem Rhein einsetzte, bevor sie an die Danziger Reederei Johannes Ick weiterverkauft wurden. Dokumente dieser Reederei lieferten Buss schließlich den letzten fehlenden Hinweis. Aufzeichnungen der Firma belegen: Eines dieser Schiffe sank vor 79 Jahren in der Region vor Møn – die Express I . Ein Volltreffer für Buss, der nun beweisen konnte, um welches Schiff es sich bei dem geheimnisvollen Wrack handelt.
Eines der Express-, damals noch Expreß-, Schiffe im Einsatz auf der Weser. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden die drei Schiffe vom Militär beschlagnahmt und schließlich als Transportschiffe für Verwundete – und als Fluchtschiffe – eingesetzt.
8. Mai 1945: Flucht auf hoher See und Untergang der Express I
Damit sind die letzten Stunden dieses Schiffs nun größtenteils aufgearbeitet. Ihren letzten Einsatz hatte die Express I im Mai 1945. Zu dieser Zeit war die Situation auf der Halbinsel Hela vor Danzig angespannt und unübersichtlich. An den Häfen warteten unzählige flüchtende Deutsche, die evakuiert werden wollten, während die Rote Armee immer weiter vorrückte. Ihr einziger erfolgversprechender Fluchtweg: übers Wasser. Am 8. Mai verließ die Express I den Hafen, um eine große Gruppe Soldaten und Zivilist*innen nach Lübeck in Sicherheit zu bringen. Aufgrund der Kapitulation der Wehrmacht war der Termin damals die letzte Chance, noch auf legalem Wege zu fliehen. Nur deshalb verließen Schiffe trotz des an diesem Tag sehr schlechten Wetters überhaupt den Hafen.
Doch der für die Flussschifffahrt gebaute Raddampfer konnte den Konditionen der hohen See nicht lange standhalten. Die starken Wellen wirkten so auf das Schiff ein, dass es schließlich in der Mitte zerbrach. Kurz vor der dänischen Insel Møn sank die Express I. Wie viele der Passagier*innen gerettet wurden und wie viele starben, ist nicht bekannt.
Mit der Identifizierung des Wracks vor Møn sind nun die Geschichte und der Verbleib aller drei Heckradfrachtdampfer aufgearbeitet. Von der Express III weiß man, dass sie am 8. Mai 1945 ebenfalls nach Lübeck aufgebrochen war und nach dem Untergang der Express I einen großen Teil der Schiffbrüchigen aufgenommen und sicher an Land gebracht hatte. Die Express II hingegen wurde im Juni 1945 von einer Pioniertruppe der Wehrmacht vor Danzig-Heubude gesprengt. Und die Express I liegt seit fast 80 Jahren am Grund der Ostsee.