Die Macht der Frauen bei den Kelten: Genanalysen beleuchten die zentrale Rolle weiblicher Linien
Neue Genanalysen aus Grabfunden enthüllen, dass Frauen in keltischen Dynastien eine weit zentralere Rolle gespielt haben könnten als bisher gedacht. So könnte es in frühkeltischen Gesellschaften eine matrilineare Vererbung gegeben haben.
Welche Rolle spielten Frauen, wie hier dargestellt in einer Zeichnung aus der Enzyklopädie Costumes of all Nations aus dem Jahr 1882, bei den Machthabern in der Eisenzeit?
Der Erstgeborene muss ein Sohn sein – über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende prägte diese Sichtweise unsere Gesellschaft. Söhne erbten Titel, Ansehen und Vermögen, während die Frauen bestenfalls für strategische Eheschließungen und zum Gebären von Nachwuchs dienten.
Bei den frühen Kelten in Zentraleuropa war das womöglich anders. Das fand ein Forschungsteam aus Archäologen, Archäogenetikern, Anthropologen und Molekularbiologen kürzlich heraus. Ihre Genanalysen aus Grabfunden ergaben, dass eine der untersuchten keltischen Herrscherdynastien mit einer hohen Wahrscheinlichkeit über die weibliche Linie und nicht die männliche fortbestand.
Das faszinierende Innenleben der Hügelgräber
Die archäologischen Funde aus den Gegenden Villingen-Schwenningen, Ludwigsburg und Sigmaringen werden allesamt der Kultur des West-Hallstattkreises zugeschrieben. Typisch für diese Kultur sind nicht nur komplexe befestigte Höhensiedlungen, über welche die Eliten regionale und überregionale Handelsrouten kontrollierten. An die Siedlungen angeschlossen waren prunkvoll ausgestattete Gräber einzelner herausragender Persönlichkeiten mit bis zu 100 Metern Durchmesser, zu denen auch Artefakte wie Schmuck oder Bronzegefäße als Grabbeigaben gehörten. „Die Grabanlagen bestanden oft aus einem besonders reich ausgestattetem Zentralgrab sowie weiteren Neben- und Nachbestattungen“, erklärt Dr. Angela Mötsch, Archäologin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Reichtümer aus dem Fürstengrab von Eberdingen/Hochdorf.
Genanalysen weisen Verwandtschaft in der mütterlichen Linie nach
Das interdisziplinäre Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Stephan Schiffels beschäftigte sich unter anderem mit folgender Frage: Beruhte in keltischen Kulturen die Weitergabe von Macht eher auf biologischer Verwandtschaft oder auf Leistung? Auch eine mögliche Vernetzung zwischen früheisenzeitlichen Eliten in verschiedenen südwestdeutschen Landstrichen war Gegenstand der Forschung. Antworten auf ihre Fragen versprachen sich das Team und Erstautor Dr. Joscha Gretzinger von Genanalysen der sterblichen Überreste, die aus den vorchristlichen Hügelgräbern geborgen wurden. Die DNA von 20 Männern und 11 Frauen aus sieben verschiedenen, bis zu 100 km voneinander entfernten Fundorten wurde analysiert. Würde sich eine mögliche Verwandtschaft zwischen den verschiedenen keltischen Herrschereliten nachweisen lassen?
In der Tat. „Es kristallisierten sich mehrere Personengruppen heraus, die in unterschiedlichen Verwandtschaftsgraden miteinander verbunden waren“, berichtet Dr. Angela Mötsch. „Verwandtschaftliche Bande konnten unter anderem zwischen einigen teils mit reichen Grabbeigaben bestatteten Individuen im Magdalenenberg-Grabhügel und dem 100 km entfernten Hügelgrab in Eberdingen-Hochdorf hergestellt werden.“ Unter anderem war eine im Magdalenenberg beerdigte Frau möglicherweise die Urgroßmutter eines Mannes in Eberdingen-Hochdorf.
Die reicht bestattete Grabkammer von Hochdorf.
Ebenfalls miteinander verwandt waren zwei Männer aus den zentralen Gründergräbern in Eberdingen-Hochdorf und Asperg-Grafenbühl im Umfeld der keltischen Siedlung auf dem Hohenasperg. Es handelte sich um Onkel und Neffe – und hier kommt die Besonderheit – mütterlicherseits. „Auch sie waren mit außerordentlich reichen Grabbeigaben bestattet worden. Ihre Gräber gehören zu den reichsten der Europäischen Eisenzeit“, so Dr. Mötsch. Ohne Zweifel handelte es sich um zwei Personen von höchstem gesellschaftlichem Rang, mit dem wahrscheinlich politische Macht einherging. „Wir gehen davon aus, dass der Neffe aufgrund seiner Verwandtschaft mütterlicherseits zum Nachfolger über den Herrschaftsbereich am Hohenasperg bestimmt wurde“, sagt Dr. Mötsch.
Die Macht der Mütter und Schwestern
Erbfolgen wurden also möglicherweise nicht über die väterliche, sondern über die mütterliche Linie angetreten. Dass eine Erbfolge mütterlicherseits existieren könnte, ist nicht neu. Die Wissenschaftler*innen der Studie verweisen u.a. auf matrilineare Erbfolgen im altrömischen Königtum zwischen 750 und 500 v. Chr. Auch der römische Schriftsteller Titus Livius berichtete im 1. Jh. v. Chr. über keltische Gesellschaften der Zeit um 600 v. Chr. Dabei erwähnte er einen keltischen Anführer namens Ambigatus, der zwei junge Männer seines Gefolges dazu bestimmte, jeweils mit Teilen der Bevölkerung in neue Gegenden zu ziehen. „Laut Livius wählte Ambigatus dafür aber nicht seine eigenen Nachkommen, sondern die Söhne seiner Schwester, also Nachkommen aus der gemeinsamen mütterlichen Linie“, erklärt Dr. Mötsch.
„Wir kennen solche matrilineare Organisationen auch in heutigen Gesellschaften. Ein möglicher Hintergrund könnten häufige außereheliche Beziehungen sein, mit geringem Vertrauen in eine Vaterschaft“, so die Forschenden in ihrem Fachartikel. „Dann ist es möglich, dass Männer mit den Kindern ihrer Schwester eher verwandt sind als mit ihren eigenen.“
Generell deuten archäologische Funde darauf hin, dass Frauen in der westlichen Späthallstatt- und frühen Latènekultur eine besonders hohe gesellschaftliche Stellung innegehabt haben könnten: „Es gab neben prunkvoll ausgestatteten Männergräbern auch eine Vielzahl von ebenso aufwendig bestatteten Frauen, was zeigt, dass innerhalb der gesellschaftlichen Elite nicht nur die Männer hohes Ansehen und eine bedeutende Stellung erlangen konnten“, so Dr. Mötsch.
Die berühmte Vase von Vix wurde in einem keltischen Frauengrab gefunden und wartet mit beeindruckenden Zahlen auf: Sie ist 1,64 m hoch, misst 1,27 m Durchmesser, wiegt 208 kg und verfügt über 1 100 Liter Fassungsvermögen.
Wer waren die Kelten?
Die Kelten als einheitliche Ethnie oder Sprachgruppe, auch wenn die eisenzeitlichen Menschen in Mitteleuropa häufig so bezeichnet werden, gab es eigentlich nicht. Die archäologische Forschung definiert zwei große eisenzeitliche Kulturen, deren Gruppen wohl zumindest zum Teil einer keltischen Bevölkerung angehörten.
Zum einen gibt es die Hallstattkultur, die in einem Gebiet zwischen Ostfrankreich und dem Donauknie sowie zwischen den deutschen Mittelgebirgen und den Zentralalpen verortet werden kann. Sie wird in etwa auf den Zeitraum 800 bis 450 v. Chr. datiert. Daran schließt sich die Latènekultur an, von 450 v. Chr. bis etwa 50 v. Chr. „Aber“, so stellt Dr. Mötsch klar: „Sowohl Hallstatt- als auch Latènekultur sind künstliche, von Archäologen gewählte Begriffe. Über hunderte von Jahren und Kilometern hinweg gab es bei den Menschen der Hallstatt- und Latènekultur vielfältige zeitliche und regionale Entwicklungen in Bezug auf Gesellschaft, Siedlungsstrukturen, Kunst oder Technologie oder auch Brauchtum.“
Den heute so einheitlich genutzten Begriff „Kelten“ verdanken wir – wie so oft – den Griechen und Römern. Ab dem 5. Jh. v. Chr. nannten sie die Bewohner der Regionen nördlich der Alpen „Kelten“ oder „Gallier“.
Und wie bezeichneten sich die Menschen damals selbst? „Das wissen wir nicht“, erklärt die Forscherin, da es darüber keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Aber das macht nichts. Die vielen Funde, die trotz zahlreicher Grabräuber geborgen und analysiert werden konnten, sprechen ihre eigene Sprache – und geben faszinierende und immer neue Einblicke in die Welt der eisenzeitlichen Menschen.
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