Mustang: Das geheimnisvolle Königreich im Himalaya öffnet seine Tore

Im Norden Nepals liegt das inoffizielle buddhistische Königreich Mustang. Seine einstige Isolation bricht immer mehr auf. Kann es seine Traditionen bewahren?

Von Mark Synnott
Veröffentlicht am 17. Jan. 2023, 13:25 MEZ
Schrein im Königreich Mustang: Eine neue Straße bringt die Außenwelt in das ehemalige Königreich Mustang.

Im kargen Hochgebirge im Norden Nepals erinnert ein buddhistischer Schrein Reisende an den Sieg des Guten über das Böse. Eine neue Straße bringt die Außenwelt in das ehemalige Königreich Mustang.

Foto von Cory Richards

„Der König von Mustang wird sie jetzt empfangen.“ In abgetragenen Jeans und grüner Fleecejacke steht der König in der Mitte eines niedrigen Raums in seinem jahrhundertealten Palast. Er rezitiert buddhistische Gebetsformeln und lässt dabei eine Gebetskette durch die Finger gleiten. Um ihn herum sind die Wände und Holzsäulen, die das durchhängende Dach stützten, mit feinsten Darstellungen buddhistischer Wesenheiten geschmückt. Einige von ihnen lehnen sich glückselig zurück, in goldene Gewänder gekleidet. Andere heulen wütend, mit Schwertern bewaffnet, von Flammen umgeben.

Es ist Mitte Oktober, und der zugige Palast mit seinen kalten Lehmwänden, versteckt in diesen unwirtlichen Gebirgsausläufern am Rande des nördlichen Himalaya, lässt den herannahenden Winter erahnen. Ein Fenster öffnet den Blick über die 600 Jahre alte ummauerte Stadt Lo Manthang, historische Hauptstadt der legendären nepalesischen Region Mustang, nur 15 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Unter dem Palast erstrecken sich enge Reihen von weiß getünchten Häusern. Rauchwölkchen steigen aus Dächern auf, und Himalaya-Pappeln mit ihren goldenen Blättern schimmern in der Nachmittagsbrise.

Audienz im Palast des Königs

Im Südosten breitet sich wie ein Fächer ein Geflecht von Nebenarmen des Flusses Kali Gandaki aus. Sie fließen auf eine grandiose Wand schneebedeckter Gipfel zu. Dieser Anblick war Ausländern wie mir früher verwehrt. Weite Teile des 20. Jahrhunderts über kontrollierte die nepalesische Regierung den Zugang zu Mustang streng. Doch jetzt begleitet mich der König zu seinem Palast, um mir eine der zahlreichen Herausforderungen zu zeigen, vor denen sein Reich heute steht. Der volle Name des Königs lautet Jigme Singhi Palbar Bista; er stellt sich mir schlicht als Jigme vor. Der schlanke Mann mit schütterem grauem Haar besitzt eine Energie, die über seine sechs Jahrzehnte hinwegtäuscht. Er führt mich auf einem schummrigen Hindernisparcours durch den Palast, den seine Familie verlassen hat, nachdem ein Erdbeben ihn 2015 schwer beschädigt hatte.

Wir steigen alte Holztreppen hinauf, weichen Luken im Fußboden aus und kommen an bröckelnden, mit Malereien geschmückten Wänden vorbei. Trotz der Schäden ist der Raum, in den wir gelangen, außerordentlich gut erhalten. Ein Porträt zeigt ein Paar in traditioneller tibetischer Kleidung. „Meine Eltern“, sagt Jigme. „Das hier war der Gebetsraum meines Vaters. Er war der letzte König von Mustang, der 25. unserer Dynastie. Ich bin der 26.“ Im Raum steht ein mit Blattgold überzogener deckenhoher Schrank aus Sandelholz. Darin finden sich nebeneinander angeordnete Bronzefiguren buddhistischer Wesenheiten, die durch die Glastüren starren.

Votivlampen, in denen Yakbutter brennt, erfüllen den Raum mit dem ranzigen Geruch, der überall im Himalaya die buddhistischen Tempel durchzieht. Jigme erklärt, die Figuren seien mehr als nur Kunstwerke – sie seien lebendige Geister, die seit uralten Zeiten über seine Familie wachen. Bevor eine Statue auf den Altar gestellt werde, führe ein Hohepriester ein Ritual durch, um sie mit der Erleuchtung von Körper, Sprache und Geist zu beleben. In einer säkularen Welt könnte ein Antiquitätenhändler diese kleine Sammlung auf dem Schwarzmarkt für ein Vermögen verkaufen. Jahrhundertelang war die Vorstellung, jemand könnte sie stehlen, in dieser isolierten, zutiefst buddhistischen Stadt kaum denkbar. Doch die Außenwelt ist an der Schwelle von Mustang angekommen, und Kunstraub ist nur ein neues Thema, das dem König Sorge bereitet.

In Thubchen Lhakhang, einem Tempel in der sagenumwobenen historischen Hauptstadt Lo Manthang, rezitieren Mönche ihre Morgengebete.

Foto von Cory Richards

Fernstraßen ins Reich des Kommerzes

Während Jigme und ich gemeinsam diesen Moment der Ruhe in seinem Gebetsraum verbringen, ist entfernt das schwache Rumpeln von Erdbaumaschinen zu hören, die die von Süden in die Stadt führende Straße ausbessern. Für die etwa 450 Kilometer lange Reise in Nepals Hauptstadt Kathmandu brauchte man früher Wochen zu Fuß, Pferd oder Yak. Heute sind es mit dem Auto und guten Nerven nur drei Tage. Die Fahrzeuge nehmen eine schwindelerregende Folge von engen Serpentinen auf einem rauen, schmalen Weg, der in die Felswände der Kali-Gandaki-Schlucht gehauen ist. Immer wieder blockieren Erdrutsche den Weg, und ganze Kolonnen von Fahrzeugen bleiben an den Felswänden stecken.

Dennoch bringt die Straße den Menschen in Mustang substanzielle Verbesserungen wie die bessere Versorgung mit Waren und medizinische Hilfe. Der Strom von Waren und Menschen könnte sich schon bald zu einer anschwellenden Kommerzflut entwickeln. Im Norden haben sich die Chinesen bereits auf eine lukrative neue Handelsroute vorbereitet und warten mit einer frisch asphaltierten Straße, die die Grenzregion mit Fernstraßen bis nach Peking verbindet. Sobald die Straßen zusammengeführt sind, kann in diesem legendären Winkel des Dachs der Welt eine neue Ära des Handels beginnen. Für Jigme und die Menschen von Mustang stellt sich die Frage, ob sie die Teile dieses winzigen Königreichs bewahren können, die es jahrhundertelang zu etwas Besonderem gemacht haben. Jigme setzt sich auf eine Bank und senkt den Blick, als ob er beten oder meditieren würde. Doch dann zieht er mit einer schnellen Handbewegung sein iPhone hervor und checkt seine Nachrichten…

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