Kanton Waadt: ein Treffpunkt für Genießer

Zwischen Genfer See und den Alpen: In dem Schweizer Kanton treffen kulinarische Traditionen auf innovative Winzer, Köche und Käsehersteller. Sie alle verbindet die tiefe Wertschätzung für ihre Produkte

Von National Geographic Traveler
Veröffentlicht am 18. Aug. 2022, 12:19 MESZ
Lavaux, Schweiz

Zwischen Genfer See und den Alpen: In dem Schweizer Kanton treffen kulinarische Traditionen auf innovative Winzer, Köche und Käsehersteller. Sie alle verbindet die tiefe Wertschätzung für ihre Produkte

Foto von ChiemSeherin / Pixabay.com

Es ist Sonntag, sieben Uhr morgens, und der Weckruf des Schweizer Landwirts Colin Rayroud war nicht gerade sanft. In der Dämmerung bin ich von meinem Liegeplatz im Heuschober hinabgestiegen, um die Kuh zu melken. Jetzt leere ich die Eimer in einen dampfenden Trog in einer schwach beleuchteten, holzvertäfelten Küche und fühle mich, als wäre ich in einer mittelalterlichen Sauna gelandet – einer mit extremem Milchgeruch. Durch den Dampf bewundere ich den hellen, glänzenden 640-Liter-Topf aus Kupfer, der über dem offenen Holzfeuer hängt und in dem die Milch hin- und herschwappt. „Der ist mindestens 40 Jahre alt“, sagt Colin. „Mein Vater und mein Großvater haben ihn benutzt. Ich habe alles, was ich über L’Etivaz-Käse weiß, von ihnen gelernt.“

Nussiger Käse der örtlichen Genossenschaft

Seit 2005 stellt mein Gastgeber diesen Hartkäse hier in der Gemeinde Rougemont im Kanton Waadt her. Die Saison ist kurz: Sie dauert so lange, wie die Kühe auf den alpinen Sommerweiden grasen. Colin begann seine Karriere als Schreiner, bereiste die Welt und verbrachte Zeit in Orten wie Quebec, New York und Lancaster County, Pennsylvania, wo die älteste und größte Amisch-Gemeinschaft der USA zu Hause ist. Inspiriert durch die traditionelle Landwirtschaft, der er auf seinen Reisen begegnet war, kehrte er zurück nach Waadt und widmete sich dem Käse.

Er ist einer von nur etwa 70 Erzeugern von L’Etivaz, der strengen Produktregulierungen unterliegt. Um die Einstufung als Appellation d’Origine Protég (AOP) zu erhalten, eine geschützte Herkunftsbezeichnung, muss der Käse zwischen Mai und Oktober produziert werden. Er schmeckt nussig, vergleichbar mit Gruyère, und wird aus unpasteurisierter Milch gewonnen, die über einem Holzfeuer erhitzt wird. Nach der Produktion lagert und verkauft ihn die örtliche Genossenschaft, die es seit 1935 gibt.

Colin und seine Assistentin Alessandra Lapadula sind gerade in der Phase der intensiven Produktion. Dabei wechseln sie zwischen Colins beiden Berghütten, damit die Kühe immer frische Weiden zum Grasen haben, und folgen einem strikten Tagesablauf: melken, Käse erzeugen, Kühe auf die Weide bringen und abends wieder zurücktreiben. Während die Milch abkühlt, fügen wir Lab und Molke vom Vortag hinzu, und das Gemisch beginnt langsam, sich zu trennen – couscousgroße Körner von geronnener Milch bilden sich. Colin gibt mir eine Handvoll der gummiartigen Stückchen zum Probieren. Sie drücken sich mit einem Schmatzgeräusch gegen meine Zähne, ohne jegliches Anzeichen des Geschmacks des jahrealten Endprodukts.

Als der Tag sich dem Ende neigt, stärken wir uns mit Raclette, das wir auf einem Stein beim Feuer erhitzen, dazu gibt es eingelegte Pfifferlinge, die Colin gesammelt hat. Nach dem Essen greift er zu seinem Akkordeon und beginnt zu spielen. Dabei klopft er mit neongelben Crocs auf den Betonboden. Ich frage, womit er sich hier oben am Berg die Zeit vertreibt. „Wenn ich aufwache, brauche ich keinen Fernseher anzuschalten“, scherzt er. „Ich mache einfach das Fenster auf und sehe mir die Aussicht an.“ Und tatsächlich gibt es reichlich umwerfende Ausblicke hier in Waadt, dem bergigen Kanton nördlich und östlich des Genfer Sees.

Doch die kulinarische Kultur stellt einen würdigen Konkurrenten in Sachen Aufmerksamkeit dar. Waadt ist reich an feinschmeckerischen Traditionen, von denen sich viele auf die Zeit zurückführen lassen, bevor die Römer durch diese Gegenden streiften. Der Kanton hat mehr Restaurants, die in den Michelin- und Gault-Millau-Führern für die Schweiz erwähnt werden, als alle anderen im Lande. Unter den allerbesten sind das mit drei Sternen ausgezeichnete Restaurant de l’Hotel de Ville in Crissier und das ZweiSterne-Restaurant Anne-Sophie Pic im BeauRivage Palace Hotel in Lausanne.

Blick von einem Weingut bei Bougy-Villars auf den Genfer See.

Foto von csr_ch / Pixabay.com

Weinanbau in der Tradition der Römer und Mönche

Hier sind außerdem die Lavaux-Weinberge zu finden, ein Unesco-Welterbe, das einige der besten Weine des Landes produziert. Um diese zu probieren, besuche ich das Abbaye de Salaz, ein Weingut in dritter Generation, das zwischen Ollon und Bex im Alpenvorland liegt. Hier führt mich Bernard Huber durch Reihen von Weinstöcken am Hang, aus deren Früchten er ein schwindelerregendes Sortiment an Weinen macht. „Die hervorragende Lage erlaubt es uns, mit verschiedenen Rebsorten zu experimentieren“, erklärt er und erzählt, dass das Abbaye im Jahr 20000 Flaschen herstellt, darunter Pinot Noir, Chardonnay, Pinot Gris, Merlot sowie die beliebteste Sorte der Region, Chasselas.

Die Reben wurzeln in einem Untergrund, der sich vor ca. 50 Millionen Jahren bildete, als die tektonischen Platten von Europa und Afrika kollidierten. Dadurch entstanden die Alpen, und eine Vielfalt an sandigen Erdsorten voll mit Steinen verblieb in den Tälern. Die Römer waren die Ersten, die am See die nativen Chasselas-Weinreben anbauten – ein Verfahren, das von den Bischöfen und Mönchen im fünften Jahrhundert übernommen wurde. Heute bedecken 515 Quadratkilometer von stufenförmig angelegten Weinbergen das Nordufer des Genfer Sees.

Eine ganz besondere Traube in Bernard Hubers Repertoire ist Divico, ein insektenbeständiges Hybrid aus Gamaret und Bronner Trauben. Es wurde 1996 in der Schweiz entwickelt und ermöglicht es den Produzenten, biologisch zu arbeiten. „Wir haben kein Biozertifikat, aber wir halten uns an die meisten der Regeln“, sagt er. Ich denke an das, was Alessandra heute morgen beim Melken zu mir gesagt hat. Sie arbeitet saisonabhängig, um L’Etivaz herzustellen, und macht dafür eine Pause von ihrem Beruf im Personalwesen, um „etwas Sinnvolles“ zu tun. Dieses Gefühl von Bedeutung und der Respekt, den die Menschen den Zutaten entgegenbringen, ist ein roter Faden, der sich tief durch Waadt zieht – ob beim Weinbau oder in der dampfigen Küche einer Berghütte.

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