Der Vesuv: Bricht er bald wieder aus?
Ein erster donnernder Knall hallte über die Ebene Kampaniens. Es folgte ein Hagel aus Glut. Der Mann und die Frau verließen hastig ihr Dorf. Sie flüchteten nach Osten, einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Ihr Fluchtweg wurde eingehüllt in eine dichte Wo
Ein erster donnernder Knall hallte über die Ebene Kampaniens. Es folgte ein Hagel aus Glut. Der Mann und die Frau verließen hastig ihr Dorf. Sie flüchteten nach Osten, einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Ihr Fluchtweg wurde eingehüllt in eine dichte Wolke aus kleinen Bimssteinen und glühenden Gesteinsbrocken - groß genug, um einen Schädel zu zerschmettern, und heiß genug, um die Haut zu verbrennen. Zur selben Zeit rannten Tausende andere Menschen verzweifelt um ihr Leben. Sie hinterließen in der weichen Asche und dem nassen Vulkanschlamm Fußspuren, die ein paar Jahrtausende unentdeckt bleiben sollten. Die Menschen, die nach Norden und Nordwesten flüchteten, hatten eine Richtung gewählt, die ihnen wahrscheinlich das Leben rettete. Alle, die nach Osten flohen, auf die heutige Stadt Avellino zu, wählten unwissentlich den Weg in den sicheren Tod. Sie liefen genau in die Richtung des stärksten Aschefalls. Dem flüchtenden Paar kam es vor, als würde es von den Göttern gesteinigt. Jeder Atemzug wurde schwieriger. Sie kämpften sich noch ein Stück weit den Hang des Berges hinauf, dann starben sie einen qualvollen Erstickungstod.
Bis Dezember 1995 lagen die Knochen dort, wo das Paar zu Boden gestürzt war. Dann wurden sie von italienischen Archäologen gefunden, die 15 Kilometer nordöstlich des Vesuv, am Rand der Kleinstadt San Paolo Bel Sito, eine für den Bau einer Gaspipeline vorgeschriebene Bohrung niederbringen ließen. Italienische Wissenschaftler aus den Bereichen Vulkanologie, Archäologie und Physische Anthropologie taten sich zu einer Untersuchungskommission zusammen. Dieses Projekt hat in den vergangenen zehn Jahren viele neue Erkenntnisse über die Geschichte des Vulkans geliefert - und die wissenschaftlichen Debatten darüber, welche Gefahren von künftigen Eruptionen ausgehen, mit beunruhigenden Tatsachen angefacht.
Die erste Wolke der Avellino-Eruption hatte tödliche Wirkung, vor allem in der Nähe des Vesuv. Ihr Material hatte sich in der unterirdischen Magmakammer auf bis zu 900 Grad aufgeheizt. Heiße, erstickende Winde mit Geschwindigkeiten um die 385 Stundenkilometer erreichten Temperaturen von mindestens 480 Grad.
Noch in 15 Kilometer Entfernung vom Schlot brachten sie das Wasser zum Kochen. "Bei weniger als 90 Grad kann man vielleicht ein paar Sekunden überleben, wenn die Wolke schnell genug durchrast", sagt Giuseppe Mastrolorenzo, Vulkanologe am Osservatorio Vesuviano. "Doch selbst wenn man die Hitze überlebte, würde man an dem feinen Staub in der Luft ersticken. Die gesamte Umgebung des Vesuv wurde meterhoch unter solchem Staub begraben. Fünf Kilometer vom Krater entfernt war die Schicht mehr als 20 Meter, in 24 Kilometer Entfernung immer noch 25 Zentimeter dick. Aber schon 20 Zentimeter Asche reichen aus, um das Dach eines Hauses von heutigem Zuschnitt zum Einsturz zu bringen." Die Katastrophe dauerte vermutlich weniger als 24 Stunden. Aber sie verwandelte eine idyllische Landschaft in eine monochrome Wüste, die 300 Jahre lang unbewohnbar blieb.
Aus gesammelten Daten wissen die Forscher, dass sich am Vesuv in jüngerer geologischer Zeit plinianische Eruptionen in einem Rhythmus ereignet haben, der Anlass zur Sorge gibt. Seit einem Ausbruch vor 25 000 Jahren hat es größere Eruptionen vor 22 500, 15 000, 11 400 und 8000 Jahren gegeben. Vor 3780 Jahren kam die Avellino-Eruption, vor knapp 2000 Jahren der Pompeji-Ausbruch.
Der amerikanische Vulkanologe Michael Sheridan und Mastrolorenzo legten ein Intervall von etwa 2000 Jahren zwischen den heftigsten Eruptionen zugrunde. Sie berechneten, dass die Wahrscheinlichkeit eines großen Ausbruchs zurzeit höher ist als 50 Prozent. Und von Jahr zu Jahr nimmt sie ein wenig zu - je größer der Abstand zur jüngsten großen plinianischen Eruption wird.
Was würde passieren, wenn es plötzlich ernst zu nehmende Anzeichen gäbe, dass der Vesuv aus seiner Untätigkeit erwacht? Bei einer Vorhersage, die von Wahrscheinlichkeit spricht, würden Verwirrung und Unsicherheit herrschen. "Es ist schwer, sich vorzustellen, was sich in den Tagen vor einer Eruption abspielen würde", sagt Mastrolorenzo. "Es wäre wohl schlimmer als der eigentliche Ausbruch." Einige Neapolitaner würden vielleicht schon beim ersten seismischen Rumpeln die Flucht ergreifen, andere würden bleiben, wieder andere nach einem wochen- oder gar monatelangen seismischen Hin und Her wieder in ihre Stadt zurückkehren. Es gibt einfach keinen aktuellen Präzedenzfall für die Evakuierung einer Stadt dieser Größenordnung.
Die Wahrscheinlichkeit eines Vesuv-Ausbruchs liegt nach Einschätzung der Wissenschaftler derzeit bei über 50 Prozent. Wann es zu einer Eruption kommen wird, lässt sich nicht eindeutig vorhersagen.
(NG, Heft 9 / 2007)