Lebensgefühl Neapel: Geschichte zum Anfassen in den Straßen der Mittelmeer-Metropole

Wo andere Städte ihre Vergangenheit in Museen konservieren, ist in der Metropole am Mittelmeer Geschichte in den Straßen erlebbar. In den Erzählungen der Menschen und der Architektur.

Von Julia Buckley
Veröffentlicht am 25. Sept. 2024, 13:07 MESZ
Neapel von oben

Wo andere Städte ihre Vergangenheit in Museen konservieren, ist in der Metropole am Mittelmeer Geschichte in den Straßen erlebbar. In den Erzählungen der Menschen und der Architektur.

Foto von Julia Buckley

Ein junger Mann sitzt im Archäologischen Nationalmuseum von Neapel. Er beugt sich nach vorne, den linken Arm über das Knie gelegt, und schaut schüchtern nach unten. Es ist der griechische Gott Hermes, so der Bildhauer, der ihn vor fast 2000 Jahren in Bronze goss. Ein Auftrag, bestimmt für die prächtige Villa dei Papiri im nahe gelegenen Pompeji. Aber für mich sieht er wie jemand anderes aus.

Nur wenige Stunden zuvor hatte ich im Stadtteil Sanità, zehn Minuten vom Museum entfernt, die Bronzestatue eines anderen jungen Mannes betrachtet. Auch er sitzt und beugt sich über seinen eigenen Körper, auch er sieht nachdenklich aus. Aber dieser Junge trägt Jeans und ein T-Shirt, und während Hermes allein im Museum weilt, hängen um den Hals dieses Jungen Rosenkränze, angebracht von Bürgern der Gemeinde. Genny Cesarano war 17 Jahre alt, als er 2015 von der Camorra ermordet wurde – ein unschuldiger Passant, der ins Kreuzfeuer geriet, als er sich mit Freunden auf der Piazza des Viertels unterhielt. Sein Tod erschütterte das Arbeiterviertel. „Alle strömten auf die Piazza, um zu protestieren“, sagt der lokale Künstler Paolo La Motta. Niemand wollte Genny vergessen, also baten sie Paolo, eine Skulptur zu schaffen, die an ihn erinnern sollte. Heute steht die Bronze stolz auf der Piazza Sanità. Und es gibt einen Grund, warum mir die Ähnlichkeit auffällt: Paolo La Motta hat sich bei seiner Haltung am Hermes im Archäologischen Museum orientiert.

Die elektrisierende Energie der Geschichte

Das ist das Schöne an Neapel: Die Stadt wurde um 600 v. Chr. von griechischen Siedlern gegründet und ist ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart ständig miteinander verwoben sind. Wo andere Städte ihr Erbe in Museen verstecken und sich gegenseitig mit gewagter moderner Kunst übertrumpfen, erzählt Neapel seine eigene Geschichte ständig neu. Anstatt der Pizza den Rücken zu kehren, interpretieren junge Neapolitaner sie neu, Kunstgalerien stellen zeitgenössische Werke zwischen die Meister der Renaissance, und Menschen wie Paolo lassen sich für ihre Arbeit von einer 2000-jährigen Geschichte inspirieren. All dies verleiht Neapel eine Energie, die man nur selten findet. Ja, es ist unruhig. Ja, es ist chaotisch. Aber es ist auch elektrisierend.

Sanità ist der Ort, an dem die Energie derzeit pulsiert. Lange Zeit als „schlechtes Viertel“ der Stadt abgetan, haben auch Außenstehende in den letzten Jahren endlich die seit Langem bestehende „gute Seite“ des Viertels erkannt, in dem es viele Kunsthandwerker und Künstler gibt. Das organisierte Verbrechen hat sich daraufhin zurückgezogen. Heute ist Sanità eine der beliebtesten Wohngegenden Neapels, aber während in anderen Städten die Gentrifizierung die Einheimischen allmählich ausschließt, ist die Entwicklung von Sanità eher eine Neubewertung dessen, was schon immer da war.

Sanità gehört zu den beliebtesten Vierteln der Stadt. In ihrem Herzen liegt die Basilique Santa Maria della Sanità.

Foto von Bernard Blanc

Moderne Kunst trifft alte Meister

Manchen scheint es wie Neapel im Mikrokosmos: Es gibt römische Katakomben, noch frühere griechische Gräber, schwülstige Renaissancepaläste, von denen elegant der Putz abblättert, und Motorräder, die sich zwischen all dem hindurchschlängeln – aber es ist ein Ort, an dem man Altes und Neues ineinander verschränkt findet. In der Kirche Santa Maria della Sanità steht moderne Kunst neben altertümlicher; in ihrem Inneren finanzieren einige Jugendliche des Viertels soziale Projekte, indem sie Führungen durch die Katakomben von San Gaudioso anbieten, die mit Skeletten aus dem 17. Jahrhundert bemalt sind. Ein Stück weiter, in der Pasticceria Poppella, hat Ciro Scognamillo das Know how seiner Bäckereltern genutzt, um Neapels begehrteste Süßigkeit zu kreieren, den fiocco di neve (Schneeflocke) – ein Brandteigbrötchen, gefüllt mit süßem, gekühltem und durch und durch süchtig machendem Ricotta. Auf der anderen Straßenseite lockt Ciro Oliva, Pizzabäcker in vierter Generation, Politiker und Prominente gleichermaßen in seine Pizzeria Concettina ai Tre Santi, die im Landhausstil eingerichtet ist.

Und einen Block weiter hat der Juwelier Vincenzo Oste über seiner Werkstatt ein winziges Hotel mit Galerie eröffnet und mit Kunstwerken seines Vaters, des berühmten Bildhauers Annibale Oste, vollgestopft, um die Gäste zu einer intimeren Beziehung mit der Kunst anzuregen. „Ich wollte so etwas wie ein Museum oder einen Ausstellungsraum schaffen“, erzählt er mir, während wir mit den Händen über die Prototypen seines Vaters streichen.

Oste senior starb vor etwa einem Jahrzehnt, nach einem weitläufigen Palast oberhalb des Stadtzentrums, der als Jagdsitz für die bourbonischen Herrscher des 18. Jahrhunderts diente. Aber es ist kein gewöhnliches Museum; hier finden sich moderne Kunst - werke zwischen den Tizianen und Cara vaggios, die die alten Meister beleben, während das gesamte oberste Stockwerk zeitgenössischen Künstlern gewidmet ist, die bei jeder der Wechselausstellungen ein Werk für die Sammlung hinterlassen.

BELIEBT

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    Cover National Geographic Traveler 5/24

    Foto von National Geographic

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