Astana - die neue Hauptstadt Kasachstans

Astana, die neue Kapitale Kasachstans, protzt mit Prachtbauten und spektakulären Fassaden. Besonders attraktiv ist die Hauptstadt für junge Leute, die nach Geld und Erfolg streben.

Von John Lancaster
Foto von Gerd Ludwig

Banane - Sieben Fässer - Das Feuerzeug. Die Einwohner von Astana, der Hauptstadt Kasachstans, sind ziemlich phantasievoll, wenn es darum geht, Spitznamen für die vielen neuen Hochhäuser ihrer Kapitale zu finden. Zum Nationaldenkmal, dem Baj­terek-Turm, fiel ihnen bisher allerdings nichts ein. Das hat einen einfachen Grund: Das Gebäude ist mit nichts zu vergleichen. Bajterek bedeutet übersetzt „hohe Pappel“. Das Bauwerk ist ein 97 Meter hoher Turm, umschlossen von einem Skelett aus weiß gestrichenem Stahl. Obenauf liegt eine goldgetönte Glaskugel. Sie steht für das Ei – die Sonne –, die einer kasachischen Legende nach der heilige Vogel Sam­ruk jedes Jahr in die Krone eines riesigen Lebensbaums legt.

Der Ent­wurf stammt angeblich vom Staatspräsidenten Nursultan Nasarbajew persönlich, der das Land autoritär regiert, seit es sich 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion für unabhängig erklärte. Ähnlich wie Zar Peter der Große, der im 18. Jahrhundert St. Petersburg auf einem sumpfigen Streifen Ostseeküste zum Machtmittelpunkt Russlands gemacht hatte, wählte auch Nasarbajew eine entlegene Gegend, um die Flagge des neuen Kasachstan aufzupflan­zen. Dass die bisherige Hauptstadt Almaty eine angenehme Stadt mit gemäßigtem Klima ist, aus der außer dem Präsidenten kaum jemand weg wollte – egal. Ende 1997 verlegte die Regierung ihren Sitz in das kalte, windgepeitsche Aqmola in der baumlosen asiatischen Steppe, fast tau­send Kilometer nördlich von Almaty. Bald dar­auf wurde die Stadt in Astana – das kasachische Wort für „Hauptstadt“ – umbenannt. Der Wech­sel wird jedes Jahr am 6. Juli gefeiert, an Nasar­bajews Geburtstag.

Kasachstan ist reich an Erdöl und anderen Bodenschätzen und hat Milliarden in die neue Hauptstadt investiert. Prominente Architekten aus aller Welt wurden eingeladen, das linke Ufer des Esil mitzugestalten. Der Fluss trennt die Verwaltungsneustadt von dem älteren, größtenteils zu Sowjetzeiten erbauten Bezirk am rechten Ufer. Das Ergebnis ist ungewöhnlich, zwar nicht jedermanns Sache, aber unbestreitbar eindrucksvoll. Man muss die Stadt nicht mögen, aber sie wächst. Die Bevölkerung nahm inner­halb eines Jahrzehnts von 300000 auf mehr als 700000 Menschen zu. Astana symbolisiert ka­sachischen Nationalismus und nationale Hoff­nungen. Astana ist mehr als eine Stadt. Es ist eine Demonstration.

Die Frage ist freilich, ob es dieses Retorten­produkt jemals schafft – wie einst St. Petersburg – eine eigene Identität zu finden.

Jernar Scharkeschow hat da keine Zweifel. Der geschniegelt aussehende 24-Jährige trägt gebügelte Khakihosen und ein Polohemd, als wir uns zum Mittagessen in einem gehobenen Restaurant auf dem Nurschol-Boulevard treffen, dem zentralen Platz der Stadt. Er ist in Beglei­tung einer attraktiven jungen Frau namens Mi­chelle aus Singapur. Scharkeschow hat dort vor kurzem seinen Magister in Staatswissenschaften gemacht. Er bestellt Pferdewurst und koumiss. Die vergorene, leicht alkoholische Stutenmilch ist das kasachische Nationalgetränk. Amüsiert sieht er zu, wie Michelle tapfer einige kleine Schlucke davon nimmt.

Scharkeschow mag das Getränk wirklich. Der Sohn eines ehemaligen KP-Funktionärs ent­stammt jener Volksgruppe, der mehr als 60 Pro­zent der 16 Millionen Einwohner Kasachstans angehören. Jahrhundertelang zogen die Kasa­chen als pferdezüchtende Nomaden durch ihre weite, wenig bevölkerte Heimat, bis ihr Land, das etwa so groß ist wie Europa, Teil der Sowjetunion wurde. Doch auch danach hielten die Scharkeschows an ihren zentralasiatischen Traditio­nen fest. In ihrem Dorf südöstlich von Astana hütete Scharkeschow als berittener Hirte noch die Schafe und braute koumiss in einem mit Wildkräutern geräucherten Birkenholzfass.

Sechs Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zog Scharkeschow mit seinen Eltern und den vier Geschwistern in die neue Hauptstadt. Sein Vater arbeitete bei einer Versicherung und erwarb später ein Badehaus. Im Elternhaus wurde Ka­sachisch gesprochen, doch schon mit 15 Jahren beherrschte er auch Russisch und Englisch. Mit einem Regierungsstipendium studierte er in Großbritannien. Nach seinem College-Ab­schluss ging er nach Singapur. Jetzt ist er zurück in Astana, um sich einen Job zu suchen.

Scharkeschow ist begeistert von der neuen Hauptstadt und ihren Verheißungen – für ihn persönlich, aber auch für sein Land. Seiner Mei­nung nach wird es zu oft mit den instabilen Nachbarn in einen Topf geworfen, deren Namen ebenfalls auf „stan“ enden, wie etwa Usbekistan oder Tadschikistan. Astana dagegen, sagt Scharkeschow, sei das neue Gesicht Kasachstans: dynamisch, modern, zukunftsorientiert. Wenige Tage nach unserem Treffen bekommt er eine Stelle als Wirtschaftsfachmann in der Regierung. Er ist nun einer von Tausenden jun­ger Menschen – das Durchschnittsalter in der Stadt beträgt 32 Jahre –, denen Astana eine Chance gibt. Wie Scharkeschow haben die meis­ten Neuankömmlinge alte kasachische Wurzeln, im Gegensatz zu den Russisch-, Deutsch-und Ukrainischstämmi­gen, die den Rest der Bevölkerung ausmachen. Die Bevorzugung kasa­chischsprachiger Angestellter ist von der Regierung durchaus beabsichtigt. Die Kasa­chen anderer nationaler Abstammung ärgert das. Sie fühlen sich zweitrangig und kritisieren die „Kasachisierung“.

Nasarbajew führte mehrere Gründe für die Verlegung der Hauptstadt an: in Almaty sei das Erdbebenrisiko größer, die Nähe zum Tien-Shan-Gebirge hemme das Wachstum der Stadt. Eine wichtige Rolle spielte aber wohl auch die Geopolitik. Allgemein wird vermutet, Nasarbajew habe russischen Gebietsansprüchen in Nordkasachstan, wo viele Russen leben, vorbeu­gen wollen. Kritik hatte das autokratische Staats­oberhaupt jedenfalls nicht zu fürchten. Manche werfen ihm zwar Korruption und die Verletzung der Menschenrechte vor, weil er aber die Region stabil hält und die Wirtschaft wächst, ist seine Stellung nicht gefährdet.

Für den Bau seiner Traumstadt holte sich Nasarbajew Hilfe von ausländischen Investoren, die stark an Geschäften mit Kasachstan inter­essiert waren. Dazu gehört Katar. Das Emirat am Persischen Golf finanzierte den Bau einer Moschee für 7000 Gläubige. Der Islam ist die wichtigste Religion in Kasachstan – offiziell ist das Land aber laizistisch. Nasarbajew engagierte außerdem international führende Architekten. Er ließ jedoch nie einen Zweifel daran, wer die letzten Entscheidungen treffen würde. Sarsembek Schunusow, der Chefarchi­tekt der Stadt, erinnert sich zum Beispiel noch an die Einwände seiner Kollegen, als Nasarbajew eine große Pyramide in Astana errichtet haben wollte.

«Unsere Leute sagten, Pyramiden gebe es doch schon genug», erzählt Schunusow. «Für den Bau einer wirklich neuen Pyramide brauche man auf jeden Fall einen großen Architekten.» Der Auftrag für die Pyramide des Friedens und der Eintracht ging schließlich an den Briten Norman Foster. Er entwarf auch das Einkaufszentrum Khan Shatyr, das „Königszelt“, das ent­fernt an eine Jurte erinnert.

Am deutlichsten ist die Goldgräberstimmung in den Einkaufspassagen, unter denen Khan Shatyr die markanteste ist. Hier gibt es auf der obersten Ebene einen Strand mit Wellenbad – mit Sand von den Malediven. An diesem Abend kostet der Eintritt 15 Euro. Männer und Frauen in knapper Badekleidung trinken Wodka mit Red Bull. Der DJ ermuntert sie auf Englisch: «Everybody get crazy! Siss is bikini party!»

An einem anderen Abend besuche ich ein Treffen junger angehender Geschäftsleute. Viele haben im Ausland studiert. Gespannt lauschen sie dem 38-jährigen Gastredner Aidyn Rachim­bajew. Er schildert seinen Aufstieg vom kleinen Kohlenhändler zum Chef eines der größten Bauunternehmen. Als ein Zuhörer später nicht lockerlässt und wissen will, wie man aus einer Idee ein Geschäft macht, antwortet Rachimbajew barsch: «Eine Idee ist nichts. Was kannst du? Wie sieht dein Businessplan aus?»

Er empfiehlt ihnen Bücher von Management-Gurus, gibt aber zu, dass er selber erst spät damit angefangen hat, weil er damit beschäftigt war, Geld zu verdienen. «Meine erste Million machte ich mit 29», sagt er. «In Dollar. Meine ersten zehn Millionen mit 32. Dann beschloss ich, dass ich nun die Zeit zum Bücherlesen habe.»

Inmitten aller zur Schau gestellten Pracht ist jedoch nicht zu übersehen, dass vieles halb fertig wirkt. Bei jedem Regenschauer zum Beispiel strömt Wasser aus der Decke der Einkaufspassage ins Erdgeschoss des nagelneuen Wohn­hochhauses, in dem ich mich eingemietet habe.

An einem Samstagnachmittag lasse ich mich zum Picknick im Park einladen. Ein junger Ban­ker, der in den USA studiert hat, rät mir, mich von Astana nicht allzusehr beeindrucken zu lassen. «Die Stadt ist wie ein Traum», erklärt er lächelnd. «Sie kann sich nicht selbst erhalten. Hier hängt alles vom Erdöl ab.» Er macht eine kurze Pause und zuckt dann mit den Schultern. «Andererseits: Wir haben so viele Bodenschätze, dass wir uns im Augenblick schon ein paar Dummheiten leisten können.»

Die Picknickgäste breiten im Schatten einer Pappel ein Tuch aus und laden sich Rote Bete, Apfelsinen und manti, mit Fleisch gefüllte Klöße, auf ihre Pappteller. Jemand reicht eine Flasche koumiss herum, andere werfen sich ein Frisbee zu. «Alle, die ihre Arbeit lieben: Hände hoch!», ruft die 33-jährige Schanna Kunaschewa, die in der örtlichen Niederlassung von Shell arbeitet. Die meisten folgen ihrer Anima­tion. Dann verteilt Kunaschewa Texte zu Lie­dern von Frank Sinatra und russischen Popstars und fordert alle zum Mitsingen auf.

Ein paar Stunden später ist die Party zu Ende. Einige Teilnehmer müssen noch zum Unter­richt: lateinamerikanische Tänze. Der Wind raschelt in den Pappeln. Im Leuchten des Abendhimmels erstrahlt die Skyline von Astana wie ein großes, aufregendes Versprechen.

(Gekürzte Version! Den kompletten Artikel lesen Sie in der April-Ausgabe aus dem Jahr 2012 von NATIONAL GEOGRAPHIC)

(NG, Heft 04 / 2012, Seite(n) 114 bis 133)

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