150 Jahre Kampf: Abtreibung in Deutschland zwischen Selbstbestimmung und Strafrecht
Seit über 150 Jahren wird in Deutschland über das Recht auf Abtreibung gestritten. Zwischen gesetzlichen Regelungen, gesellschaftlichem Wandel und politischer Debatte bleibt der Schwangerschaftsabbruch ein kontroverses Thema.

Abtreibungen sind seit vielen Jahren ein enorm diskutiertes Thema. Pro Choice trifft auf Pro Life - einig wird man sich nicht.
Seit über 150 Jahren ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland im Strafgesetzbuch unter Paragraph 218 StGB geregelt und zählt dort zu den „Straftaten gegen das Leben“ – demselben Abschnitt, in dem auch Mord und Totschlag aufgeführt sind.
Dort heißt es: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.“
Unter bestimmten Bedingungen bleibt ein Abbruch straffrei: Er muss innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen erfolgen, nachdem die betroffene Person an einer Beratung bei einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle teilgenommen und eine vorgeschriebene dreitägige Bedenkzeit eingehalten hat. Erst dann kann der medizinische Eingriff legal durchgeführt werden.
Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 106.218 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Das entspricht einem Rückgang von mehr als 20.000 Fällen in den letzten 20 Jahren. Die überwiegende Mehrheit von 96 Prozent erfolgte nach der gesetzlich vorgeschriebenen Beratung durch eine staatlich anerkannte Stelle. Lediglich knapp vier Prozent der Abbrüche wurden aufgrund medizinischer oder kriminologischer Indikationen vorgenommen, etwa nach einer Vergewaltigung oder wenn gesundheitliche Risiken für die schwangere Person bestanden. In diesen Fällen ist ein Schwangerschaftsabbruch auch ohne vorherige Beratung erlaubt, sofern die Gründe nachweisbar sind.
Weltweite Debatte um Schwangerschaftsabbrüche
Im Jahr 1871 wurden die §§ 218 bis 220 ins Strafgesetzbuch (StGB) des Deutschen Reiches aufgenommen. Die Gesetzgebung war ein Kompromiss, der eine Abtreibung als Delikt, aber nicht als Mord einstufte. In den 1920er Jahren versuchten Reformbewegungen, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren. 1926 führte eine Gesetzesnovelle zu einer Strafmilderung und Herabstufung des Schwangerschaftsabbruchs vom Verbrechen zum Vergehen.
Ein Jahr später, am 11. März 1927, ergänzte das Reichsgericht die Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches, die ein generelles Verbot des Schwangerschaftsabbruchs ohne definierte Indikationen vorsahen, um eine strenge medizinische Indikation als richterrechtlich formulierte Ausnahme. Damit wurde die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs anerkannt, wenn ein Arzt eine konkrete medizinische Maßnahme als angezeigt beurteilte, um ein bestimmtes Behandlungsziel zu erreichen – in diesem Fall den Schutz der Gesundheit oder des Lebens der Schwangeren.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Abtreibungsgesetze verschärft. Im Jahr 1943 führten sie die Todesstrafe für gewerbsmäßige Abtreibungen ein. Die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik brachte zudem die Einführung der sogenannten eugenischen Indikation mit sich, die Abtreibungen erlaubte, wenn bei dem ungeborenen Kind eine vermeintliche Erbkrankheit oder „Minderwertigkeit“ vermutet wurde – ein Ausdruck der menschenverachtenden Ideologie des Regimes.
Zwischen 1949 und den frühen 1970er Jahren spielte das Abtreibungsrecht in der politischen Debatte kaum eine Rolle. Dennoch praktizierten Ärzte zunehmend Abtreibungen aus sozial-medizinischen Gründen. 1969 wurde im Rahmen der Einführung der Einheitsstrafe der Schwangerschaftsabbruch rechtlich herabgestuft und galt fortan als Vergehen.
Anfang der 1970er Jahre entfachten die sexuelle Revolution und die Frauenbewegung eine neue Diskussion um § 218 des Strafgesetzbuches. 1974 verabschiedete der Bundestag eine Fristenregelung, die jedoch 1975 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt wurde.
Aufgrund des Urteils von 1975 wurde 1976 eine Regelung eingeführt, die Abtreibungen unter bestimmten Indikationen straffrei stellte, darunter medizinische, soziale, eugenische und kriminologische Indikationen. 1972 verabschiedete wiederum die DDR ein Gesetz, das Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubte. Nach der Wiedervereinigung musste eine gesamtdeutsche Lösung gefunden werden, die bis heute gilt.
Die Bundesregierung setzte zur Klärung eine Expertenkommission ein: Diese empfahl im April 2024 die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Laut Empfehlung solle ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen grundsätzlich erlaubt sein, unabhängig von einem verpflichtenden Gespräch. Ein generelles Verbot sei wiederum keine Lösung, die aktuellen Regelungen im Strafgesetzbuch hielten einer „verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und europarechtlichen Prüfung“ nicht stand, so die Experten.
Nicht nur in Deutschland beschäftigt man sich seit Jahrzehnten mit dem Recht auf Abtreibung: So wurde in Amerika im Jahr 2022 ein landesweites Recht auf Abtreibung vom Obersten Gerichtshof gekippt. In seiner ersten Amtszeit besetzte Präsident Donald Trump drei Richterposten neu, wodurch der Supreme Court eine deutlich konservative Mehrheit bekam, die gegen ein Recht auf Abtreibung stimmte. „Nach dem heutigen Tag werden junge Frauen mit weniger Rechten aufwachsen, als ihre Mütter und Großmütter hatten“, schrieben die liberalen Richter*innen nach der Entscheidung.
Damit ist Amerika eins von vier Ländern, in dem die Rechte der Abtreibung nachträglich wieder eingeschränkt wurden. In 26 Ländern ist eine Abtreibung immer schon verboten, in weiteren 50 Ländern ist sie nur dann erlaubt, wenn die Gesundheit der Frau gefährdet ist, eine Vergewaltigung oder Inzest vorliegt. Damit stellen mehr als drei Viertel aller Länder weltweit einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe – sei es eine Gefängnis- oder hohe Geldstrafe – sowohl für betroffene Personen als auch für Hilfskräfte.

Nicht für alle Frauen ist ein positiver Schwangerschaftstest ein Grund zur Freude.
Doch es gibt auch positive Veränderungen: So verankerte Frankreich kurz nach der Entscheidung in Amerika 2022 das Recht auf Abtreibung in seiner Verfassung. Bis zur 14. Woche kann dort legal abgetrieben werden, die Kosten übernehmen die Krankenkassen. Auch in den Niederlanden sind Abtreibungen bis zur 12. Woche legal und einfach durchzuführen, in Polen gelten strenge Gesetze, in Malta sind Schwangerschaftsabbrüche nach einer Vergewaltigung oder im medizinischen Notfall möglich.
Debatte um die Rechte des Fötus und sichere Abtreibungen
Die Beratungsstelle Pro familia muss im Gespräch zur ungewollten Schwangerschaft laut „rechtlichen Rahmenbedingungen im Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz während der Beratung zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen“.
Für Betroffene kann dieses Gespräch emotional aufwühlend sein und zu einem schlechten Gewissen führen. Auf ihrer Website spricht sich pro familia deshalb für ein „Recht auf Beratung statt Beratungspflicht“ aus. Das „Recht auf eine freiwillige und kostenlose Beratung“ solle gesetzlich verankert werden.
Die Journalistin Kersten Artus, Vorsitzende bei pro familia Hamburg, sagt: „Der Uterus ist ein Organ. Wie bei allen Körperteilen und Organen muss es ein alleiniges Entscheidungsrecht darüber geben. Die Rechte des Fötus könnten gleichrangig oder höher gewertet werden, wenn er außerhalb des Uterus eigenständig lebensfähig wäre.“ Vor der 22 Schwangerschaftswoche sei ein Fötus außerhalb der Gebärmutter allerdings nicht allein lebensfähig. Ebenfalls habe er keinerlei eigenes Schmerzempfinden, was Forschungsberichte belegen.
Laut Artus würde mit einer weiteren Verschärfung des Paragraphen 218 StGB nicht die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche sinken, sondern lediglich die der medizinisch sicheren. „Schwangerschaftsabbrüche gehören zu den am häufigsten durchgeführten gynäkologischen Eingriffen. Sie weiterhin zu illegalisieren, verstößt gegen den Versorgungsauftrag des Staates, das im Sozialgesetzbuch V geregelt ist. Zwangsgeburten und Gebärpflicht vertragen sich nicht mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2, Absatz 2 GG)“, so die Vorsitzende. Gleichzeitig könne die Gesundheit vieler Frauen stark gefährdet werden.
Zahlen aus anderen Länder zeigen, dass Abtreibungen durch schärfere Gesetze nicht abnehmen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt an, dass jährlich weltweit 25 Millionen unsichere Abtreibungen stattfinden. Etwa 39.000 Frauen und Mädchen sterben daran, weitere Millionen müssen mit Komplikationen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, allein in Entwicklungsländern jährlich 7 Millionen Frauen.
Gesundheitsexpert*innen zufolge würden rechtliche Einschränkungen dazu führen, dass Frauen und Mädchen verzweifelte Maßnahmen ergreifen, um eine ungeplante Schwangerschaft zu beenden. Diese reichen von der Verwendung von Kleiderbügeln oder dem Trinken von Bleichmittel bis hin zum Besuch von Hinterhofkliniken, die von ungeschulten Ärzt*innen betrieben werden, so Reproductive Rights.
Bildung über Schwangerschaftsabbrüche und Verhütung ist essenziell
Trotz der erschreckenden Zahlen machten sich Ärzt*innen und Praxen in Deutschland bis 2022 durch das „Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a StGB)“ strafbar, sobald sie Inhalte und Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch (online) zur Verfügung stellten.
Dabei sei die Bildung über Schwangerschaftsabbrüche essenziell, betont auch Kersten Artus. „Aufklärung sollte von klein auf altersgerecht stattfinden – durchgeführt durch Pädagog*innen oder Erzieher*innen, die in sexueller Bildung geschult sind. Kostenlose Verhütungsmittel sollten zugänglich für alle sein. Da Menschen in prekären Lebenssituationen oft schlechter verhüten, muss Armut auch deswegen wirksam bekämpft werden. Auch die Selbstermächtigung von Mädchen muss gestärkt werden.“
Die Journalistin spricht sich für die Abschaffung von Paragraph 218 StGB aus, da „Illegalisierung und Kriminalisierung das gesellschaftliche Tabu“ aufrechterhielten. „Die Folgen sind eine unzureichende Aufklärung, sowie immer weniger Mediziner*innen, die Abbrüche durchführen.“

Beratungsgespräche sind in Deutschland und vielen anderen Ländern Pflicht, um eine Abtreibung durchführen zu können.
Nehmen Kirche und Patriarchat den Frauen ihre Entscheidungsfreiheit?
Laut der Expertin wurzeln die Vorstellungen und die Gleichsetzung von Abtreibungen mit einem Verbrechen vor allem im Patriarchat und in den Lehren der Kirche. Sie betont: „Abtreibungsverbote haben ihren Ursprung im Patriarchat und basieren auf der Überzeugung, dass allein eine göttliche Instanz bestimmen dürfe, wann das Leben beginnt und wann es endet.“ Diese Sichtweise diene häufig dazu, Kontrolle über den weiblichen Körper und dessen Selbstbestimmung auszuüben.
Die römisch-katholische Kirche vertritt seit jeher eine ablehnende Haltung gegenüber Abtreibungen. Auch der derzeitige Papst, Franziskus, verurteilt diese scharf und bezeichnet Abtreibungen als „Mord“, während er Ärzt*innen, die sie durchführen, als „Auftragsmörder“ betitelt. Seine Haltung ist jedoch keine Neuerung: Auch seine Vorgänger äußerten sich wiederholt ablehnend zu diesem Thema. Dennoch gab es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder Diskussionen und differenzierte Positionen, und nicht alle religiösen Strömungen teilen diese strikte Sichtweise. Besonders in der evangelischen Kirche und anderen Glaubensgemeinschaften existieren teilweise nuanciertere Ansätze, die individuelle Gewissensentscheidungen stärker in den Fokus rücken.
Bisher haben die Debatten auf allen Ebenen noch nicht dazu geführt, dass Frauen selbstbestimmt eine Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung treffen können. Stattdessen sind sie abhängig von den Meinungen und Beschlüssen der Politik – und das, obwohl Parteien, die gegen eine Lockerung oder gar eine Verschärfung des Paragraphen 218 StGB sind, einen deutlich geringeren Frauenanteil aufweisen, als jene, die für eine Lockerung stimmen.
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