Geisterlande – Armenien und die Türkei

Seine Wanderung auf den Spuren der Menschheit führt unseren Reporter PAUL SALOPEK durch die Türkei und Armenien – in eine Region, die bis heute von der Geschichte eines unvorstellbaren Massakers verfolgt wird.

Von Paul Salopek
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Seine Wanderung auf den Spuren der Menschheit führt unseren Reporter Paul Salopek durch die Türkei und Armenien. Die Region wird bis heute von ihrer Geschichte und einem brutalen Unrecht verfolgt. Noch immer leben die beiden Länder in einem uralten Konflikt: Während des Ersten Weltkriegs wurden christlich-armenische Menschen im Osmanischen Reich verfolgt, vergewaltigt, deportiert oder getötet. Rund eine Million Armenier wurden umgebracht. Armenier und Historiker bezeichnen das Massaker als Völkermord, die türkische Regierung dagegen erkennt kein Genozid an. Laut ihrer Version seien es weniger als 600 000 Todesopfer gewesen und neben Armeniern haben auch andere Bevölkerungsgruppen gelitten. Der Konflikt zieht seine Spuren durch ein Gebiet, in dem vielen Menschen die Bereitschaft zum Bereuen, Vergeben und Vergessen fehlt.

Eine Million Armenier – die einen sagen mehr, die anderen weniger – wurden vor hundert Jahren im Osmanischen Reich getötet. Ein leeres steinernes Grab in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, erinnert an dieses tragische Ereignis, an die Medz Yeghern, die „große Katastrophe“ des armenischen Volkes. Jedes Frühjahr – am 24. April, dem Tag, an dem die Pogrome begannen – steigen Tausende Pilger den städtischen Hügel zu diesem Ehrenmal hinauf. Sie defilieren an einer ewigen Flamme vorbei, um einen kleinen Berg von Schnittblumen anzuhäufen. Keine hundert Kilometer nordwestlich, jenseits der türkischen Grenze, stehen die Ruinen eines älteren Denkmals, das der bitteren Geschichte der Armenier womöglich besser entspricht: Ani.

Ani war die mittelalterliche Hauptstadt eines mächtigen armenischen Königreichs, das sein Zentrum in Ostanatolien hatte, auf der großen asiatischen Halbinsel, die heute den wesentlichen Teil der Türkei ausmacht. Das Reich erstreckte sich bis zu den nördlichen Ausläufern der Seidenstraße. Seine Hauptstadt war eine reiche Metropole, in der 100 000 Menschen lebten. Ihre Basare quollen über von Pelzen, Gewürzen, Edelmetallen. Eine hohe Mauer aus hellem Stein schützte sie. Berühmt als die „Stadt der 1001 Kirchen“, konnte Ani es mit der Pracht Konstantinopels aufnehmen. Es repräsentierte die Blüte der armenischen Kultur.

Heute bröckelt Ani auf einer abgelegenen Hochebene vor sich hin – verstreute Trümmer eingestürzter Kathedralen, leere Straßen zwischen gelben Gräsern, eine trostlose, windumtoste Ruinenlandschaft. Ich bin dorthin gewandert. Ich wandere um die Welt. Zu Fuß folge ich den Spuren unserer ersten Vorfahren, die sich von Afrika aus in die Welt aufmachten. Auf meiner Reise habe ich keinen schöneren und keinen traurigeren Ort gesehen als Ani.

„Die Armenier werden ja gar nicht erwähnt“, staunt Murat Yazar, mein kurdischer Reisebegleiter. Und wirklich: Auf den Plakatwänden, die die türkische Regierung für Touristen aufgestellt hat, bleiben die Erbauer Anis ungenannt. Das ist Absicht. In Ani gibt es keine Armenier mehr. Noch nicht einmal in den offiziellen Geschichtswerken. Ani ist ein Denkmal für das Vergessen.

Einer der ältesten und hartnäckigsten politischen Konflikte der Welt, eine toxische Pattsituation, hält Armenien und die Türkei, den Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, seit Generationen gefangen in Verbitterung, Feindschaft und nationalistischem Extremismus. Dieser Konflikt dreht sich im Grunde um die Auslegung eines Worts mit drei Silben: Genozid.

Dieses Wort ist befrachtet mit verschiedenen Bedeutungen, mit unterschiedlichen Nuancen und Kontroversen. Von den Vereinten Nationen wird der Genozid als eines der schlimmsten Verbrechen eingestuft: als Versuch, ganze Völker beziehungsweise ethnische oder religiöse Gruppierungen auszulöschen. Doch wann genau trifft dieser Begriff zu? Wie viele Menschen müssen dafür abgeschlachtet werden? Was gewichtet man mehr: die Tat oder den Zweck, dem sie diente? Nach welcher grausamen Rechnung kommt man zu einem Ergebnis?

Die armenische Version der Ereignisse: Man schreibt das Jahr 1915. Seit neun Monaten tobt der Erste Weltkrieg. Europa schickt seine Jugend ins Feuer. Das gewaltige, multikulturelle Osmanische Reich – mächtigstes muslimisches Gemeinwesen der Welt – hat sich mit Deutschland verbündet. Eine große christlich-armenische Minderheit, einst so friedliebend und vertrauenswürdig, dass die Sultane sie als millet-i sadika, „unsere treue Nation“, bezeichneten, wird fälschlicherweise der Rebellion bezichtigt, der Parteinahme für den russischen Feind.

Einige osmanische Führer beschließen, dieses „armenische Problem“ durch Auslöschung und Deportation zu lösen. Armenische Männer werden erschossen. Es kommt zu Massenvergewaltigungen von Frauen. Armenische Dörfer und Stadtviertel werden besetzt und geplündert. Leichen verstopfen Flüsse und Brunnen. Städte stinken nach Verwesung. Die Überlebenden – Kolonnen zerlumpter Frauen und Kinder – schleppen sich, von Soldaten dazu gezwungen, in die Wüstengebiete des benachbarten Syrien. (Heute leben gerade einmal drei Millionen Armenier in Armenien; acht bis zehn Millionen sind in der Diaspora verstreut.) Die armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich sinkt von einst etwa zwei Millionen auf unter 500 000 Menschen. Für die meisten Historiker ist das, was damals geschah, der erste Völkermord der Moderne.

„Ich bin davon überzeugt, dass es in der ganzen Geschichte der Menschheit keine so grauenvolle Episode gibt wie diese“, schrieb Henry Morgenthau senior, der damalige amerikanische Botschafter in Konstantinopel.

Die türkische Regierung weist diese Darstellung kategorisch zurück. Ihre Version des „sogenannten Genozids“ geht folgendermaßen: Es ist eine Zeit absoluten Irrsinns in der Geschichte, eine Zeit des Bürgerkriegs. Die Armenier leiden, gewiss. Aber das gilt auch für viele andere Gruppen, die im zersplitternden Osmanischen Reich in der Falle sitzen: Griechen, assyrische Christen, Jesiden, Juden, ja sogar die Türken selbst.

Einen systematischen Ausrottungsplan gibt es nicht. Und was die Zahl der Todesopfer betrifft, übertreiben die Armenier, es sind weniger als 600 000. Überdies sind viele Armenier Verräter: Tausende hätten sich der ins Land einfallenden russischen Armee angeschlossen.

Die offizielle Sichtweise infrage zu stellen ist in der Türkei bis heute riskant. Türkische Richter werten den Ausdruck „Genozid“ als provokativ, aufwieglerisch, staatsbeleidigend. Selbst Berühmtheiten wie Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk müssen sich beschuldigen lassen, das Türkentum oder den türkischen Staat zu verunglimpfen, wenn sie von der großen armenischen Katastrophe sprechen. „Es ist unsere Hoffnung und unser Glaube, dass die Völker einer alten und einzigartigen Geografie, die ähnliche Sitten und Gebräuche teilen, in der Lage sein werden, miteinander über die Vergangenheit zu sprechen und auf vernünftige Art und Weise gemeinsam ihrer Verluste zu gedenken“, erklärte Recep Tayyip Erdoğan 2014 in einer Rede, die er, damals noch Ministerpräsident, sehr vorsichtig formuliert hatte. Worin liegt die besondere Macht dieses Wortes „Genozid“?

Die armenische Diaspora finanziert seit Jahrzehnten Lobbykampagnen, um weltweit Regierungen zu überzeugen, das Wort zu gebrauchen, wenn sie über die damaligen Ereignisse sprechen. Das EU-Parlament forderte im April 2015 die Türkei auf, den „Völkermord“ an den Armeniern anzuerkennen.

In Diyarbakır, einer kurdischen Stadt in der Osttürkei, führe ich in einer jüngst wieder eröffneten armenischen Kirche (eine fragile Geste der Versöhnung) ein Interview, als ein Mann auf mich zukommt. „Erkennen Sie den Genozid an?“, will er wissen. Er ist Armenier. Er ist aufgebracht. Er starrt mir in die Augen.

Ich bin erschrocken. Ich bin mitten in der Arbeit. Ich sage es ihm.

„Das ist mir egal“, antwortet er. „Erkennen Sie den Genozid an, ja oder nein?“

Er wiederholt die Frage mehrmals. Was er mir damit sagt, ist: „Ich bin kein Gespenst. Ich bin real, so wie meine Geschichte.“

Die Erinnerung fordert uns auf: Vergesst niemals! Aber am Ende vergessen wir immer.

In einer kleinen Stadt kurz hinter Eriwan sitzt ein schrumpeliger alter Mann zusammengesunken auf einem Sofa. Er heißt Khosrov Frangyan. Obwohl es gar nicht so kalt ist, hat er sich in Decken und eine Fleecejacke gehüllt, eine Strickmütze aufgesetzt und Socken über die knotigen Hände gezogen, denn sein Herz und seine Adern sind steinalt. Er ist 105 Jahre alt und einer derer, die die Massaker überlebt haben. Diese gebrechlichen alten Menschen, von denen es nur noch wenige gibt, werden heute in Armenien als Nationalhelden verehrt. Weil sie die letzte greifbare Verbindung zu dem Verbrechen von 1915 verkörpern. Weil sie eine lebendige Mahnung an alle Leugner sind.

„Ich war fünf, als die Türken kamen“, krächzt Frangyan. „Sie haben uns den Berg hochgejagt.“ Er erzählt seine Geschichte. Ein sagenumwobenes Kapitel des Genozids. Etwa 4700 Bewohner sechs armenischer Dörfer in der heutigen Südtürkei flohen einen an der Küste gelegenen Berg namens Musa Dagh hinauf. Sie ließen Felsbrocken hinabrollen auf ihre türkischen Verfolger. Mehr als 40 Tage leisteten sie Widerstand. Die Verzweifelten schwenkten ein Transparent, um die Schiffe aufmerksam zu machen, die an der Mittelmeerküste vorbeifuhren: „CHRISTEN IN NOT – RETTET UNS“. Wie durch ein Wunder kamen französische Kriegsschiffe zu Hilfe und brachten sie nach Ägypten, ins rettende Exil.

Frangyans braune Augen sind wässrig und rot gerändert. Er hält sich nicht, wie manche armenische Zeugen, bei dem Grauen auf, den Sammelhinrichtungen von Eltern, den Massenvergewaltigungen, den Enthauptungen. Nein. Seine Stimme wird lauter, als er an die Früchte seines verlorenen Dorfes zurückdenkt: „Die Gärten! Mein Großvater hatte Feigenbäume – 50 Meter hoch! Ich würde jetzt gern diese Bananen essen! Ich möchte diese Bananen in Erinnerung behalten!“ Frangyans Tochter, eine Frau mittleren Alters, schüttelt den Kopf. Sie entschuldigt sich. Der alte Mann sei manchmal verwirrt. Aber er ist nicht verwirrt. Ich bin in seiner Heimat in der türkischen Provinz Hatay gewesen. Ich habe in der Nähe seines alten Dorfes zwischen Obstgärten voller Mandarinen und Zitronen gestanden. Es ist wirklich ein subtropisches Paradies. Und ich habe von einer Bergkuppe auf dasselbe blaue Meer geschaut, in dem die Kriegsschiffe Anker warfen.

Vor einem Jahrhundert rettete die französische Marine Frangyan. Doch wer bewahrt die französischen Seeleute vor den dunklen Seiten im Menschen? Wer bewahrt uns alle?

Ich wandere von Afrika aus um die Welt. Ich folge den Fußspuren unserer Steinzeitvorfahren. Wo immer diese Pioniere auftauchten, gingen andere Hominini unter, die vorher dort gelebt hatten. Sie verschwanden.

In der Osttürkei komme ich an verfallenen armenischen Bauernhäusern vorbei. Ich erblicke alte armenische Kirchen, die in Moscheen umgewandelt wurden, sitze im Schatten von Walnussbäumen – vor langer Zeit von Menschen angepflanzt, die auf Todesmärschen ums Leben kamen.

„Wir haben die Armenier bekämpft, und viele sind gestorben“, sagt Saleh Emre, der bärbeißige Bürgermeister des kurdischen Dorfes Taşkale. Plötzlich wird er freundlicher. „Ich glaube, das war unrecht. Sie gehörten hierher.“

Muslimische Kurden nehmen in der von Gewalt gezeichneten Geschichte der Osttürkei eine seltsame Stellung ein. Aus einer Landesgrenzen-Gendarmerie, die vor einem Jahrhundert die Drecksarbeit für die Osmanen machte, sind sie selbst zu einer belagerten ethnischen Minderheit geworden, die in der modernen Türkei mehr politische Rechte fordert. Der Opferstatus verbindet heute viele Kurden mit ihren längst verstorbenen armenischen Nachbarn.

Wann ist ein Genozid offiziell vorbei? Der Akt einer Massenvernichtung vollständig beendet, dokumentiert, geklärt? Sicher noch nicht mit dem letzten Schuss. Wann dann? Wenn die Toten als Individuen aus der Kette der Erinnerung verschwinden? Oder wenn das letzte verwaiste Dorf eine neue Bevölkerung bekommt, eine neue Sprache, einen neuen Namen? Oder endet der Genozid erst, wenn die Reue beginnt?

Im Schneckentempo bewegen mein Reisebegleiter Murat Yazar und ich uns vorwärts. Wir wandern über allmählich gelb werdende Steppen, auf denen Wölfe vor uns herlaufen, zwischendurch stehen bleiben, um stumm über die Schulter zu uns zurückzublicken, dann weitertrotten. Wir kommen am Berg Ararat vorbei. Im Osten leuchtet, weiß mit Schnee bestäubt, der 5 137 Meter hohe Gipfel. In der Bibel taucht dieser Berg als Noahs Höhenankerplatz auf. Der schöne Vulkan ist den Armeniern heilig.

„Gewähltes Trauma“, mit diesem Begriff beschreibt der Politikpsychologe Vamık Volkan eine Ideologie, in der die Trauer zum Kern der Identität wird – für Individuen, für ganze Nationen. Das gewählte Trauma eint Gesellschaften, die durch Massengewalt entmenschlicht wurden. Aber es kann auch einen nach innen gewendeten Nationalismus schüren.

Ich schleppe mich von der Türkei über den Kleinen Kaukasus nach Georgien. In Tiflis mache ich Pause, dann nehme ich einen Nachtzug nach Eriwan. Es ist der 24. April, der 100. Jahrestag des armenischen Genozids.

Reklametafeln schmücken Armeniens Hauptstadt. Auf einer sind verschiedene Waffen – ein Krummsäbel, ein Gewehr, ein Kriegsbeil, eine Schlinge – so arrangiert, dass sie wie ein „1915“ aussehen. Das am wenigsten kämpferische Symbol der Trauer ist das eindrücklichste: das Vergissmeinnicht. Millionen violetter Blütenblätter, die Eriwans Parks und Mittelstreifen verschönern. Die Blumen tauchen auf Spruchbändern, Stickern, Anstecknadeln auf: Blüten des Genozids. „Erinnere dich und fordere“ – so lautet der Slogan des Gedenkens.

Aber was fordern?

Das ist die Schlüsselfrage, die die Armenier sich selbst stellen. Ist die Vergangenheit ein Wegweiser? Oder ist sie eine Falle?

Der apostolische Bischof Mikael Ajapahian aus der armenischen Stadt Gjumri sagt: „In Armenien herrscht keine Feindschaft gegenüber der Türkei. Wir legen den Menschen dort nichts zur Last. Aber die Türkei muss alles, wirklich alles tun, damit die Wunden verheilen.“

Elvira Meliksetyan, Frauenrechtsaktivistin aus Eriwan, sagt: „Wir wissen nicht, was wir wollen. Wenn alles uns an unsere vergangenen Probleme erinnert, verlieren wir doch die Zukunft, oder? Wir haben keine Strategie. Das ewige Opferdasein macht uns zu Almosenempfängern.“

Ruben Vardanyan, Milliardär und Philanthrop, sagt: „100 Jahre später sind wir die Gewinner. Wir haben überlebt. Wir sind stark. Deshalb sollten wir als Nächstes Danke sagen und den Menschen, die uns gerettet haben, etwas zurückgeben, auch den Türken. Vor 100 Jahren haben einige ihrer Großeltern unsere Großeltern beschützt. Wir müssen diese Geschichten miteinander verknüpfen.“ (Vardanyan hat den Aurora­Preis gestiftet, um stille Helden zu ehren, die andere vor dem Genozid bewahrt haben.)

Es gibt einen Fackelzug. Fotoausstellungen. Ein Konzert einer armenischen Diaspora­Rockband aus Los Angeles. Am Bergdenkmal mit der ewigen Flamme für die Toten drängen sich Diplomaten, Akademiker, Aktivisten, gewöhnliche Leute. Bei einer Konferenz zur Verhinderung von Völkermorden plädiert ein amerikanischer Historiker nüchtern für türkische Reparationszahlungen. Es sei „kein absurdes oder nebensächliches Anliegen“, dass die Türkei die sechs traditionell armenischen Provinzen der Osmanen an Armenien abtreten solle. (Deutschland habe mehr als 70 Milliarden Dollar Entschädigung an die Opfer der Naziverbrechen gezahlt.)

Die ergreifendste Geschichte, die ich auf meinem Abstecher nach Armenien höre, stammt von einem jungen Mann mit riesigen Augen.

„Ich war noch ein Baby, vielleicht ein Jahr alt. Ich lag sterbenskrank im Krankenhaus, mit einer Lungenentzündung – ich glaube, es war eine Lungenentzündung. Die Ärzte konnten nichts tun. Eine türkische Frau auf der Entbindungsstation sah meine Mutter weinen. Sie fragte sie, ob sie mich auf den Arm nehmen dürfe. Dann knöpfte sie ihr Kleid auf. Sie fasste mich an den Knöcheln und ließ mich an ihrem Körper hinunter. Als brächte sie mich noch einmal zur Welt. Das machte sie siebenmal. Sie sprach Gebete und rief: ‚Lass dieses Kind leben!‘“

Und?

„Ich wurde gesund.“ Er zuckt mit den Schultern. „Die Türkin hat mir das Leben gerettet.“

Ara Kemalyan, ein armenischer Soldat, erzählt mir diese Geschichte im Schützengraben knapp 250 Kilometer südöstlich von Eriwan. Von fern dringt Gewehrfeuer an mein Ohr. Mehr als 20 seiner 38 Lebensjahre steht Kemalyan als Kämpfer der abtrünnigen Region Bergkarabach den Soldaten der Zentralregierung Aserbaidschans gegenüber – seinen ehemaligen Freunden und Nachbarn.

Seit den späten Achtzigerjahren, als sich die Armenier von der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik lossagten, sind rund 30 000 Menschen, zumeist Zivilisten beider Seiten, in den Auseinandersetzungen um Bergkarabach ums Leben gekommen, Hunderttausende wurden vertrieben. Dieser giftige kleine Krieg, der den Kaukasus lähmt, hat praktisch nichts mit den älteren gewaltsamen Vorfällen im Osmanischen Reich zu tun. Und doch bezeichnet Kemalyan jene aserbaidschanische Hebamme, die ihn durch Zauberkraft rettete, immer noch als feindliche „Türkin“. Die Gespenster von 1915 halten sein Herz besetzt.

Bevor ich diese Geisterlande verlasse, gehe ich noch einmal nach Ani. Zu den mittelalterlichen Ruinen in der Türkei. Dem Monument des Leugnens. Diesmal betrachte ich es von der armenischen Seite der Grenze.

Die geschlossene armenisch­türkische Grenze ist eine der merkwürdigsten der Welt. Die Türkei sperrte ihre Übergänge 1993 im Bergkarabach­Krieg aus Sympathie für Aserbaidschan. Die Armenier machten ihre ebenfalls dicht, auch auf Druck aus der Diaspora, die sich gegen eine Normalisierung der Beziehungen zur Türkei stellt. Die Türkei hat ihre Seite der Grenze vor vielen Jahren entmilitarisiert. Die armenische Seite indes wird von der russischen Armee bewacht, das ist Teil des Verteidigungspakts mit Russland – so erhält Moskau seinen Einfluss in der strategisch wichtigen Region aufrecht. Der Anblick ist surreal: Armenische Stacheldrahtzäune und russische Wachtürme stehen vor weiten, offenen Feldern in der Türkei. Russische und armenische Soldaten blicken auf türkische Schäfer. Die Schäfer winken.

„Ich lasse in der Küche mein Herdfeuer immer brennen“, sagt Vahandukht Vardanyan, eine Armenierin mit rosigen Wangen. Ihr Bauernhaus liegt gegenüber von Ani, auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns. „Ich möchte den Türken zeigen, dass wir noch da sind.“

Ich erklimme in der Nähe ihres Hauses einen Aussichtspunkt, an dem armenische Pilger gerade aus Bussen aussteigen. Sie kommen hier­ her, um über einen Zaun sehnsüchtig auf ihre alte Hauptstadt in Anatolien zu blicken.

Auch ich blicke hinüber. Ich sehe genau die Stelle, wo ich Monate zuvor gestanden habe. Ein Geist meines früheren Ich läuft zwischen diesen Ruinen umher. Nichts trennt uns alle außer einer ungeheuren Kluft der Einsamkeit.

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

(NG, Heft 4 / 2016, Seite(n) 104 bis 127)

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