Die Apostel

Zu Pfingsten empfingen sie die Botschaft Jesu: «Geht hinaus in die Welt.» Mythen und Legenden ranken sich seither um die Apostel, die für den Urknall des Christentums sorgten – und für den neuen Glauben ihr Leben ließen.

Von Andrew Todhunter
Foto von Lynn Johnson

In der Stadt Paravur im südindischen Bundesstaat Kerala ist der Steinboden der alten Kirche von Kottakkavu so blank poliert, dass er wie eine Wasserfläche das Purpur, Gold und Kiefergrün des Altaraufsatzes spiegelt. Um das Retabel schweben auf blauen Himmel gemalte Wolken, in den Nischen stehen beleuchtete Statuetten.

Auf einem kleinen Teppich kniet reglos eine Frau im blauen Sari, das Haar mit einem violetten Schleier bedeckt, die Hände erhoben. Nebenan in einer größeren Kirche liegt in einem goldenen Schrein ein bleiches Knochenstück, nicht größer als ein Daumennagel. Ein Schild schreibt die Reliquie dem Apostel Thomas zu. Er soll hier im Jahr 52 die erste christliche Kirche in Indien gegründet haben.

Der „ungläubige Thomas“, wie er allgemein bekannt ist, war einer der zwölf Apostel, die nach der Kreuzigung Christi in die Welt zogen, um den neuen Glauben zu verbreiten. So wie Petrus, Andreas, Jakobus der Ältere, Jakobus der Jüngere, Johannes, Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Thaddäus, Simon und Matthias, der den Platz des früheren Jüngers und angeblichen Verräters Judas Iskariot einnahm. Mit der Zeit wurde der Begriff „Apostel“ (griechisch: apostolos – Gesandter) auch auf andere angewendet, die das Wort verbreiteten. Paulus nahm den Titel für sich in Anspruch, da er glaubte, der Herr sei ihm erschienen und habe ihm einen geistlichen Auftrag gegeben. Maria Magdalena ist bekannt als Apostola apostolorum, Apostelin der Apostel, weil sie den Jüngern die Auferstehungsbotschaft brachte. Und obwohl nach altkirchlicher Tradition nur zwei der vier Evangelisten – Matthäus und Johannes – zu den Aposteln gehörten, wurden auch Markus und Lukas zu ihnen gezählt.

In den ersten Jahren nach der Kreuzigung war das Christentum lediglich das Saatkorn für eine neue Religion, denn es fehlten eine entwickelte Liturgie, Anweisungen für das Gebet und auch ein Name – die frühesten Anhänger nannten die Bewegung ganz einfach „der Weg“. Petrus war ihr erster Prediger. In der Apostelgeschichte hören wir von seinen Massenbekehrungen und Wundertaten – er brachte Lahme zum Gehen und erweckte Tote zum Leben. In den frühesten Anfängen war die Bewegung zu unbedeutend, um politisch verfolgt zu werden, und die Christen hatten mehr Auseinandersetzungen mit benachbarten jüdischen Gruppierungen als mit der römischen Obrigkeit.

Der erste Apostel, der zum Märtyrer wurde, war Jakobus der Ältere. Im Jahr 44 n. Chr. ließ ihn König Herodes Agrippa I. gefangen nehmen und enthaupten. Als 64 n. Chr. eine Feuersbrunst zehn der 14 Bezirke Roms zerstörte, schob Kaiser Nero die Schuld auf die wachsende christliche Bewegung und ließ viele Gläubige bei einem Blutbad in seiner Privatarena töten. «Mit Tierfellen bedeckt, wurden sie von Hunden zerrissen und starben, sie wurden ans Kreuz genagelt oder den Flammen übergeben und verbrannt, um des Abends, wenn das Tageslicht verloschen war, als Beleuchtung zu dienen», notierte der römische Geschichtsschreiber Tacitus.

Elf der zwölf Apostel starben der Überlieferung nach den Märtyrertod. Petrus, Andreas und Philippus wurden gekreuzigt, Jakobus der Ältere und Thaddäus starben durch das Schwert. Jakobus der Jüngere soll mit einer Keule erschlagen worden sein. Bartholomäus zogen seine Peiniger bei lebendigem Leib die Haut ab und kreuzigten ihn. Von Thomas und Matthäus berichtet die Legende, dass Feinde sie mit Lanze und Schwert durchbohrten, Matthias wurde gesteinigt und Simon gekreuzigt oder in zwei Hälften zersägt. Johannes starb als Letzter der Apostel wahrscheinlich friedlich.

In den Anfängen des Christentums, so erzählt mir Columba Stewart, Historiker und Benediktinermönch der Saint John’s Abbey in Minnesota, «gab es zwar Missionierungsversuche, zunächst in Jerusalem, dann in Antiochien, dann in Rom, aber kein irgendwie geartetes Zentrum. Nur diese winzige, verwundbare, arme, häufig verfolgte Gruppe von Menschen, die für etwas entbrannt waren». Die Apostel waren die Vorreiter. Sie verbreiteten die Botschaft Jesu über das riesige Handelsnetz der antiken Welt.

Thomas ging nach Osten, durch das heutige Syrien, den Iran und, nach Ansicht der Historiker, weiter nach Südindien. Auch der Evangelist Markus verbreitete das Wort, brachte die christliche Botschaft nach Ägypten und begründete die koptische Kirche. Für manche Katholiken ist Markus als Heiliger vor allem ein politisches Symbol, aufs Stärkste verbunden mit der Identität der Stadt Venedig. Maria Magdalena hingegen gilt als Inbegriff der mystischen Heiligen. Einst als Dirne verunglimpft, war sie eine wichtige Gestalt im inneren Kreis Jesu. Nach einer Überlieferung starb sie in Ephesus, andere Quellen erzählen, sie sei vom Nahen Osten nach Südfrankreich gereist. Doch es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Maria Magdalena in der Provence war oder Thomas in Südindien starb. Wie also lassen sich diese mythischen Gestalten verstehen? Und warum üben sie, 2000 Jahre nach ihrem Tod, noch immer eine solche Macht aus?

Viele Historiker glauben, dass Thomas an den palmengesäumten Gestaden Keralas landete, dort, wo heute Kodungallur liegt. Er soll sieben Kirchen gegründet haben und 20 Jahre später an der Ostküste in Mylapore, heute ein Stadtteil von Chennai, den Märtyrertod gestorben sein. In der Kirche von Palayur soll Thomas das erste Kreuz in Indien errichtet und eines seiner ersten Wunder vollbracht haben: Als er auf eine Gruppe von Brahmanen stieß, die während eines Rituals Wasser in die Luft sprühten, fragte er sie, warum das Wasser auf die Erde zurückfalle, wenn es doch ihren Göttern gefalle. «Mein Gott würde eine solche Gabe annehmen», sagte Thomas. Dann spritzte er Wasser in die Luft, und die Tropfen blieben dort als glitzernde weiße Blüten hängen. Die meisten Zuschauer bekehrten sich auf der Stelle, die Übrigen flohen.»

Gleichwohl bildet Thomas noch immer die direkte Verbindung zwischen den Christen in Kerala und der christlichen Geschichte an den Küsten des Mittelmeers. Anders als spätere christliche Gruppen in Asien , die sich von Missionaren bekehren ließen, glauben die Thomas-Christen, dass ihre Kirche von einem der treuesten Anhänger Jesu begründet wurde – das ist der Kern ihrer spirituellen Identität.

Der Evangelist Markus hingegen ist untrennbar mit Venedig verbunden. Er ist der Schutzheilige der Stadt und ihr Herz der Dom von San Marco. Das Wahrzeichen des Markus – der geflügelte Löwe mit der Pranke auf dem aufgeschlagenen Evangelium – ist allgegenwärtig, und die Legenden über den Heiligen sind mit den Wurzeln der venezianischen Republik eng verwoben. Und doch erzählt uns die Überlieferung, dass Markus als Märtyrer im ägyptischen Alexandrien starb. Wie konnte er in einem westlichen Stadtstaat zu solcher Bedeutung gelangen?

Und was ist mit den Reliquien des Heiligen? Liegen im Sarkophag im Markusdom wirklich seine sterblichen Überreste? Was ist mit dem Schädel in Alexandrien, von dem die koptische Kirche behauptet, es sei der des Heiligen? Was ist mit der Reliquie, möglicherweise ein Knochensplitter, der Markus gehören soll und den der Vatikan 1968 Ägypten zum Geschenk machte, faktisch als Entschuldigung für den Diebstahl im 9. Jahrhundert? Die katholische Kirche konsultiert zwar Pathologen, die Reliquien untersuchen, datieren und konservieren. Aber eine Untersuchung der Überreste des heiligen Markus haben Gelehrte, Wissenschaftler und Geistliche bisher erfolglos gefordert.

Nicht alle sind jedoch erpicht darauf, Heiligenreliquien unter die Lupe zu nehmen. Giorgio Filippi, Archäologe im Dienst des Vatikans, hat sich klar gegen die Analyse und Datierung der Paulus Reliquien in Rom ausgesprochen. «Wenn der Sarkophag leer wäre oder man würde zwei Männer oder eine Frau darin finden, welche Hypothese würde man dann aufstellen? Warum will man das Grab des Paulus öffnen? Ich wollte bei dieser Aktion nicht dabei sein.»

Die Untersuchung, für die ein fingergroßes Loch in den Sarkophag gebohrt wurde, brachte ein linsengroßes Knochenfragment zum Vorschein, einige Brocken roten Weihrauch, ein Stück purpurnes Leinen mit Goldpailletten und Fäden von blauem Tuch. Unabhängige Laboranalysen, so behauptete die Kirche, hätten ergeben, dass sie aus dem 1. oder 2. Jahrhundert stammen. Bis die Wissenschaft so weit ist, dass sie auch erkennen kann, ob ein Mensch klein oder kahl war oder aus Tarsus stammte, dem vermuteten Geburtsort des Paulus an der türkischen Küste, werden wir der Wahrheit wahrscheinlich nicht viel näher kommen.

Westlich von Aix-en-Provence, in den Felswänden eines weitläufigen bewaldeten Bergmassivs mit Blick über eine Hochebene, liegt die Grotte von Sainte-Baume. Nach römisch-katholischer Überlieferung verbrachte Maria Magdalena hier die letzten 30 Jahre ihres Lebens. Die Luft im Inneren der Grotte ist deutlich kälter als draußen. In der Mitte glänzt ein Steinaltar im Kerzenschein, in einem vergoldeten Schrein liegen zwei Reliquien der Heiligen: eine Haarlocke und das angebliche Endstück eines Schienbeinknochens. Die Grotte wird seit 1295 vom Dominikanerorden betreut. Am Tag meines Besuchs treffe ich zunächst die Priester Thomas Michelet und François Le Hégaret im Kloster und esse mit ihnen in dem wunderschön schlichten alten Speisesaal zu Mittag. «Nach der Jungfrau Maria ist Maria Magdalena die wichtigste Frau im Neuen Testament», erzählt mir Michelet «Und doch sprechen wir nur sehr wenig über sie. Das ist sehr schade, denn es könnten viele Menschen von dieser Frau angerührt werden, die von Christus als Zeugin seiner Auferstehung auserwählt wurde. Er wählte nicht einen Apostel oder die Jungfrau Maria. Er wählte Maria Magdalena. Warum? Vielleicht weil sie die Erste war, die um Vergebung bat.»

Im Evangelium des Johannes ging sie drei Tage nach der Bestattung Jesu zu der Grabkammer und sah, dass der Stein vor dem Eingang weggerollt war. Maria Magdalena lief zu den Aposteln, die mit ihr gemeinsam zurückkehrten und sahen, dass das Grab leer war. «Dann kehrten die Jünger wieder nach Hause zurück», so steht es in der Schrift. «Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.» Sie blieb, so wie sie beim Kreuz geblieben war. Als sie wieder in die Grabkammer schaute, sah sie zwei Engel an der Stelle, wo der Leichnam Christi gelegen hatte. «Frau, warum weinst du?», fragten sie. «Man hat meinen Herrn weggenommen», sagte Maria, «und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat.» Und dann, so heißt es im Evangelium, sei ihr der auferstandene Christus erschienen.

Solche Beharrlichkeit hätte ihr wohl auch in der kalten und feuchten provenzalischen Grotte zum Vorteil gereicht. «Dieser Ort gilt als ein Ort der Buße», sagt Le Hégaret. «Die Winter hier sind hart. Sehr wenige Menschen kommen zur Grotte. Die Straße ist wochenlang vereist. Hier herrscht große Einfachheit.» Er lächelt. «Es gibt eine Redensart bei den Klosterbrüdern der Provence: In Sainte-Baume wirst du entweder verrückt oder ein Heiliger.»

Ich gehe noch einmal in die Grotte und steige die kurze Treppe hinauf zu der erhöhten steinernen Plattform, auf der der Legende nach Maria Magdalena schlief. Es ist die einzige Stelle in der Grotte, die immer trocken ist. Die letzten Besucher sind gegangen. Nebel zieht durch den Eingang. Ich stehe im Schatten, stecke die Hand durch das Gitter und presse sie auf den Stein. In der Grotte ist es vollkommen still, nur ab und zu hört man ein ganz leises Tröpfeln in der uralten Zisterne, die auch die Heilige mit frischem Wasser versorgt haben mag.

Als ich Thomas Michelet frage, ob es auch sein könne, dass Maria Magdalena niemals in die Provence gekommen sei, antwortet er ganz sachlich: «Es gab einen Priester, der lebte jahrzehntelang in der Grotte. Er sagte, es sei zwar unmöglich zu wissen, ob Maria Magdalena tatsächlich im 1. Jahrhundert hierhergekommen sei. Aber es sei von geringer Bedeutung, ob man das wisse oder nicht. Jetzt ist sie hier.»

Gekürzte Version! Den kompletten Artikel lesen Sie in der Juni-Ausgabe aus dem Jahr 2012 von NATIONAL GEOGRAPHIC.(NG, Heft 06 / 2012, Seite(n) 110 bis 129)

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