Wer waren die Phönizier?
Ich gehöre dazu, sagt Pierre Abi Saad. "Ich bin ein Phönizier. Jedenfalls fühle ich mich so, denn meine Familie fährt schon seit Generationen zur See."
Ich gehöre dazu, sagt Pierre Abi Saad. "Ich bin ein Phönizier. Jedenfalls fühle ich mich so, denn meine Familie fährt schon seit Generationen zur See." Das Volk, von dem dieser Mann spricht, verschwand vor 2000 Jahren. "Ein paar echte Phönizier könnten wir gut gebrauchen", sagt Spencer Wells und legt Saad eine Armmanschette an. Eine Gruppe von Fischern, Ladenbesitzern und Taxifahrern hat sich auf der Veranda eines Restaurants in der libanesischen Mittelmeerstadt Byblos versammelt.
Die Männer wollen Blut spenden und damit Teil eines Experiments werden, das neues Licht auf die Phönizier werfen könnte. "Was werden Sie daraus ablesen?", fragt Saad den amerikanischen Genforscher. "Ihr Blut enthält DNA, und die ist wie ein Geschichtsbuch", erläutert Wells. "Im Laufe der Jahrhunderte sind ganz unterschiedliche Menschen nach Byblos gekommen, und deren Spuren finden sich heute in Ihrem Blut. Ihre DNA kann uns etwas über Verwandtschaftsbeziehungen erzählen, die einige Jahrtausende zurückreichen." Wer waren die Phönizier? Mit Hilfe neuer Methoden wollen Wells und sein Kollege Pierre Zalloua neue Antworten auf diese uralte Frage finden. Bislang ist nur wenig über das geheimnisvolle Handelsvolk bekannt. Nach Herodot stammen sie von den Kanaanitern ab.
Ihr Name leitet sich vom griechischen phoinikes her, das nach Meinung einiger Wissenschaftler "die roten Menschen" bedeutet und auf das purpurne Tuch zurückgeht, das sie produzierten und exportierten. Quelle der königlichen Farbe war die Purpurschnecke. Sie selber bezeichneten sich nicht als Phönizier, sondern nannten sich nach ihren Städten, zu denen Byblos, Sidon und Tyros gehörten. Die Kultur, die später als phönizisch bekannt wurde, blühte bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. an der Levante, einem Küstengebiet, das sich heute hauptsächlich auf den Libanon, auf Syrien und Israel verteilt. Die Phönizier waren ausgezeichnete Seefahrer und beherrschten vom 9. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. das Mittelmeer. Sie gründeten Handelszentren und Kolonien und dehnten ihr Einflussgebiet immer weiter aus.
Es reichte von Zypern im Osten bis zum Ägäischen Meer und nach Italien, Nordafrika und Spanien im Westen. Reich wurden sie durch den Handel mit Edelmetallen aus fremden Ländern, mit Wein und Olivenöl und ganz besonders mit dem Holz der berühmten Libanonzedern aus den Bergen, die an der Küste ihres Heimatlands steil aufragen. Nur wenig erinnert heute an die phönizische Kultur, denn feindliche Armeen zerstörten ihre Städte und bauten auf den Ruinen. Es heißt, das Handelsvolk habe eine reiche Literatur besessen.
Sie waren es auch, die das moderne Alphabet entwickelten und es in andere Hafenstädte brachten. Doch der empfindliche Papyrus, auf dem sie schrieben, ist längst zerfallen. So stammt fast alles, was wir heute über die Phönizier wissen, aus den Berichten ihrer Feinde. Als kulturelle Mittelsmänner überbrachten die Phönizier den Völkern der Ägäis Ideen, Mythen und Wissen aus der Welt der Assyrer und Babylonier, die das Gebiet des heutigen Syrien und Irak beherrschten. Damit halfen sie, in Griechenland eine kulturelle Erneuerung in Gang zu setzen, die letztlich zur Geburt der westlichen Zivilisation führte.
(NG 2004)