Abenteuer Deutschland: Einmal nach Sylt reiten

Von der Zugspitze bis an die Nordsee: 
Der Fotograf Florian Wagner nahm sich eine Auszeit und erkundete unser Land mit dem Pferd.

Von Johan Dehoust
Foto von Florian Wagner

Fast wäre der siebte Tag schon der letzte gewesen. Als Florian Wagner seine Brottüte aus der Satteltasche zieht, zuckt sein Pferd zusammen und prescht mit ihm in ein Weizenfeld. Er landet auf der harten Ackerkruste – und kommt nicht wieder hoch.

Die Sonne brennt, wir stehen wie gefroren auf der Landstraße kurz hinter Neuhausen. War es das? Endstation niederbayerischer Acker? Vor einer Woche sind wir am Fuße der Zugspitze losgeritten. Die Wettersteinwand lag nebelumhangen hinter uns – und Deutschland vor uns. Sechs Menschen, fünf Pferde, ein Hund. Wir wollten bis nach Sylt reiten. Einmal von Süd nach Nord durch die Republik.

Ohne Florian würde das unmöglich sein.

Er ist Fotograf und hatte die Idee zu diesem Abenteuer: Seit er nach der Schulzeit als Cowboy in Australien arbeitete, reitet der 46 Jahre alte Oberammergauer. Er hat zwei Pferde, die Paintstute „Soloma“ und den Araberwallach „Rooh“. Viele Jahre reiste er für seinen Beruf durch die Welt. Dann entschied er, mit Gleich­ gesinnten Deutschland zu erkunden.

Er hat sein Team wohl überlegt ausgewählt. Die Assistentin Hannah Gorkenant. Wilfried Kolb, der uns mit Jeep und Anhänger begleitet. Die langjährigen Pferdekenner Barbara Ochotta, Karin Maushart und Thomas Beyer. Florian selber ist der Kopf der Unternehmung.

Fünf Sekunden, die wie fünf Stunden erscheinen: von dem Fotografen ist nichts zu sehen. Dann – endlich – ist Florians Kopf wieder über den Weizenähren zu sehen. Wir rufen den Krankenwagen und reiten dann ohne unseren Anführer zu einem Pferdehof nahe der Donau. Abends ruft Florian an: nur Prellungen, schmerzhaft zwar, aber morgen früh sei er wieder dabei.

Wir haben unsere Pferde monatelang auf diese Reise vorbereitet. Haben sie an gefährliche Situationen gewöhnt: über die Straße rollende Bälle, vorbeirasende Züge, schmale Brücken. Aber die Tiere bleiben unberechenbar. Winzigkeiten reichen, um ihren Fluchtreflex auszulösen.

Wie die raschelnde Brottüte.

Unsere Reise führt durch die Oberpfalz und Oberfranken. Schon vor Sonnenaufgang sind wir unterwegs, ausgestattet mit Stirnlampen und reflektierenden Halftern. So schaffen wir es meist, vor der Mittagshitze am Tagesziel zu sein, und verhindern, dass den Pferden der Schweiß durchs Fell rinnt. Mir fällt es anfangs noch schwer, um vier schon im Sattel zu sitzen, ich gewöhne mich aber bald daran.

Nicht lange, bis ich verstehe, warum Barbara im Morgengrauen so gern Goethes Gedicht „Freisinn“ zitiert. «Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten! Bleibt in euren Hütten, euren Zelten! Und ich reite froh in alle Ferne, über meiner Mütze nur die Sterne.»

Endlose Landstraßen, Feldwege und Trassen durch den Wald. Hochsommer, um die 30 Grad. Fünf bis sieben Stunden brauchen wir jeden Tag für die durchschnittlich 30 Kilometer langen Etappen. Ungefähr so schnell waren einst auch die Postkutschen unterwegs.

Nach Tagen im sanften Hügelland erreichen wir das steile Fichtelgebirge. Wir waren erst am Nachmittag gestartet, weil Barbara und Karin noch die Ledersättel einfetten wollten. Ein Hase liegt ausgestreckt im Gras. Erst als wir direkt neben ihm sind, springt er auf.

Endlich kühlt es ein wenig ab. Wir genießen den würzigen Geruch der Nadelhölzer. Über weichen Kiesboden traben wir unserem Ziel entgegen: dem Gasthof Waldsteinhaus unterhalb des fast 900 Meter hohen Großen Waldsteins.

Dort angekommen, beginnt die übliche Prozedur: Pferde absatteln und sie in kleine, mit Plastikpfählen und Schnüren abgesteckte Koppeln führen. Einige der Eimer mit einer Körnermischung füllen, die anderen mit Wasser. Erst wenn die Pferde versorgt sind, bauen wir unsere Zelte und Feldbetten auf.

Zwei Tage später verlassen wir Bayern auf einer schmale Brücke über die Saale. Thüringen. Kurz vor Weimar brechen beim Galopp die ersten Hufeisen – Tribut für viele Teerstraßen. Barbara und Florian entfernen vorsichtig die Reste mit dem Taschenmesser. Weiter geht es mit Hufschuhen aus Gummi. Am Abend kommt der Schmied. Er legt einen Rohling an, bringt ihn mit einem kleinen Gasofen zum Glühen und schlägt ihn dann auf einem Amboss in Form.

Weiter durch Sachsen, Sachsen­Anhalt, Brandenburg. Plattes Land. Die Felder werden größer, die Dörfer schnörkelloser. Niedersachsen, Hamburg, Schleswig­Holstein. Tag um Tag.

Anfangs hatten wir geplant, jede Woche einen Ruhetag einzulegen. Nach dem ersten Versuch geben wir die Idee auf. Die Pferde sind voller Energie und kaum zu halten. Ständig springen sie unvermittelt los, stellen die Ohren auf und stupsen sich gegenseitig an.

Je weiter wir in den Norden kommen, desto stärker leiden Pferd und Mensch. Immer mehr verspannte Rücken, entzündete Gelenke, abgeschürfte Haut. Wie haben Eroberer wie Alexander der Große oder Dschingis Khan, Herrscher der Mongolen, es bloß geschafft, monatelang, ja: jahrelang jeden Tag rund hundert Kilometer auf dem Pferd unterwegs zu sein?

Keine Pause, das heißt auch, täglich für sechs Menschen, fünf Pferde und einen Hund eine neue Unterkunft zu finden. Eine Herausforderung für Wilfried im Begleitwagen. Wir reiten an Maisfeldern entlang, durch Wälder und Industriegebiete – bis zum Abend aber hat er immer irgendwo einen Lagerplatz gefunden und uns per Handy dorthin geführt.

Meist bauen wir unsere Koppeln und Zelte auf den Wiesen von Bauernhöfen oder Reitställen auf. Ab und zu gönnen wir uns eine Nacht im Landgasthof. Und dann der Höhepunkt: Kurz nachdem wir in Sandau die Elbe auf einer Fähre überquert haben, übernachten wir im Schloss Calberwisch in der Altmark. Außer uns sind nur ein Ziegenbock und ein Hirsch mit seinen drei Kühen auf dem Anwesen. Der Besitzer will das Neorenaissance­Herrenhaus verkaufen und hat es uns für eine Nacht überlassen. Wir schlafen in Zimmern so groß, dass alle unsere Pferde darin Platz hätten.

Wir haben die Gastfreundschaft im Land unterschätzt. Egal wo wir hinkommen, heißen die Menschen uns willkommen und freuen sich, uns zu beherbergen. Was sie verbindet, ist der Spaß am Grillen: In der Oberpfalz sitzen wir mit einem Bierbrauer, seit 2012 Weltmeister seines Fachs, um ein Kohlefeuer; in der Dübener Heide in Sachsen­Anhalt verbringen wir einige Stunden mit einem Förster; in Nordfriesland mit den jungen Betreibern einer Rohmilchkäserei.

Der Herbst naht, es wird kühler. Hoch oben kommen uns die ersten Vogelschwärme entgegen. Bei der Norweger­Stute „Sonne“ sehen wir schon die ersten Anzeichen von Winterfell.

Friedrichsruh, das Holstentor in Lübeck, Travemünde. Das Meer! Beim Blick auf die Ostsee denke ich zurück an die Zugspitze und den Eibsee zwischen dunklen Berge. Die Lübecker Bucht erscheint mir wie ein Ozean.

54 Tage sind wir schon im Sattel. Eine Zeit, in der sich zuvor nur flüchtig bekannte Menschen und Tiere sehr nah gekommen sind und einander immer mehr vertrauen. Ich gehe seit mehr als zwei Monaten mit meinem Pferd „Pepino“ durch dick und dünn. Wie stark ich ihm verbunden bin, wird mir in einer intimen Situation bewusst: beim Wasserlassen am Wegesrand. Wie selbstverständlich steht der 13­jährige Paintwallach neben mir, schaut mich an – und pinkelt dann in großem Strahl. Von diesem Augenblick an sind wir echte Kumpel.

Quer durch Schleswig­Holstein nach Nordwesten. An einem Sonntag ist es so weit: Wir verladen die Pferde in Anhänger und fahren mit dem Autozug nach Sylt. Auf einem schmalen Asphaltweg zwischen den Dünen bewältigen wir die letzten von rund 1700 Kilometern unseres Abenteuers. Ständig werden wir von klingelnden Radfahrern überholt, die nicht bereit sind, sich auch nur wenige Sekunden lang dem Tempo anzupassen, mit dem wir den Großteil der vergangenen neun Wochen unterwegs waren. Schade, sie sollten es mal versuchen.

Tiefe Wolken. Typisch norddeutsches Schietwetter kündigt sich an, als wir den Leuchtturm am Ellenbogen, den nördlichsten Zipfel Deutschlands, erreichen. Vor uns die Nordsee. Auch wenn wir unsere Hüte in die Luft werfen und mit „Küstennebel“ anstoßen, ist es ein seltsam profaner, nüchterner Augenblick. Vielleicht weil uns bewusst wird, dass wir ihn uns in den vergangenen Wochen als etwas Großes, Erhabenes erträumt haben.

Es wirklich bis Sylt zu schaffen – das war anfangs das Ziel unserer Reise. Es bündelte unseren Ehrgeiz und schweißte die Gruppe zusammen. Mit jedem Tag, mit jeder Begegnung und jedem Erlebnis unterwegs aber wurde es zu einem von vielen einzigartigen Momenten dieses Sommers in Deutschland.

(NG, Heft 5 / 2914, Seite(n) 80 bis 103 )

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