Wie deutsche Zwillinge in Kenia mit einem Schulprojekt Leben verändern

Mit ihrem Projekt Schools4Life sorgen die beiden deutschen Schwestern Agnes und Astrid für nachhaltige Bildung im ländlichen Kenia. Sie machen dabei vieles anders - und noch mehr richtig.

Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 7. Dez. 2023, 09:06 MEZ
Kenianische Kinder in Schuluniform vor ihrer Schule

Perspektive geben: Das Projekt School4Life gibt den Kindern aus armen, ländlichen Regionen in Kenia die Chance auf Bildung bis hin zum Beruf.

Foto von School4Life

Als die deutschen Zwillinge Agnes und Astrid im Jahr 2011 das erste Mal Kenia besuchten, wussten sie nicht, wie sehr diese Freiwilligenreise an eine Schule ihr Leben verändern würde. Acht Stunden Fahrt von Nairobi entfernt liegt Kimilili - ein ländlicher Ort, der zum Geburtsort ihres Projektes School4Life werden sollte. Agnes Ellis, die heute in einem Beratungsunternehmen in der Schweiz arbeitet, erinnert sich an ihren ersten Tag an der Schule in Kenia: „Einer der Lehrer fragte mich, ob ich die Biologiestunde in der 5. Klasse übernehmen wollte. Enthusiastisch stimmte ich zu. Dreißig Augenpaare schauten mich erwartungsvoll an, viele hatten noch nie eine weiße Person gesehen. Mir brach der Schweiß aus - vielleicht lag es an der Sonne, die auf das Wellblechdach der Schule knallte und die kleine staubige Lehmhütte in einen Ofen verwandelte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass der Lehrer mir mitteilte, es gebe kein einziges Lehrbuch an der Schule.“  

Die deutschen Zwillingsschwestern Astrid und Agnes machten vor mehr als 10 Jahren eine Reise, die ihr Leben veränderte: Daraufhin gründeten sie ihr Schulprojekt School4Life, das bis heute immer weiter wächst.

Foto von School4Life

Nicht nur an Material mangelte es der kleinen Lehranstalt: Ohne Strom, ohne Wasser und ohne Toiletten stand die Schule vor einer so prekären Situation, dass Kenias Bildungsministerium sie schließen wollte. Für Agnes und ihre Schwester Astrid eine inakzeptable Tatsache, war diese Schule doch trotz der schlechten Umstände die einzige Möglichkeit für Kinder aus der Umgebung, Bildung zu erhalten. Die beiden Schwestern aus Deutschland nahmen die Herausforderung an, gründeten School4Life und blicken heute - auch dank vieler Freiwilliger und Spender*innen - auf zwei Kindergärten, eine Grundschule, eine weiterführende Schule, eine Grundschule für Kinder mit speziellen Bedürfnissen, zwei Waisenhäuser und ein Unterstützungsprogramm für Schulabgänger*innen. 

Statt Feldarbeit und Zwangsheirat: Mit dem Projekt wächst die Perspektive 

Dass ihr Projekt so gewachsen ist, liege an der Not vor Ort, so die Schwestern: „Zuerst hatten wir als School4Life nur einen Kindergarten und eine Primarschule. Dann stellten wir fest, dass nach Abschluss der Grundschule die Jungs wieder auf die Felder geschickt und die Mädchen mit 14 zwangsverheiratet wurden. Grund genug, im Jahr 2014 eine Sekundarschule zu bauen. Wir hatten 60 Kinder erwartet, gekommen sind 150.“ 

Doch die Gründerinnen mussten feststellen, dass auch die Sekundarstufe den Kindern nicht die nötigen Skills zur Verfügung stellte, um im Anschluss auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können. „Wir hatten die Feldarbeit und Zwangsheirat für unsere Schüler nur um 4 Jahre nach hinten verschoben - weshalb wir das Leavers-Programm aufbauten“, erklärt Dr. Astrid Benker, die aktuell als freiberufliche Change- und Projektmanagerin in Portugal lebt. Im Durchschnitt wird die Hälfte der Schulabgänger*innen in dieses Abschlussprogramm aufgenommen, bei dem die Gebühren für die Ausbildung oder Universität, sowie eine monatliche Unterstützung für Miete und Unterhalt vollumfänglich übernommen werden.

BELIEBT

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    Hilfe zur Selbsthilfe: Die Lehrer*innen kommen aus der Umgebung. So profitiert die ganze Umgebung von dem Projekt.

    Foto von School4Life

    „Wir achten auf einen engen Austausch mit den Kindern, sie erhalten Unterstützung beim Verfassen eines Lebenslaufs und ein Coaching, das ihnen dabei hilft, mit dem Druck umzugehen. Oft sind sie die einzigen aus der Familie, die studiert haben. Alle Familien- und sogar Community-Mitglieder bauen auf ihre finanzielle Unterstützung.“ 

    Durch den Ausbau der School4Life-Projekte konnten die Gründerinnen den Kindern vor allem eines geben: Perspektive. „Unsere Kinder hätten ohne School4Life keine positiven Zukunftsaussichten. Sie kommen aus den ärmsten Verhältnissen, wo es meist schon an genug Nahrung, sauberem Wasser oder Kleidung fehlt. So sehr sich die Kinder und die Eltern eine Schulbildung wünschen - sie ist finanziell meist nicht umsetzbar.“  

    Versteckte Kosten erschweren den Zugang zu staatlicher Bildung 

    Auch wenn die kenianische Regierung „die Bedeutung einer allgemeinen Grundschulausbildung als wichtigen Meilenstein zu einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erkannt hat“, wie es auf der Website der Kenianischen Botschaft Deutschland heißt, fehle es dem Staat, laut Agnes und Astrid, ganz einfach an Mitteln, flächendeckend eine kostenlose, qualitative Schulbildung für alle anzubieten. Vor allem in ländlichen Gebieten und ärmeren Vierteln seien die Schulen oft überfüllt, die Infrastruktur schlecht und es fehlten grundlegende Ressourcen, wie Lehrbücher, Schreibmaterialien, moderne Technologie und qualifiziertes Lehrpersonal.  

    Das im Jahr 2003 implementierte, kostenlose Grundschulprogramm Kenias soll den Zugang zu Bildung erleichtern. Obwohl die Schüler*innenzahlen seitdem tatsächlich beträchtlich gestiegen sind, blieben für einige Personengruppen trotzdem Hürden, wissen die School4Life-Schwestern aus eigener Erfahrung: „Marginalisierte Gemeinschaften, wie Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und Mädchen, sind nach wie vor benachteiligt. Diese Gruppen haben aufgrund verschiedener Faktoren, wie Armut, Diskriminierung und kulturellen Normen, immer noch Schwierigkeiten, Zugang zur Bildung zu erhalten“.  

    In den ländlichen Gebieten Kenias sind überwiegend alle Kinder bedürftig. Zudem gibt es, aufgrund von HIV, politischen Unruhen, Armut und Naturkatastrophen viele Waisen. School4Life will so vielen Kindern wie möglich einen Platz am Tisch ermöglichen.

    Foto von School4Life

    Obwohl die Grundausbildung in Kenia offiziell kostenlos ist, nehmen „versteckte“ Kosten vielen Familien die Möglichkeit, ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. Dazu gehören zum Beispiel Aufnahme- und Einschreibegebühren „oder meine Lieblingskosten: Motivationsgebühren für die Lehrer*innen“, so Astrid. Zusätzliche Ausgaben für Schuluniform, Schulmaterial und Mittagessen führen zu jährlichen Kosten pro Kind von ungefähr 150 €. Die kinderreichen Familien müssen hingegen oft von weniger als 1 € pro Tag leben. 

    School4Life will genau diesen bedürftigen Kindern eine Chance auf Bildung geben. Fast täglich bekommt das Projekt Anfragen von Kindern, die aufgenommen werden möchten. Das Team vor Ort evaluiert, damit auch wirklich nur bedürftige Schüler*innen in den Schulen einen Platz bekommen. Das Problem: In den ländlichen Gebieten sind überwiegend alle Kinder sehr bedürftig, zudem gibt es, aufgrund von HIV, politischen Unruhen, Armut und Naturkatastrophen viele Waisen. „Die meisten haben keine Schuhe, sind mangelernährt und wohnen in Lehmhütten. Es gibt mehr Bewerber*innen als Plätze. Und wir achten auf eine Gleichverteilung der Geschlechter.“ 

    Hilfe zur Selbsthilfe: Jeder will etwas zurückgeben 

    Einmal angenommen, verlässt kaum ein*e Schüler*in das Projekt. „Die Kinder und deren Eltern sind so dankbar, in unser Programm aufgenommen worden zu sein, dass wir bis jetzt noch keine Kinder verloren haben“. Vielmehr hockten die Kinder - nach der erfolgreichen Installation des Stromanschlusses - freiwillig von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr abends in „funzelig beleuchteten Klassenzimmern“ über den Büchern. Als Motivation dient wieder die Perspektive: In dem Wissen, dank des Leavers-Programms bis zum Eintritt ins Berufsleben nicht an finanziellen Hürden zu scheitern, erreichen die Kinder ihre Ziele. „Eine Perspektive zu haben, ist für Kinder äußerst wichtig“, erklären die Zwillinge Astrid und Agnes. „Nur so können sie sich auf ihre Ziele und Träume konzentrieren. Eine klare Perspektive ermöglicht es, Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu planen, um Ziele zu erreichen. Sie hilft, Herausforderungen und Hindernisse zu überwinden und positive Veränderungen im Leben vorzunehmen.“ 

    Für langfristige Unabhängigkeit errichtete School4Life zum Beispiel eine Papaya Farm und arbeitet neben den Plänen für die neue Primarschule, auch an einer Hühnerfarm, damit über die verkauften Eier die laufenden Kosten der Schule gedeckt werden können. 


     

    Foto von School4Life

    Neben der Perspektive sei der persönliche Kontakt mit School4Life mindestens genauso wichtig. Seitdem man angefangen habe, neben finanziellen Mitteln auch einen regelmäßigen Call aufzusetzen, um mit den Leavern in Kontakt zu bleiben und Kurse oder Coachings anzubieten, habe sich das Selbstbewusstsein der Kinder enorm entwickelt. „Sie sehen in School4Life eine Familie, auf die sie vertrauen können und an die sie sich bei Problemen wenden können.“ 

    Liest man die Lebensberichte der Schüler, gewinnt man den Eindruck, dass fast jedes Kind etwas von dem Guten, das ihm widerfahren ist, später aktiv als Pädagoge, Umweltschutzbeauftragte oder Küchenchef an die Gesellschaft zurückgeben will. „Unsere Kinder haben in ihrem Leben extrem viel erlebt - als Straßenkind, Ex-Gangster oder durch physische und psychische Gewalt. Sie sind unendlich dankbar für die Hilfe und sind sich bewusst, dass sie ohne School4Life an einem anderen Punkt wären“, so die Zwillinge. Der Wunsch dieser Kinder, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben, sei enorm groß. „Wir hoffen, dass durch die Hilfe derer, denen wir helfen, der Kreis eines Tages unendlich wird.“ Dann hätte sich das Selbstverständnis der School4Life-Community erfüllt, dass davon ausgeht, den größten Impact innerhalb einer Community zu erzielen, indem man „die Angel gibt, statt den Fisch zu schenken“, so Agnes und Astrid. 

    Dann funktioniere Bildung als Schlüssel zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung, die wiederum eine Community stärke und sie auf eigenen Füßen stehen ließe. Denn trotz aller Hilfestellung, sei es in einem Land wie Kenia, das sich durch eine Vielfalt und Einflüsse verschiedener Ethnien auszeichne, trotz jahrelanger Arbeit vor Ort nicht möglich, die Kultur komplett zu begreifen. „Das Land beherbergt über 40 verschiedene Volksgruppen, die jeweils ihre eigenen Traditionen, Bräuche und Sprachen haben. Ein Großteil der Bevölkerung praktiziert das Christentum, daneben gibt es eine große Anzahl von Muslimen. Deshalb legt School4Life großen Wert darauf, mit den Einheimischen zusammenzuarbeiten und ihre Vorschläge und Empfehlungen sehr ernst zu nehmen.“ 

    Neben den positiven Auswirkungen auf die Zukunft der Kinder profitiert auch die lokale Gemeinschaft durch diese Beteiligung und Mitbestimmung. Um die Community zu unterstützen, zahlt School4Life nur den einheimischen Köch*innen oder Lehrer*innen ein Gehalt. Zudem achtet man sehr darauf, dass die Volontär*innen nicht einer lokalen Person den Job wegnehmen - was, laut den Gründerinnen, oft in den großen NGOs passiere, wo Freiwillige aus dem Ausland den Unterricht vor Ort übernähmen. 

    Der Erfolg gibt dem Ansatz von School4Life recht: Bisher konnten vier Schulen (der Kindergarten, die Grund- und weiterführende Schule sowie die Behindertenschule) an die lokale Community übergeben werden. Zusätzlich wurden Projekte aufgebaut, die für die Community Einnahmen generieren, um langfristig unabhängig zu werden. School4Life hat zum Beispiel für den zuletzt gebauten Kindergarten eine Papaya Farm gepflanzt und arbeitet, neben den Plänen für die neue Primarschule, auch an einer Hühnerfarm, um über die verkauften Eier die laufenden Kosten der Schule zu decken. 

    Bildung als Mehrwert für den Einzelnen und die Gesellschaft: Eine Ausbildung ist der Schlüssel für eine bessere Zukunft.

    Foto von School4Life

    Bildung als Mehrwert für den Einzelnen und die Gesellschaft 

    Familien, Gründerinnen und alle Mitarbeitenden der Projekte sind sich einig, dass in einer guten Ausbildung der Schlüssel für eine bessere Zukunft liegt. „Bildung ist der beste Weg aus der Armut. Letztendlich verbessern ihre positiven Auswirkungen nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern auch die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt“, so Astrid und Agnes. Erhielten Kinder auf individueller Ebene durch Bildung die Werkzeuge und Fähigkeiten, um ihre geistigen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu entwickeln, entstünden kritisches Denken, Problemlösungsfähigkeiten und Kreativität. „Bildung gibt jedem die Möglichkeit, seine persönlichen Interessen zu verfolgen und seine Talente zu entdecken. Dadurch werden Kinder selbstbewusster und haben bessere Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft.“ 

    Nach der Schule ist nicht Schluss: Die Gründerinnen bleiben bis zum Berufseintritt und darüber hinaus mit ihren Schüler*innen in Kontakt. 

    Foto von School4Life

    Mit positiven Folgen für die ganze Familie, die von der wirtschaftlichen Stabilität profitiere. „Darüber hinaus hat Bildung die Kraft, ganze Gemeinschaften, Dörfer und Länder zu verändern. Durch Bildung können Gesundheits- und Hygienekenntnisse verbreitet werden. Existierende soziale Normen und Hierarchien werden infrage gestellt und verändert, indem Gleichheit und Inklusion gefördert wird.“ 

    Und dann, am Schluss, haben die School4Life-Projekte auch einen großen Impact auf die beiden Gründerinnen: Neben persönlichem Wachstum habe der Gemeinschaftssinn sie sehr inspiriert, ihr eigenes Verständnis von Solidarität und Empathie zu erweitern. „Wir versuchen, den Kindern alles über das Leben beizubringen. In Wirklichkeit sind sie es, die uns zeigen, worum es im Leben wirklich geht!“, lacht Agnes. Und Astrid fügt abschließend hinzu: „Die meisten Menschen sagen, man lebt nur einmal. Für mich stimmt das nicht. Ich sehe es jetzt so: Man stirbt nur einmal, leben tut man jeden Tag. Und jeden Tag, den man geschenkt bekommt, sollte man sinnvoll nutzen!”.

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    Foto von National Geographic

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