Die dunklen Geheimnisse von Kanadas Schulen für indigene Kinder

Der Fund anonymer Gräber in British Columbia bringt die Verbrechen eines ehemaligen katholischen Internats ans Licht. Die National Geographic-Dokumentation Sugarcane zeigt die Aufarbeitung der Überlebenden – und wurde damit für einen Oscar nominiert.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 28. Feb. 2025, 13:46 MEZ
Statue von Maria mit Jesus auf dem Arm.

Befleckter Glaube: In Sugarcane kommen die gut gehüteten Geheimnisse der katholischen Internate für indigene Kinder ans Licht – und die Überlebenden nach Jahrzehnten des Schweigens zu Wort.

Foto von Sugarcane Film LLC

Williams Lake in British Columbia, Kanada. Wenige Kilometer südöstlich der Kleinstadt stehen marode historische Gebäude zwischen Feldern und Wiesen, hinter ihnen ragt ein idyllisch anmutender Nadelwald empor. „Ich schaue gerade auf den Ort, an dem du geboren wurdest“, sagt ein junger Mann mit ernstem Blick in sein Handy. „Ich bin bei der St. Joseph’s Mission.“

Der junge Mann ist der Regisseur Julian Brave NoiseCat. Am anderen Ende der Leitung ist sein Vater. Die beschriebene Szene eröffnet den Dokumentarfilm Sugarcane, den NoiseCat gemeinsam mit der Filmemacherin Emily Kassie gedreht hat. Ihr preisgekröntes Debüt beleuchtet die Geschichte indigener Kinder in Kanada, die von Kirche und Regierung seit 1894 gezwungen wurden, auf separate Internate und Schulen zu gehen. Das damalige Ziel: die Assimilation der Indigenen – also die Angleichung an die weiße Bevölkerung – und die Auslöschung ihrer Gemeinden. Dafür wurden die Kinder ihren Familien unter Zwang entrissen.

Auch die St. Joseph’s Mission in der Nähe von Williams Lake war eine dieser über 550 staatlich finanzierten Schulen in Kanada, in der indigene Kinder mit allen Mitteln ‚umerzogen‘ werden sollten. Die Liste der Straftaten, die über Jahrzehnte in dem kanadischen Internat passierten, ist lang. Sie reicht von Vernachlässigung über sexuellen Missbrauch bis hin zu Mord. Bis 2021 bleiben die Verbrechen unentdeckt. Erst mit dem Fund anonymer Gräber kommen sie im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung Stück für Stück ans Licht. Der Film deckt die generationenübergreifenden Traumata der Überlebenden auf und zeigt, wie sie sich mutig der dunklen Vergangenheit stellen. Eine von ihnen ist NoiseCats eigene Großmutter. Und auch sein Vater ist eng mit der gewaltvollen Geschichte der Schule verbunden.

Gewalt, sexueller Missbrauch und Mord an Residential Schools

Die meisten der sogenannten Residential Schools wurden von der katholischen Kirche geleitet. So auch die St. Joseph’s Mission in British Columbia, die zwischen 1886 und 1981 als Internat betrieben wurde. Bereits ab dem Jahr 1902 gab es wiederkehrende Vorfälle, die von Vernachlässigung und Missbrauch der indigenen Kinder zeugten. Unter anderem wurden sie permanent dazu gezwungen, verdorbenes Essen zu sich zu nehmen. Weigerten sie sich, war körperliche Misshandlung die Konsequenz. Außerdem wurden sie als billige Feldarbeiter*innen missbraucht. Einige Kinder versuchten den Qualen zu entkommen und liefen weg, andere begingen Suizid.

Weiße Kirche in verschneiter Landschaft.

Im Schatten der Kirche wurde versucht, die indigene Bevölkerung auszulöschen.

Foto von Sugarcane Film LLC

In den späten 1950er-Jahren kamen Fälle sexuellen Missbrauchs hinzu. Berichte ehemaliger Schüler*innen beschreiben die Vorfälle. Die meisten von ihnen wussten genau, was geschah, wenn Klassenkameraden plötzlich verschwanden. Auch Mord war nichts, wovor die Mitarbeitenden der Schule zurückschreckten. Unerwünschte Babys, die aus Schwangerschaften nach sexuellen Missbräuchen resultieren, wurden laut den Überlebenden häufig verbrannt oder in Flüsse und Seen geworfen. Manche dieser Babys überlebten allerdings auch – darunter NoiseCats eigener Vater. Die Großmutter des Regisseurs, die das Internat zu dieser Zeit besuchte, wurde Opfer der sexuellen Übergriffe und behielt das Baby. 

Die Taten wurden weitestgehend vertuscht oder nicht hinreichend aufgeklärt. Polizeiliche Ermittlungen verliefen in vielen Fällen im Sande. Erst viele Jahre später wurden einige der Täter*innen verurteilt. Bis heute konnten längst nicht alle Taten rekonstruiert werden, die Aufarbeitung steht erst am Anfang. Die St. Joseph’s Mission steht symbolisch für vermutlich Tausende weitere Fälle beispielloser Gewalt an indigenen Kindern, denn solche Internate und Schulen gab es im gesamten nordamerikanischen Raum. 

Dokumentarfilm Sugarcane für einen Oscar nominiert

Regisseur Julian Brave NoiseCat und die Filmemacherin Emily Kassie geben mit ihrem Filmdebüt Einblicke in die indigene Gemeinde Sugarcane, östlich von Williams Lake, die sich seit 2021 mit der Aufklärung der Verbrechen der St. Joseph’s Mission beschäftigt. Zweieinhalb Jahre lebten die Filmemacher*innen vor Ort und ließen Überlebende zu Wort kommen. Schnell merkten sie: Bis heute zieht sich das Trauma durch die Generationen. Es manifestiert sich etwa in Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder Suizid.

BELIEBT

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    Seitliches Porträt von Julian Brave NoiseCat.

    Regisseur Julian Brave NoiseCat in der indigenen Gemeinde Sugarcane.

    Foto von Sugarcane Film LLC

    Und doch: Sugarcane zeigt auch die Stärke und Resilienz dieser indigenen Gemeinschaft, die den Kreislauf dieser Traumata durchbricht und die Kraft findet, weiterzuleben. Der National Geographic-Dokumentarfilm wurde bereits vielfach ausgezeichnet: Er gewann unter anderem den Sundance Film Festival Award. Nun ist er für einen Oscar in der Kategorie „Beste Dokumentation“ nominiert. 

    Am 8. März um 22:35 Uhr läuft Sugarcane in einer Sonderprogrammierung auf National Geographic. Rund um die Uhr verfügbar ist der Film außerdem bei Disney+.

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