Paul Salopek: Erst fliehen sie, dann suchen sie

Seine Wanderung auf den Spuren der Menschheit führt unseren Reporter Paul Salopek dorthin, wo Millionen Menschen durch einen apokalyptischen Krieg heimatlos geworden sind.

Von Paul Salopek
bilder von John Stanmeyer
Foto von John Stanmeyer

Was passiert, wenn du zum Flüchtling wirst? Du läufst.

Klar: um mit dem Leben davonzukommen – zum Beispiel wenn Bewaffnete dein Dorf angreifen –, wirst du mit dem erstbesten Transportmittel fliehen. Mit dem Familienauto. Mit dem Obstlaster deines Nachbarn. Im Anhänger eines Traktors. Aber dann irgendwann: eine Grenze. Von nun an musst du laufen. Warum? Weil Männer in Uniform deine Papiere sehen wollen. Was, keine Papiere? (Hast du sie zu Hause gelassen? Hast du stattdessen in jenem letzten panischen Moment der Flucht die Hand deines Kindes ergriffen?) Es ist gleichgültig. Steigt aus! Stellt euch da drüben hin! Wartet! Jetzt, Papiere oder keine Papiere, beginnt das Leben als Flüchtling wirklich: zu Fuß, in der Haltung des Ohnmächtigen.

Ende September strömten in der Nähe des Grenzübergangs Mürşitpınar in der Türkei Zehntausende syrischer Flüchtlinge über die brachliegenden Paprikafelder. Es waren Kurden. Sie flohen vor den Kugeln und Klingen des Islamischen Staats. Viele kamen in Autos und wirbelten Wolken feinen, weißen Staubs auf den Feldern auf, die zu den ältesten bestellten Äckern der Welt gehören. Die Türken wollten diese bunt zusammengewürfelte Karawane nicht durchlassen. So entstand an der Grenze ein Parkplatz voller verwaister Fahrzeuge. Eines Tages kamen schwarz gekleidete islamistische Krieger und stahlen die Autos. Die türkischen Soldaten schauten zu. Es war ihnen egal.

So fängt es an. Du machst einen Schritt. Du verlässt ein Leben und trittst in ein neues ein. Du gehst durch einen zerschnittenen Grenzzaun und wirst staatenlos, verwundbar, abhängig, unsichtbar. Du wirst zum Flüchtling.

„Zweimal wurde die Stadt niedergebrannt“, sagte Atilla Engin, als wir auf dem Oylum Höyük standen, einem kahlen, von Menschen aufgeschütteten Hügel im Südosten der Türkei. „Wir wissen nicht, wer sie anzündete und warum. Es gab damals viele Kriege.“ Engin ist ein türkischer Archäologe von der Universität Cumhuriyet. Er blickte in eine Grube, die gerade unter Anleitung seiner Studenten auf dem Gipfel des Hügels von Dorfbewohnern ausgehoben wurde. Das Loch war zehn Meter tief, der Grabhügel einer der größten der Türkei: 37 Meter hoch und 460 Meter lang, eine schiefe Schichttorte der Zeit.

Der früheste Beleg der Besiedelung stammt von vor ungefähr 9000 Jahren, aus dem Neolithikum. Doch darüber – aufgebaut, verlassen und längst vergessen – liegt der Schutt von mindestens neun Menschenzeitaltern. Steinmetz­ arbeiten aus der Kupferzeit. Keilschrifttafeln aus der Bronzezeit. Hellenistische Münzen. Römisches und byzantinisches Mauerwerk.

Viele Imperien sind auf dem oft umkämpften Kernland Kleinasiens erblüht und untergegangen. Engin konzentrierte sich auf eine Siedlung aus der Bronzezeit, wahrscheinlich ein mächtiger Stadtstaat namens Ullis, der in alten hethitischen Aufzeichnungen und Papyrusrollen der Eisenzeit erwähnt wird. Um zu dieser verlorenen Stadt vorzudringen, hatte sein Team sich durch Schichten gegraben, die wie Kardiogramme des Umsturzes wirkten – immer aufs Neue aufgewühlte Horizonte aus Erde, Asche und Geröll, 9000 Jahre lang Systole und Diastole, Aufbau und Zerstörung.

„Die Dinge ändern sich nicht“, sagte Engin mit dem müden Lächeln eines Mannes, der in Jahrtausenden dachte. „Außenstehende Mächte kämpfen noch immer um diese Gegend – die mesopotamische Ebene. Hier treffen sich Afrika , Asien und Europa . Es ist das Zentrum des Nahen Ostens. Ein Tor zur Welt.“

Von einer Leiter aus, die er dazu benutzte, seine Grabung zu fotografieren, konnte Engin fast das Flüchtlingslager bei Kilis sehen, einer nahe gelegenen türkischen Stadt an der syrischen Grenze. Seit bereits zweieinhalb Jahren schmoren dort im Auffangbecken etwa 14.000 Menschen, die vor Syriens apokalyptischem Bürgerkrieg geflohen sind. Weitere 90.000 Syrer sind direkt in die marode Stadt hineingedrängt, haben deren ursprüngliche Einwohnerzahl verdoppelt und die Mieten in die Höhe getrieben. (In der Woche zuvor hatte ein antisyrischer Mob Flüchtlinge angegriffen und ihre Autos zertrümmert.)

In der Türkei leben etwa 1,6 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge. Weitere acht Millionen oder mehr sind an andere Orte innerhalb Syriens gezogen oder schlagen sich mehr schlecht als recht im Libanon und in Jordanien durch. Die blutige Spur des Krieges reicht natürlich auch bis in den benachbarten Irak, wo die Fanatiker des Islamischen Staats weitere zwei Millionen Menschen entwurzelt haben. Insgesamt sind im Nahen Osten zurzeit etwa zwölf Millionen heimatlos. Die politischen Konsequenzen in der Region sind unermesslich und werden lange anhalten.

„Es geht hier nicht mehr nur um die Türkei oder um Syrien“, sagte mir Selin Ünal, eine Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, im Lager Kilis. „Dies ist ein Problem, das die gesamte Welt betreffen wird. Hier geschieht etwas Historisches.“

Meine Wanderung über den Oylum Höyük war Teil meines „Out of Eden Walk“ , eines siebenjährigen Fußmarschs, auf dem ich die erste Migrationsbewegung des Menschen nachverfolge, beginnend in Afrika bis zum äußersten Landzipfel, den unsere Gattung erreicht hat: die Südspitze Südamerikas. Auf meinem Weg durch den Nahen Osten war ich verzweifelten Männern und Frauen begegnet, die vom syrischen Krieg mit seinen vielen Parteien wie Treibgut überallhin gespült worden waren. Sie pflückten in Jordanien für elf Dollar am Tag Tomaten. Sie bettelten an Straßenecken in der Türkei um Taschengeld. Einige entdeckte ich unter Plastikplanen kauernd in der anatolischen Steppe, nachdem sie vor dem Zorn nationalistischer Mobs aus den Städten geflohen waren.

Der Oylum Höyük erhebt sich im Herzen des Fruchtbaren Halbmonds, jener gemäßigten levantinischen Klimazone, wo die Moderne geboren wurde. In dieser Gegend ließ sich die Menschheit erstmalig nieder, gründete Städte, erfand die Idee einer festen Heimat. Und doch war ich monatelang durch ein weites Panorama der Massenheimatlosigkeit geirrt.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass bereits Ende 2013 weltweit mehr als 51 Millionen Menschen durch Krieg, Gewalt und Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, mehr als die Hälfte davon Frauen und Kinder. Unter den syrischen Flüchtlingen in der Türkei bewegt sich der Anteil der Frauen und Kinder auf 75 Prozent zu. Die Männer bleiben zurück, um zu kämpfen oder ihr Eigentum zu verteidigen. Die Frauen und Kinder werden zu bettelarmen Nomaden. Nur selten folgen Journalisten dem Schicksal dieser Frauen in städtische Slums, überfüllte Lager, Plastikunterstände auf Melonenfeldern, in Bordelle. Ihre Nöte sind nicht telegen.

Syriens Frauen erleiden ihre Kriege allein, schweigend, in der Fremde.

„Das ist ein gewaltiges verstecktes Problem“, sagte Elif Gündüzyeli, eine Mitarbeiterin der türkischen Hilfsorganisation Support To Life (Hayata Destek). „Dass diese Frauen so ungeschützt und verwundbar sind, verwandelt die Gesellschaft.“

In der säkularen Türkei kann man beobachten, wie unbegleitete syrische Frauen verbotene islamische Traditionen wie die Polygamie wiederbeleben. In Jordanien verheiraten Flüchtlingsfamilien ihre Töchter mit 13 Jahren, in der Hoffnung, sie so von der Straße, aus den Lagern und der Armut herauszubringen.

„Niemand beschützt einen“, sagte Mona (Name geändert), eine junge Syrerin, die in der türkischen Stadt Şanlıurfa gestrandet war. „Man wird ständig belästigt. Drei Männer haben versucht, mich in ein Auto zu zerren. Sie packten mich am Arm. Ich habe geschrien. Die Leute auf dem Bürgersteig haben nichts gemacht.“

Viermal – nein, fünfmal, sagte mir eine andere syrische Kurdin, habe sie in der Woche zuvor einen Heiratsantrag bekommen. „Ich zweimal“, fügte ihre Schwester hinzu. „Und ich dreimal“, sagte eine dritte Schwester. Die Frauen saßen im Schneidersitz in einem Raum, der nur mit einem Löwenzahn geschmückt war, den sie in eine Cola-Flasche gesteckt hatten. Eine vierte Verwandte saß noch dabei. Sie hatte keinen Antrag bekommen – es war die senile Großmutter. Die alte Frau wirkte traumversunken. Sie schien nicht zu begreifen, was sie verloren hatte. Sie war in Aleppo geboren worden, als Syrien noch französisches Mandatsgebiet war. Ihre Enkelinnen hofften darum auf Asyl in Frankreich.

„Die Völkervertreibung hat in dieser Gegend eine lange und traurige Geschichte“, sagte Jason Ur. Der Archäologe aus Harvard erforscht die Siedlungsstrukturen im alten Assyrien. Zumindest in den vergangenen 3000 Jahren seien dort immer wieder Völker entwurzelt worden. Flachreliefschnitzereien aus Mesopotamien zeigen Armeen der Eisenzeit, die ganze Bevölkerungsgruppen vor sich her treiben. Die Menschen in diesen uralten Szenen sind Gefangene. Sie sind angeschirrt, tragen Ketten. Ganze Ortschaften wurden dereinst mit Gewalt umgesiedelt, um die Bewohner als landwirtschaftliche Arbeitskräfte für eines der ersten Imperien der Welt einzusetzen.

Saddam Hussein, der „Schlächter von Bagdad“, hat im Norden Iraks weitgehend das Gleiche getan: Er ersetzte „renitente“ Kurden durch gehorsame arabische Bauern. Ein Jahrhundert zuvor hatten die Türken etwa 1,5 Millionen Menschen getötet, um sich „illoyaler“ Armenier zu entledigen und deren Land türkischen Nachbarn zu geben. Ethnische Säuberung, rücksichtslose soziale Manipulation – das sind keine neuen Konzepte. Sie entstanden mit der Idee des Stadtstaats.

Inschriften aus einem Tempel südlich des heutigen Mossul (Irak), errichtet vom neuassyrischen König Aššur-nâsir-apli II., der von 883 bis 859 v. Chr. in Nimrud regierte: „Ich habe viele Soldaten lebendig gefangen: manchmal hackte ich ihnen Arme [und] Beine ab; anderen hackte ich Nase, Ohren, Gliedmaßen ab. Vielen Soldaten höhlte ich die Augen aus. Auf einen Haufen kamen die Lebenden [und] auf einen die Köpfe. Ich hängte ihre Köpfe überall in der Stadt an Bäume.“ Und: „Ich reinigte meine Waffen im Großen Meer und brachte den Göttern Opfer dar.“ Diese primitive Prahlerei klingt heute so aktuell wie ein YouTube-Video des Islamischen Staats.

Anatolien – die ausgedehnte asiatische Halbinsel der Osttürkei. Ein kontinentaler Scheideweg. Die ewige Grenze der Imperien. Ein Flecken auf der Landkarte, der immer wieder neu beschriftet wurde.

Ich lief auf den staubigen Wegen an den zerbrochenen Fundamenten assyrischer Städte vorbei. Ich sah Giebel griechischer Säulen, von wilden Gärten verschluckt. Ich kam an ehemals armenischen Kirchen vorbei, die zu Moscheen umgewandelt worden waren. Ich wanderte über breite, von endlosen Prozessionen römischer Füße glatt polierte Steinstraßen.

Im antiken Harran, einst ein Zentrum der Gelehrsamkeit unter Römern, Byzantinern und Arabern kaum 20 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, hatten Tausende muslimischer Wissenschaftler mit Physik und Technik experimentiert. Auf einem leeren Platz stand ein Minarett – das einzige Überbleibsel der Stadt, die von den Mongolen dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Und ich kam an den weißen Zelten der Syrer vorbei. Sie waren überall. Ihre traurige Gegenwart in der antiken Landschaft schien das Zeichen eines tektonischen Wandels zu sein, ein unergründbares Omen. Geschichte auf Schritt und Tritt. Die Zelte der Flüchtlinge leuchteten gelb in der Nacht, ein neues Sternbild.

„Alle dachten, dies wäre vorübergehend“, sagte mir Mustafa Bayram, ein türkischer Bäcker in Kilis.

Er wollte gastfreundlich sein, die Türkei hatte Milliarden Dollar für die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen ausgegeben, aber es kamen immer mehr Syrer. Sie ruinierten Bayrams Geschäft. Sie arbeiteten für Sklavenlohn. Sie eröffneten illegale Läden, unterboten ihn. „Ich denke“, sagte er verbittert, „wir sollten sie alle einsammeln. Wir sollten sie in ein riesengroßes Lager stecken.“

Der Krieg in Syrien brodelte und brodelte. Der Archäologe Engin verlor langsam seine Arbeiter. Tag für Tag tauchten einige von ihnen nicht mehr auf. Sie stahlen sich von seiner Ausgrabungsstätte auf dem Oylum Höyük davon und flohen über die Grenze. Vielleicht schlossen sie sich dem Dschihad an.

Ich wanderte den ganzen Herbst über weiter. Die Temperaturen fielen. Immer mal wieder stieg ich über Ameisenstraßen, aufgeregt krabbelten die Insekten durch sprödes gelbes Gras. Sie glänzten schwarz, wie geölt, und verschwanden in ihren Höhlen. Sie schleppten enorme Mengen Samen. Es wirkte wie eine Botschaft, dass sie so große Vorräte anlegten. Nach dem Arabischen Frühling drohte dem Nahen Osten ein harter Winter.

(NG, Heft 3 / 2015, Seite(n) 60 bis 77)

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