Boliviens futuristische neue Architektur
Die farbenfrohen Designs von Freddy Mamani sind ein Symbol der Selbstentfaltung und erobern nicht nur El Alto.
Die Luft ist dünn in El Alto, dem ausgedehnten, staubigen Ballungsraum auf einer Klippe fast 4.000 Meter über dem Meeresspiegel, in dem etwa eine Million Menschen leben. Das ist allerdings nicht der einzige Grund, weshalb Besuchern in der maroden Stadt – die einen Blick auf Boliviens inoffizielle Hauptstadt La Paz bietet – die Luft wegbleibt.
Prächtige Gebäude aus gefärbtem Glas, glänzendem Chrom und farbenfrohen Acrylpaneelen erheben sich über die heruntergekommenen Backsteinbauten. Ein wenig erinnern sie an eine Mischung aus alpinen Chalets und Transformers. Diese besonderen Häuser werden zumeist von Boliviens schnell wachsender indigener Mittelschicht der Aymara und Quechua in Auftrag gegeben, die sie für Hochzeiten, quinceañeras und alle möglichen Feierlichkeiten nutzen. Der Name dieser außergewöhnlichen Häuser leitet sich aus der in Bolivien gebräuchlichen Bezeichnung für die indigenen Einwohner – cholo – ab und ergibt in Kombination mit den alpinen Chalets: Cholets.
Aber der lokale Architekt Freddy Mamani – der gefragteste Interpret des Stils – bevorzugt die Bezeichnung la nueva arquitectura andina – die Neoandine Architektur. Denn, so erklärt er, seine Gebäude seien nicht weniger als ein überschwänglicher Akt der Selbstentfaltung von Boliviens indigener Mehrheit, die lange Zeit ausgegrenzt wurde.
“Für mich ist es sehr wichtig, unsere Kultur und unsere Wurzeln zu fördern und unsere Identität durch die Architektur zu zeigen und zu erhalten“, sagt Mamani, während er die Arbeiter an der Baustelle seines neusten Werkes beaufsichtigt.
“Wir machen Architektur, die eine andere Art der Funktionalität hat. Sogar die Farbe spielt eine andere Rolle, sie knüpft an die Ruinen von [der archäologischen Stätte] Tiahuanaco an. Und ich verwende die Farben der awayos, in denen unsere Mütter uns als Kinder tragen“, erklärt er und bezieht sich auf die bunten Schals der indigenen Frauen.
Die Arbeit von Mamani und seinen Zeitgenossen sei ein unerschrockener Aufbruch, erklärt Gastón Gallardo, der Dekan der Architekturschule der Higher University of San Andrés in La Paz. Indem sie die minimalistischen und barocken Stile ablehnt, die von Architekten bevorzugt werden, welche in der westlichen Tradition ausgebildet wurden, kennzeichnet die Neoandine Architektur eine „Dekolonisierung der symbolischen Ordnung“.
Der Stil ist aber weder rein theoretisch noch rein rückwärtsgerichtet. „Wir sehen Modifikationen, die nichts mit dem Angestammten zu tun haben, sondern eher mit der neuen Konstruktion der Identität“, so Gallardo.
Indem sie asiatische, andine und Hollywood-Einflüsse miteinander kombinieren, zeigen die aufsteigenden Bürger von El Alto – die durch Bergbau, internationalen Handel, Geschäfte und die Industrie reich wurden – ihre globalen Ambitionen. „Das Bauen ist die physische Demonstration ihrer Wirtschaftskraft”, erklärt Gallardo.
Alejandro Chino Quispe ist dafür ein Paradebeispiel. Der Selfmade-Unternehmer, der in jungen Jahren von einer ländlichen Stadt in den Anden nach El Alto zog, schaltet das Licht in seinem Salon de Eventos Princípe Alexander an – einem von Mamanis Glanzstücken.
Vierzig schwere Kronleuchter – aus China importiert – funkeln im violetten, grünen und türkisfarbenen Licht der Tanzfläche aus weißem spanischen Marmor. Die Wände und Säulen sind von limettengrünen und orangefarbenen Wirbeln durchzogen. Die Decke ist großzügig mit LEDs ausgestattet, ein undulierender Balkon ist mit folkloristischen Motiven der Anden verziert.
“Um ehrlich zu sein, hat dieser Veranstaltungsort keine Konkurrenz“, sagt Chino und lächelt, sodass der goldene Aufsatz seiner Vorderzähne blitzt.
Die schrille, berauschende Mischung aus Alt und Neu, aus Tradition und Moderne scheint einzigartig bolivianisch zu sein. Aber wohin auch immer wohlhabende Bolivianer gehen, wachsen auch Inkarnationen der Neoandinen Architektur aus dem Boden – Lima, Buenos Aires und São Paulo sind nur einige Beispiele.
“Wir haben nicht nur im ganzen Land Projekte, sondern auch im Ausland“, sagt Mamani. „Ich arbeite gerade an einem Projekt für eine Ausstellung, die dieses Jahr in Paris stattfindet.“ In Kürze, so prophezeit er, werden die futuristischen Türme auch in New York, Miami und Kalifornien entstehen. Der Architekt gewordene Handwerker hat es – ebenso wie Bolivien – weit gebracht.
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