Der Klang der Ghaita

Eine Reise durch die musikalische Kultur Marokkos – zu Meistern traditioneller Klänge, skurrilen Tänzern und hippen DJs.

Von Mickey Rapkin
Veröffentlicht am 20. Dez. 2019, 16:03 MEZ
Die Kasbah Taourirt bei Ouarzazate
Die Kasbah Taourirt bei Ouarzazate mit dem Atlasgebirge dahinter ist großes Kino. Kein Wunder, dass hier, vier Stunden von Marrakesch entfernt, immer wieder Filme gedreht werden.
Foto von Colour Box

Auf der Bühne zieht ein älterer Mann im Ziegenkostüm die Blicke auf sich. Er ist einer der Master Musicians of Joujouka und strahlt die Energie eines Jünglings aus. Es ist Ende März, und ich bin nach Marokko gekommen, um eines der seltenen Konzerte dieser Gruppe traditioneller Sufi-Trance-Musiker zu erleben. Sie stammen alle aus einem abgelegenen Winkel südlich des Rif-Gebirges und begeistern Menschen weltweit. Ende der 1960er-Jahre hatten sie Brian Jones von den Rolling Stones in ihrem Dorf aufgenommen; er machte sie erstmals bekannt. Der Hippie-Guru Tim Leary nannte sie eine „4000 Jahre alte Rockband“. Und auch Billy Corgan von den Smashing Pumpkins verbrachte eine Weile bei ihnen, um zu lernen.

Die alte Musik der Master Musicians of Joujouka ist nicht nur mitreißend. Sie entfalte auch heilende Kräfte, heißt es. Der Mann, der das bewirken soll, ist Bou Jeloud und gerade in die Haut der Ziege gehüllt. Der Überlieferung nach werden Frauen schwanger, wenn Jeloud sie bei der Aufführung mit einem der Stäbe berührt, die er stets bei sich trägt.

Eine Woche lang will ich durch Marokko reisen und die Musik des Landes kennenlernen, die so vielfältig ist wie seine Landschaften. Hier schlagen Musiker auf Berbertrommeln schnelle Rhythmen, und in den Klängen der Ud, einer Art Laute, zeigen sich arabische Einflüsse. Die Gnawa-Musik geht auf die Zeit des Sklavenhandels zurück, als in Mogador, dem heutigen Essaouira, die Gefangenen aus Westafrika von Bord der Segelschiffe gebracht wurden. Marokkos Musik ist auch der Soundtrack seiner langen Geschichte.

Ich muss zugeben, dass die Idee für diese Reise nicht allein von mir kam. Paul Bowles hatte sie zuerst. Ende der Fünfzigerjahre zog der Autor des Romans „Himmel über der Wüste“ vier Monate lang mit schwerem Aufnahmegerät 1800 Kilometer weit durch das Land und zeichnete die Musik und andere Klänge auf: folkloristische Mitsingkonzerte, Schwerttänze, Perkussion auf Trommeln aus Ziegenhaut, einen Gebetsaufruf in Tanger. Bowles wollte die Musik festhalten, bevor sie von ausländischen Einflüssen verwässert würde, so seine Sorge.

Schon bald nach meiner Ankunft in Marrakesch wird mir klar, warum Bowles von den Klängen Marokkos so begeistert war. Auf dem Hauptplatz Djemaa el Fna spielen Musiker auf sonderbaren Instrumenten und beschwören Männer mit Gesängen ihre Schlangen. Das Knattern der Motorroller in den engen Straßen erinnert mich an einen Trommelwirbel. Und dazwischen ertönt fünfmal am Tag der islamische Gebetsruf.

Die Altstadt von Marrakesch ist ein Gewirr von Gassen; es dauert Tage, bis man sich hier zurechtfindet. Ich treffe Mohammed Sudani, einen Gnawa-Meister, der eigentlich als Hausmeister in einem Hammam arbeitet, auf einen Tee. Er sitzt auf einem Teppich in einem höhlenartigen Raum, spielt auf einer Laute, und singt in der Sprache der Berber. Die Quaste an seinem Fez wirbelt über seinem Kopf wie ein Deckenventilator.

Die Gnawa sind eine ethnische Minderheit, Nachfahren von Sklaven aus Westafrika. Ihre rhythmische Musik spielt eine zentrale Rolle beim traditionellen Lila-Ritual, bei dem böse Geister vertrieben, andere angerufen werden. „Unsere Musik ist durch und durch spirituell“, sagt Sudani. Jeden Sommer kann man sie vier Tage lang auf einem Festival in Essaouira am Atlantik hören und sich dabei das Rasseln der Ketten vorstellen, an denen Aufseher die Sklaven an Land führten.

Mein Begleiter und Dolmetscher erklärt mir das Lila-Ritual der Gnawa, das die schlechten Dschinn vertreiben soll. Eine der Gnawa-Musikerinnen, Khadija El Warzazia, wird später Ähnliches sagen und mir erzählen, wie sie bei einem Fest, das mit einem Ziegenopfer begann, einen Mann von seiner Krankheit geheilt hat. Seither gehört seine Potenzschwäche der Vergangenheit an.

Marrakesch ist eine anstrengende Stadt, der Lärm und der Trubel manchmal schwer zu ertragen. Ein paar Tage nach meiner Ankunft brauche ich eine Pause, zudem will ich tiefer in die Musiktraditionen des Landes eintauchen. Und so reise ich in ein kleines Berberdorf im Hohen Atlas.

Diese Reportage stammt aus dem National Geographic-Traveler 4/2019. Dort finden Sie Tipps für 59 weitere kleine und große Reisen in 2020!

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