Mes Aynak - Wettlauf der Schatzgräber

Dank seines Kupferreichtums blühte im afghanischen Mes Aynak einst ein großes buddhistisches Zentrum. Nun wird die spektakuläre Anlage ausgegraben. Doch die Zeit läuft davon. Denn ein chinesisches Unternehmen will hier wieder eine Mine errichten.

Von Hannah Bloch
Foto von Simon Norfolk

Zusammenfassung: In den vergangenen sieben Jahren hat ein Team internationaler Archäologen im afghanischen Mes Aynak Tausende buddhistischer Statuen, Manuskripte, Münzen und Denkmäler zutage gefördert. Dank seines Kupferreichtums blühte dort einst ein großes buddhistisches Zentrum. Doch die Zeit drängt. Die Ausgrabungsstätte soll einer neuen Kupfermine weichen.

Nach etwa einer Stunde Fahrt auf dem Gardez-Highway südlich von Kabul, abseits der wuseligen Geschäfte, der rußspeienden Lastwagen und klappernden Eselskarren, geht es scharf nach links auf eine unbefestigte Straße. In diesem Teil des Taliban-freundlichen Distrikts Mohammed Agha in der Provinz Lugar sind Sprengsätze, Raketenangriffe, Entführungen und Morde nichts Außergewöhnliches. Die Straße führt an einem ausgetrockneten Fluss entlang, vorbei an kleinen Dörfern, paramilitärischen Straßensperren, Wachtürmen und verlassenen, mit Stacheldraht umzäunten Arbeitsbaracken mit blauem Dach.

Etwas später öffnet sich der Blick auf ein baumloses, von Gräben und freigelegten Mauern durchfurchtes Tal. Das 1.000 Hektar große Gelände ist von mehr als hundert Kontrollpunkten umgeben und wird Tag und Nacht von etwa 1.700 Polizisten bewacht. Hier hat in den vergangenen sieben Jahren ein Team afghanischer und internationaler Archäologen, unterstützt von bis zu 650 Arbeitern, Tausende buddhistische Statuen, Manuskripte, Münzen und heilige Denkmäler zutage gefördert. Ganze Klöster und Festungen, die bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. zurückdatieren, sind zum Vorschein gekommen.

Es ist mit Abstand die ambitionierteste Ausgrabung in der Geschichte Afghanistans . Doch dienen die Sicherheitsmaßnahmen nicht nur dazu, ein paar Wissenschaftler und einheimische Arbeiter zu schützen. Unter den uralten Ruinen liegt eine Kupfererzader, die sich über etwa vier Kilometer erstreckt und gut anderthalb Kilometer weit in den Berg Baba Wali hineinreicht, der über dem Gelände emporragt. Mit geschätzten 12,5 Millionen Tonnen Kupfer zählt die Ader zu den größten Lagerstätten der Welt, die noch nicht vollständig erschlossen sind. Bereits vor Jahrhunderten machte sie die buddhistischen Mönche, die hier lebten, reich. Kolossale Ablagerungen violetter, blauer und grüner Schlacke kleben an den Hängen des Berges, fest gewordene Rückstände der Verhüttung, sie zeugen von einer nahezu industriellen Produktion.

Mes Aynak: Das bedeutet „kleine Kupfer-quelle“. Doch nichts an Mes Aynak ist klein. Heute steht die alte Stätte für eine große Hoffnung. Die afghanische Regierung glaubt, dass das Kupfer ihr Land wieder wohlhabend oder wenigstens wirtschaftlich unabhängiger machen kann. 2007 bekam die in Peking ansässige China Metallurgical Group Corporation (MCC) den Zuschlag, im Rahmen eines 30-Jahres-Vertrags das Metall abzubauen. China lechzt nach Kupfer, es verbraucht die Hälfte der weltweit geförderten Menge. MCC bot mehr als drei Milliarden Dollar und versprach, in dieser isolierten Gegend eine Infrastruktur aufzubauen, mit Straßen, Eisenbahn und einem 400-Megawatt- Elektrizitätswerk.

Afghanistan ist seit 2002 auf ausländische Hilfe angewiesen, es muss gegenwärtig ein jährliches Defizit von sieben Milliarden Dollar verkraften. Wenn das Geschäft mit den Chinesen realisiert würde, brächte es dem Land dringend benötigte Devisen. Aber es würde zugleich das Ende der Ausgrabungen bedeuten. Und so hat in diesem kriegszerfressenen Land, in dem Reichtümer rar sind, ein Wettlauf begonnen. Es geht darum, ob der eine Schatz aus der Erde gehoben werden kann, bevor die Bergung des anderen ihn zerstört. Dieser Kampf läuft nun schon seit Jahren.

Kurz nachdem die Verhandlungen mit den Chinesen öffentlich wurden, forderten Fürsprecher des afghanischen Kulturerbes, dass die alten Schätze der Stätte ausgegraben und sachgemäß verzeichnet werden müssten, bevor sie dem Tagebau zum Opfer fallen. Doch die Erschließung der Mine verzögerte sich ohnehin. Zu groß waren die Gefahren, die in Mes Aynak lauern. Die für chinesische Ingenieure errichteten Gebäude wurden nach einer Reihe von Raketenangriffen in den Jahren 2012 und 2013 aufgegeben. Noch immer liegen hier Landminen der Sowjets aus den Achtzigerjahren sowie etliche Sprengkörper, die in jüngerer Zeit von den Taliban und al- Qaida zurückgelassen wurden, und 2014 töteten die Taliban hier acht Minenräumspezialisten.

Hinzu kommen die logistischen Probleme: Es gibt nicht mal eine Eisenbahn zum Abtransport des Kupfers. Der Abbau, der ursprünglich 2012 starten sollte, wurde bis heute nicht begonnen. 2013 trat die MCC von einigen Klauseln des Vertrags zurück, und die beiden Parteien müssen die Vereinbarung neu aushandeln. Wahrscheinlich wird hier bis 2018, wenn nicht darüber hinaus, kein Kupfer gewonnen.

Es ist Zeit, die den Archäologen geschenkt wird. Zeit, um die Geschichte dieses Landes neu zu entdecken. Die Vergangenheit, die von den Forschern freigelegt wird, steht im krassen Gegensatz zur Gewalt und Unordnung heutiger Tage. Vom 3. bis 7. Jahrhundert blühte hier eines der größten spirituellen Zentren Mittelasiens. Mindestens sieben mehrstöckige buddhistische Klosteranlagen mit Kapellen, Mönchszellen und anderen Räumen bilden bis heute einen Halbkreis um den Ort. Jede einzelne ist durch alte Wachtürme und hohe Mauern geschützt. Innerhalb dieser befestigten Anlagen und Wohnstätten haben die Archäologen fast hundert Schiefer- und Lehmstupas gefunden, buddhistische Reliquienschreine, manche von monumentaler Größe, andere so klein, dass sie sich leicht abtransportieren lassen.

Mes Aynak lag in der antiken Region Gandhara, die das heutige östliche Afghanistan und nordwestliche Pakistan umfasste. Es war nicht nur ein geistiges, sondern auch ein wichtiges Wirtschaftszentrum. Die Gegend galt als zivilisatorischer Schmelztiegel. Hier trafen die großen Religionen des Hinduismus, Buddhismus und der Zoroastrismus der Feueranbeter aufeinander. Griechische, persische, zentralasiatische und indische Kulturen befruchteten sich. Die gandharischen Buddhisten griffen in den ersten Jahrhunderten n. Chr. die Künste auf, die diverse Eroberer in den Jahrhunderten zuvor ins Land gebracht hatten, und verfeinerten sie.

Sie gehörten zu den Ersten, die Buddha in menschlicher Gestalt zeigten, so wie sie es von den griechischen Götterbildnissen kannten, die Alexander der Große mitgebracht hatte, als er um 330 v. Chr. durch Afghanistan marschiert war. In Mes Aynak legten die Archäologen Kapellen mit Buddhastatuen in doppelter Lebensgröße frei, die noch Spuren ihrer rot, blau, gelb und orange bemalten Gewänder trugen; sie fanden Geheimkammern mit Goldschmuck; Fragmente alter Manuskripte; mit Fresken verzierte Mauern. In einer Nische entdeckten sie eine Schieferstatue – die seltene Darstellung von Siddhartha Gautama, bevor er erleuchtet und zum Buddha wurde.

Sie bargen auch Kupfermünzen aus dem 3. bis 7. Jahrhundert. Viele davon tragen das Bild des Königs Kanischka I., Herrscher des Riesenreichs Kuschana im 2. Jahrhundert. Er hieß den Buddhismus und andere religiöse Traditionen willkommen. Auf manchen Münzen ist ein sitzender Buddha zu sehen, auf anderen eine persische Gottheit, zum Beispiel die Schicksalsgöttin Ardokhsha. „Kanischkas Münzgeld wurde von Rom bis China geschätzt“, sagt die 87-jährige US-Amerikanerin Nancy Hatch Dupree, die Grande Dame der afghanischen Denkmalpflege, die 15 Jahre in Kabul lebte. „23 Götter und Göttinnen sind auf den Münzen Kuschanas abgebildet. Das symbolisiert Toleranz. Es war eine Zeit, in der die Menschen den Horizont ihres Denkens erweiterten.“

Video: Die Kampagne "Saving Mes Aynak" setzt sich für den Erhalt der historischen Stätte ein.

Die alte Siedlung verspricht viele neue Ant worten. Vor allem auf eine Frage: Welche Rolle spielten die Wirtschaft und die industrielle Produktion im Buddhismus? Mes Aynak zeigt, dass das buddhistische Wirtschaftssystem wohl komplexer war als bisher angenommen. Die Siedlung scheint auch deshalb spirituell floriert zu haben, weil sie zugleich ein Zentrum der Kupfergewinnung war. Die sakralen Kloster­ anlagen stehen genau über der Kupfererzader. „Ich kenne keine andere Stätte, an der Klöster in perfekter Symbiose mit Produktions­ oder Industriestätten existierten“, sagt Zemar­yalai Tarzi, ein afghanischer Archäologe, der Mes Aynak 1973 als Erster mit einem französischen Team besuchte. „Dieser Ort hier ist beispiellos.“

Die Ausgrabungen bieten den Afghanen die Chance, ihr eigenes Land und ihre Geschichte neu zu erkunden. Derzeit wächst eine neue Ge­neration von Archäologen heran. Junge Wissen­schaftler wie der 24­-jährige Sultan Masoud Muradi. Der Sohn eines Bauarbeiters kam nach seinem Abschluss an der Universität von Kabul zu den Ausgrabungen. Er ist stolz darauf, dass er und seine Kollegen unterschiedlichen Ethnien angehören und dennoch problemlos zusammen­arbeiten. Und dies in einem Land, das in den Neunzigern von einem entsetzlichen Bürger­krieg zwischen verfeindeten Mudschahedin­-Gruppen zerrissen wurde. „Wir haben eine 5.000­-jährige Geschichte, und für die neue Gene­ration ist es sehr wichtig, darüber Bescheid zu wissen“, sagt er, eine kleine Schaufel in der Hand, während er eine Pause vom Graben macht. „Sonst spricht man über uns doch nur wegen Terrorismus und Mohnproduktion.“

Das Leben an der antiken Stätte hat bis heute seine Spuren in der ganzen Region hinterlassen. Die Gegend ist komplett entwaldet, womöglich auch wegen der Kupferverhüttung. Um aus Erz ein einziges Pfund Kupfer zu gewinnen, waren bis zu 20 Pfund Kohle nötig. So haben die Minenbetreiber wohl auch das Ende ihrer Ära eingeleitet. Thomas Eley, ein bri­tischer Archäometallurgie­-Spezialist, der 2012 in Mes Aynak forschte, fand heraus, dass die Menschen bei der Kupferproduktion im Laufe der Zeit von einer relativ effizienten Form der Verhüttung zu einem langsameren und an­ strengenderen Verfahren wechselten. Der effizientere Prozess verbrauchte zu viel Brenn­stoff. Durch das Abholzen schwand der Baum­bestand für die Kohleherstellung, und das zwang die Hüttenwerke womöglich dazu, auf eine langsamere, aber sparsamere Methode umzustellen.

Für die Verarbeitung war auch eine verlässliche Wasserversorgung erforderlich, damit das Erz gewaschen und die weiß glühenden Blöcke abgekühlt werden konnten. Das Wasser kam wahrscheinlich aus Bergquellen, flachen Bächen und alten unterirdischen Bewässerungskanälen, Karez genannt, die in Teilen Afghanistans bis heute genutzt werden. Einen zehn Meter langen Karez haben die Männer im nördlichen Bereich von Mes Aynak freigelegt, vermutlich gehörte er zu einem Netzwerk solcher Kanäle.

Unter Wasserarmut leidet die Gegend bis heute. Und für das Bergen des zweiten Schatzes, des Kupfers von Mes Aynak, stellt sie ein weiteres Hindernis dar. Integrity Watch Afghanistan, ein in Kabul ansässiger Thinktank, berichtete 2013, Dorfbewohner rund um Mes Aynak hätten beklagt, dass der Grundwasserspiegel nach vorbereitenden Bohrungen um fast zwei Meter gesunken sei. „Wenn der Kupferabbau beginnt, werden in einer Achtstundenschicht sieben Millionen Liter benötigt“, sagt Javed Noorani, Verfasser des Integrity-Watch-Berichts.

Die Archäologen hingegen kämpfen nicht mit dem Mangel, sondern mit der Fülle: „Ausgraben ist leicht“, sagt Omar Sultan, ehemals stellvertretender Kulturminister Afghanistans und in Griechenland ausgebildeter Archäologe. „Schwieriger ist das Bewahren.“ Man weiß nicht, wohin mit den Funden. Mehr als tausend der wichtigsten Stücke sind im Nationalmuseum Afghanistans in Kabul untergekommen. Doch der Platz dort reicht nicht für alle Kunstgegenstände.

So werden Tausende von Mes-Aynak-Objekten vorübergehend auf dem Ausgrabungsgelände oder in dessen näherer Umgebung aufbewahrt, die meisten noch unerforscht. Sie sind leichte Beute für Räuber. „Wenn Mes Aynak nicht durch den Bergbau zerstört wird, dann durch Plünderungen“, sagt der französische Archäologe Philippe Marquis, der die Ausgrabungen von 2009 bis 2014 begleitete. Auch deshalb sei es wichtig, so viel wie möglich zu dokumentieren, damit es der Wissenschaft nicht verloren geht. Manche träumen davon, ein virtuelles Museum und die Online-Rekonstruktion der antiken Stadt einzurichten – um wenigstens auf diese Art das Andenken zu bewahren, sobald mit dem Tagebau begonnen wird und der Wettlauf der Schatzgräber beendet ist.

In diesem Wettlauf geht es nicht nur um den Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und kulturellem Erbe. Es geht auch um Arbeitsplätze und damit um Sicherheit. Die Kupferförderung könnte 4.500 Jobs an der Mine schaffen und viele Tausend bei Zulieferern, schätzt die Weltbank. Und wie gefährlich das Leben in Mes Aynak ist, hängt wiederum zum großen Teil davon ab, ob die Männer der Gegend in Lohn und Brot sind. „Wer nichts zu essen und kein Geld hat, wessen Kinder hungrig sind, der ist zu allem bereit“, sagt Habib Rahman. „Vielleicht auch, sich den Taliban anzuschließen. Denn die zahlen ein Gehalt.“ Der graubärtige 42-Jährige verlor 2001 beim Ziegenhüten durch eine Landmine ein Bein.

Jetzt läuft der Familienvater jeden Tag zwei Stunden an Krücken von seinem Bergdorf nach Mes Aynak und wäscht Tonscherben. Ob die Arbeitsplätze an der Mine jemals wirklich entstehen, kann niemand mit Gewiss­heit sagen. An der Ausgrabungsstätte wurden in den vergangenen Jahren immerhin einige Hun­dert Männer nach lokalen Maßstäben großzügig dafür entlohnt, dass sie wie Habib Rahman Hilfsarbeiten leisten. Viele stehen der reichen Geschichte, an deren Freilegung sie mitwirken, zwar ambivalent gegenüber. Sie sind Muslime, und die Vorstellung, eine buddhistische Vergangenheit zu haben, ist ihnen fremd. Die Taliban bedrohen die Helfer sogar, weil sie ihnen vor­werfen, den Buddhismus zu begünstigen. Den­noch bewundern auch viele unter den Arbeitern die Errungenschaften der Vergangenheit. „Zahl­lose Generationen haben auf diesem Boden gelebt. Hier gab es einst eine Zivilisation, eine Fabrik, eine Stadt und Könige“, sagt der 36­-jährige Javed, Arbeiter und Veteran der afgha­nischen Armee. „Auch das ist Afghanistan.“

Video: Die Kampagne "Saving Mes Aynak" setzt sich für den Erhalt der historischen Stätte ein.

(NG, Heft 9 / 2015, Seite(n) 116 bis 133)

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