Die Geister der Seidenstraße
Auf den Spuren der Menschheit wandert Reporter Paul Salopek entlang der ältesten Handelsroute der Welt – wo heute wieder globale Interessen aufeinandertreffen.
Wasser. Sauberes, frisches, trinkbares Wasser. Seit mehr als drei Jahren habe ich Mühe, es zu finden. Ich durchquere die Welt zu Fuß, auf den verschwundenen Pfaden der ersten Menschen, die in der Steinzeit die Erde besiedelten. An der Startlinie meiner Wanderung, in Äthiopien, bin ich von Kameltränke zu schlammiger Salzsickerstelle gelaufen, in der arabischen Hedschas-Wüste von Oase zu Oase gezogen. Auf den winterlichen Gipfeln des Kaukasus hatte ich inmitten vieler Tonnen Wasser Durst – der lebenswichtige Saft war zu steinhartem Eis gefroren.
Aber dies ist mir noch nie passiert: Jemand hat meinen Nachschub geplündert. Einen flachen Graben, der 60 kostbare Liter Wasser enthielt. Mein Wasser. Ich kann den Blick nicht von den ausgeleerten Krügen abwenden, die sanft im glutheißen Wind schaukeln.
Dschinn haben mein Wasser in der Wüste Kysylkum gestohlen.
Dschinn? Vagabundierende Geister, die Steppennomaden zufolge in den unendlichen Weiten Zentralasiens herumspuken und Reisende heimsuchen oder ihnen helfen. In Cartoons der westlichen Popkultur meist als Turban tragende, in Lampen oder Flaschen eingeschlossene Dämonen dargestellt, können Dschinn, so die Hirten der Gegend, pro Nacht Hunderte von Kilometern fliegen. Sie können sich auch in Schlangen und Wölfe verwandeln, heißt es. Marco Polo berichtete, dass während seiner Durchquerung der Wüste Lop Nor im Nordwesten Chinas hinterlistige Dschinn ihr Unwesen getrieben hätten, indem sie Namen in die Karawanen riefen, „und so wird ein Reisender oftmals in die Irre geführt und findet nie zu seiner Gruppe zurück. Auf diese Weise sind viele zugrunde gegangen.“
Und wo ist die Kysylkum?
Sie erstreckt sich von Teilen Kasachstans bis nach Südusbekistan: eine berüchtigte Wüste, beinahe so groß wie Deutschland, die auf der Seidenstraße, der berühmtesten Handelsroute der Welt, jahrhundertelang die Reihen durchziehender Karawanen ausgedünnt hat. Noch heute ist die ungeheure Ödnis aus gleißendem Licht und dornigen Sträuchern ein gewaltiges Reisehindernis. Mich hat sie jedenfalls aufgehalten.
Meine Wanderung durch Zentralasien beginnt am kaspischen Hafen von Aqtau in Kasachstan. Begleitet werde ich von zwei nicht eben typischen Reiseführern. Daulet Begendikow, ein ehemaliger kasachischer Richter, feuert jeden Abend einen Schuss aus seiner Startpistole ab, um Steppenwölfe (und Dschinn) zu vertreiben. Talgat Omarow, ein Besitzer einer Halal-Fleischerei, ist so gottesfürchtig, dass er sich immer hinter unserem Packesel versteckt, wenn ich meine Kamera zücke. (Nach konservativer Deutung des Korans besteht ein Bilderverbot.)
Im Mai ist die kasachische Steppe ein fantastisches Gemälde: ein Chlorophyllband, das einen Lapislazuli-Himmel säumt. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang waten wir durch hüfthohes Gras wie durch hellgrünen Dunst. Mit gespreizten Fingern harken wir die glänzenden Saathalme. Und vom ersten Tag an stoßen wir immer wieder auf die neue Seide der Seidenstraße: Kohlenwasserstoffe.
Wir kommen in ein abgelegenes kasachisches Dorf: Eine einfallsreiche Frau namens Adiana Mairambajewa mixt Kumys – das Nomadenelixier aus vergorener Stutenmilch – in einer funkelnden chinesischen Waschmaschine. Wir passieren zahlreiche Tschaichanas: Die Teehäuschen stehen wie staubige Stiefel am Rand eines neuen Seidenstraßen-Verkehrswegs, der von Lastwagen aus der Türkei und dem Iran befahren wird. An einem Grenzkontrollpunkt wirft ein Mann mit Gewehr kaum einen Blick auf mein Visum und rührt meinen Rucksack nicht an, sondern grummelt nur drohend: „Haben Sie irgendwelche religiöse Literatur dabei? Einen Koran?“
Der Polizeistaat Usbekistan bildet eine Bastion gegen den Dschihadismus in Zentralasien.
Das Paradox des modernen islamischen Extremismus liegt darin, dass das historische Kalifat, das die Dschihadisten wieder errichten wollen, sie selbst höchstwahrscheinlich abweisen würde. Im Mittelalter, auf der Höhe ihrer Macht, erlebte die muslimische Welt gerade deshalb eine Blütezeit, weil sie nicht fundamentalistisch war – vielmehr tolerant, weltoffen und wissbegierig. Der freie, polyglotte Geist der Seidenstraße war der Schlüssel dazu. „Zentralasien war damals ein wichtiges Zentrum der Bildung und Gelehrsamkeit“, sagt Schachsuchmilsso Ismailow, Historiker am Museum der Choresmer Akademie Ma’mun in Usbekistan. „Wir haben viele Wissenschaftler von Weltrang hervorgebracht.“
Ich traf Ismailow, nachdem ich 24 Tage lang einer einsamen Bahnstrecke folgend über das menschenleere Ustjurt-Plateau nach Chiwa gelaufen war.
Chiwa.
Falls Fremden zu diesem Namen überhaupt etwas einfällt, dann sicher nicht Kosmopolitismus, Gelehrsamkeit oder Aufgeschlossenheit. Die Stadt ruft vielmehr Erinnerungen an den Niedergang der fabelhaften Seidenstraßenwelt wach, als die europäische Schifffahrt das Monopol der zentralasiatischen Händler brach und Oasen wie Chiwa zu exotischer Rückständigkeit verurteilte. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die von Lehmmauern umgebenen Siedlungen in die komplette Bedeutungslosigkeit zurückgefallen.
Busladungen von Touristen staunen heute über die Relikte von Chiwas Palästen, Medressen und Minaretten. Mit Sonnenbrand und aufgeplatzten Lippen sitze ich in einem Café. Die Cappuccino-Maschine zischt wie ein Dschinn. Während ich ihren Zaubertrank schlürfe, denke ich darüber nach, dass heute hinter der Leugnung des Klimawandels absichtsvolle Ignoranz steht. Dass die Fremdenfeindlichkeit im Westen wächst und der Populismus wiedererstarkt. Es ist lehrreich, die Seidenstraße entlangzuwandern.
Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 12/2017 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!
Weitere Teile von Paul Salopeks Wanderungen gibt es hier (2014), hier (2015) und hier (2016). Die Weltwanderung lässt sich auch auf der Website OutofEdenWalk.org sowie auf Twitter (@PaulSalopek) verfolgen.