Indien: Auf den Spuren Gandhis

Indiens „Große Seele“ lebt – auch in der modernen Zeit. Wer weiß, wo er suchen muss, kann sie spüren.

Von Tom O’Neill
Foto von Rena Effendi

Zusammenfassung: Mahatma Gandhi protestierte gegen die britische Herrschaft, landete im Gefängnis und führte Indien schließlich in die Unabhängigkeit. Unser Autor Tom O'Neill begab sich auf die Spuren des großen Visionärs. Jahrzehnte nach Gandhis Lebzeiten trifft er auf Inder, die Gandhi treu bleiben. Doch er merkt auch: Gandhis Wunsch nach einem gerechten, friedlichen Indien ist nur noch ein utopischer Fiebertraum.

Wie jeden Morgen im Aschram wachte er auch an diesem Tag schon vor Anbruch der Dämmerung auf. In der Dunkelheit führte er eine Gruppe an einen Platz oberhalb des Flusses Sabarmati und hielt eine Morgenandacht. Dann war er bereit. Mit einem Dhoti bekleidet, einem langen Lenden­tuch, und einen Schal um die Schultern gelegt, griff er nach einem Bambusstock und machte sich durch das Tor hinaus auf den Weg. Er ver­ließ den Aschram, der 13 Jahre lang sein Zu­hause gewesen war, die Gemeinschaft, die sich seinen Grundsätzen vom einfachen Leben und erhabenen Denken verschrieben hatte.

Mohandas Gandhi war nicht allein. Als er den Schotterweg am Stadtrand von Ahmedabad be­trat, der größten Stadt im indischen Bundes­ staat Gujarat, schlossen sich ihm in Zweier­reihen 78 weiß gekleidete Männer an. Zehn­ tausende säumten den Straßenrand, hockten in den Bäumen, lehnten sich aus den Fenstern und riefen: „Gandhi ki jai – Sieg für Gandhi!“

Es war der 12. März 1930. Gandhi und seine Mitstreiter wanderten 25 Tage lang 388 Kilo­meter zum Arabischen Meer, um gegen ein Ge­setz zu protestieren, mit dem die britischen Kolonialherren das Sieden von Salz in Indien verboten hatten. Gandhi, ein Meister der dra­matischen Geste, bückte sich am Strand und schöpfte eine Handvoll salzigen Schlamm.

Überall in Indien folgten bald die Menschen seinem Beispiel und gewannen illegal Salz aus dem Meer, schneller als die Polizei es beschlag­ nahmen konnte. Die Briten antworteten mit Prügelstrafen und Verhaftungen. Gandhi ver­ brachte fast neun Monate im Gefängnis. Was die Behörden als belangloses politisches Theater abgetan hatten, entwickelte sich schließlich zu einem landesweiten Schrei nach Unabhängig­keit. Hohe und niedere Kasten, Männer und Frauen, Hindus und Muslime verbündeten sich zu einer breiten Front gegen die britische Herr­schaft. Jetzt hatten die Massen einen Anführer. Von dem Tag, als er den Salzmarsch begann, bis zu seinem Tod 18 Jahre später inspirierte Gan­dhi Indien mit einer revolutionären Mischung aus Politik und Spiritualität. Er nannte seine Philosophie Satyagraha, „Kraft der Wahrheit“.

Gandhis Einfluss war unauslöschlich. Er führte Indien in die Unabhängigkeit. Er zwang seine Landsleute, ihre tief verwurzelten Vor­ urteile über Kasten, Religion, Gewalt und Ge­ schlechter zu hinterfragen. Nur Stunden nach Gandhis Tod am 30. Januar 1948 durch die Ku­geln eines Attentäters und fünfeinhalb Monate nach der Geburt der neuen Nation verkündete Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru: Das Licht, das der Vater der Nation hin­ terlassen habe, werde tausend Jahre leuchten.

Wie hell leuchtet dieses Licht heute? Um das herauszufinden, entschließe ich mich, Gandhis Spuren auf der Route des Salzmarsches zu folgen. In seinen Reden und Schriften ging es um Probleme, mit denen Indien noch immer zu kämpfen hat, und noch immer diskutieren die Inder über das Vermächtnis des Mannes, den sie Mahatma nennen, „Große Seele“.

Niemand bezweifelt den Einfluss, den die Lichtgestalt Gandhi in der ganzen Welt hatte; seine Idee vom gewaltfreien Widerstand inspi­rierte Martin Luther King, Nelson Mandela und den Dalai Lama. Doch in seiner Heimat ist der Gandhi­-Effekt nicht so klar erkennbar. Gandhi ist überall und nirgendwo. Sein Konterfei ziert die Rupie­-Banknoten. In vielen Städten gibt es Mahatma­Gandhi­Straßen und Statuen des Revolutionärs. Aber die Abwesenheit von Gan­dhi ist ebenso deutlich. Gandhi stellte sich ein Indien mit autarken Dörfern vor. Die Identi­tätsmerkmale Kaste und Religion sollten an Bedeutung verlieren. Die Politik sollte für Gleichheit und Frieden sorgen.

Wo ist das im modernen Indien zu finden? Die riesigen chaotischen Städte wie Delhi, Mumbai und Kolkata, der zwanghafte Materia­lismus der stark wachsenden Mittel­ und Ober­schicht, die Wahl des Hindu­Nationalisten Narendra Modi zum Premierminister, das Arsenal von Atomwaffen und die nicht enden wollende Gewalt gegen Frauen: All das erzählt von einer ganz anderen nationalen Identität.

„Indien ist schizophren in seiner Haltung zu Gandhi. Man sieht ihn entweder als Quelle alles Guten oder allen Übels“, sagt Tridip Suhrud, Direktor des Fonds, der den Aschram verwaltet, von dem aus Gandhi seinen Marsch begann. „Man kann mit ihm hadern, man kann ihn anhimmeln, aber man muss sich zumindest mit ihm auseinandersetzen, wenn man Indien ver­stehen will.“

Selbst zu Lebzeiten erwies sich Gandhi als schwieriger Mentor. Seine Forderungen waren kompromisslos. Seine Familie, Freunde und politische Verbündete maß er an höchsten mo­ralischen Maßstäben. Strenge Prinzipien in der Ernährung (er lebte zeitweise nur von Nüs­sen, rohem Gemüse und getrockneten Früch­ten) und der Sexualität (er legte ein Keusch­heitsgelübde ab und hielt sich die letzten 42 Jahre seines Lebens daran) entfremdeten ihn von den Menschen damals wie heute. Seine zahllosen Rollen – Politiker, Sozialreformer, Guru, Journalist, Friedensstifter, Erzieher, Er­finder – waren so unterschiedlich wie die Figu­ren in einem großen Roman. Gandhi hatte für jeden etwas im Angebot.

NG-Video: Die Fotografin Rena Effendi über Gandhis schwindenden Einfluss auf das moderne Indien

Am ersten Tag des Marsches, nur drei Kilo­meter von seinem Aschram entfernt, hielt Gan­dhi aus sentimentalen Gründen inne – vor ei­ner Universität, die er zehn Jahre zuvor als Alternative zum übergestülpten britischen Schulsystem gegründet hatte. Heute gelangt man durch einen Sandsteinbogen auf den grü­nen Campus der Gujarat Vidyapith. Die Studen­ten tragen weite Hemden und Hosen aus Khadi, dem handgewebten Stoff, der zu einem Symbol für Gandhis Revolution wurde. Er steht für die Ablehnung britischer Textilien und die Wieder­belebung der eigenen traditionellen Industrie.

Die Regeln, nach denen hier gelehrt und ge­lernt wird, mögen manchem rückständig vor­ kommen, doch Sudarshan Iyengar, Stiftungsrat der Universität und ein renommierter Ökonom, erklärt voller Stolz: „Wir bilden hier Studenten nach dem Prinzip Herz, Hand und Kopf aus, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Wie Gandhi formen wir den Charakter durch Ge­meinschaftsleben und ­-arbeit.“ Iyengars Glaube an Gandhis Philosophie ist so tief, dass er nicht einmal ohne Gewissensbisse seinen Laptop auf­ klappen kann. „Ich bin sicher, dass Gandhi den Computer als ein Werkzeug zur Stärkung des Individuums gesehen hätte“, sagt er. „Aber mir ist nicht wohl, wenn ich an die industrielle Her­stellung dieser Geräte denke und an die Men­schen, die dafür ausgebeutet wurden.“

Was hätte Gandhi getan? Das ist die Kern­frage auf diesem Campus. Die Studenten, denen ich begegne, sagen mit absoluter Ernsthaftig­ keit, dass Gandhi ihr Vorbild sei. Aber sie haben nicht vor, ihm blind zu folgen. Auf meine Frage, wer von ihnen zu Hause Khadi­Kleidung trägt, heben nur wenige die Hand. Doch plötzlich kommt eine Studentin mit einem pinkfarbenen Uhrarmband auf mich zu und ruft: „Wenn ich Khadi trage, fühle ich mich wie ein ganz beson­derer Mensch.“

Glocken läuten, das Gespräch bricht ab. Auf zum Spinnrad. Gandhi rief Frauen und Männer auf, pro Jahr mindestens 25 Meter Garn zu pro­duzieren, genug für den Eigenbedarf. So wollte er die Inder zu Disziplin und Selbstständigkeit erziehen, um sie auf die Unabhängigkeit vor­zubereiten. „Jede Drehung des Rads spinnt Frieden, Güte und Liebe“, predigte er.

Die Studenten gehorchen der Tradition, etwa 500 marschieren nun in Reih und Glied in den Hörsaal. Bei sich haben sie Kisten mit tragbaren Spinnrädern. Sie lassen sich im Schneidersitz nieder, nehmen Baumwollbüschel und begin­nen zu arbeiten. Ihre Arme bewegen sich vor und zurück, vor und zurück. Das einzige Ge­räusch ist das Surren Hunderter Räder, die Gandhis Botschaft flüstern.

Gandhi ging schnellen Schrittes, obwohl er mit 61 Jahren der Älteste auf dem Marsch war und seine Gelenke von Rheuma geplagt waren. Tag für Tag legte die Gruppe bis zu 19 Kilometer in der Hitze zurück, von Dorf zu Dorf, um dort zu beten, zu rasten, zu essen – und damit ihr Anführer vor dem begeisterten Publikum spre­chen konnte, das in den Dörfern auf ihn wartete. Gandhi war der erste bedeutende Inder, der den Kontakt zur Landbevölkerung suchte. Für ihn war das Dorf die Seele Indiens.

Würde Gandhi heute diese Orte besuchen, müsste er feststellen, dass auf dem Land in vie­lerlei Hinsicht die Zeit stehengeblieben ist. Im Dorf Vasana, in dem Baumwolle angebaut wird, haben die Teilnehmer des Marsches damals un­ter einem Mangobaum gerastet, der noch heute dort steht. Ich sehe eine Statue von Gandhi mit seinem Gehstock. Am Sockel liegt Müll. Kühe und Büffel trotten wie unter Hypnose über ei­nen Lehmweg, gefolgt von barfüßigen Jungen. Frauen in Saris eilen vorüber, sie balancieren Brennholz auf ihrem Kopf.

Eine Menschenmenge schart sich um mich, ein Mann in Jeans tritt vor und entschuldigt sich für das ungepflegte Denkmal. Ich frage ihn, ob hier jemand Khadi trage. Nicht mehr, antwortet er. Dann platzt es aus ihm heraus: „Die Leute kommen und reden über Gandhi, Gandhi, Gandhi. Aber nichts wird für uns getan. Es wird keine Entwicklungsarbeit geleistet“, beklagt er sich. „Wir brauchen eine Brücke über den Fluss und ein Dach über der Statue.“

Gandhis Vision von den Dörfern als dem fruchtbarsten Boden für Indiens Fortschritt ist heute nur noch ein utopischer Fiebertraum. Es sind die Städte, in denen es Arbeit, Schulen und soziales Leben gibt. Es sind die Probleme der Städte, die die Debatten der Politiker bestim­men: Umweltverschmutzung, Kriminalität, Überbevölkerung, Verkehr. Doch noch immer leben nahezu 70 Prozent der mehr als 1,2 Mil­liarden Inder auf dem Land. Für Gandhi, einen vom Leben Jesu Christi stark beeinflussten Hindu, war es das höchste Gebot, zu den Armen zu gehen, „zuerst sie zu speisen und dann selbst zu essen“. Er rief Freiwillige auf, in Dörfer zu ziehen und dorthin den Wandel zu tragen.

Einige hören diesen Ruf noch immer. Thal­kar Pelkar, ein ruhiger junger Mann, ist vor ei­nigen Jahren nach Pedhamali gezogen, eine Ansammlung von Lehmhäusern an einem tro­ckenen Flussbett im Westen Indiens. Als Absol­vent der Gujarat Vidyapith hatte er sich zu zwei Jahren unbezahlter Aufbauarbeit auf dem Land verpflichtet. Pelkar bezog ein Zimmer ohne Wasser und Strom. Um sich anzupassen, ließ er sich die Haare schneiden und lernte die regio­nale Sprache. Monatelang kämpfte er gegen Einsamkeit und Selbstzweifel. In sein Zimmer hängte er ein körniges Foto von Gandhi.

Was würde Gandhi tun? Die Frage lastete auf ihm wie ein Sack voller Steine.

Heute hängt das Porträt in seiner neuen Bleibe, einem verlassenen Haus, das er wieder hergerichtet hat. Pelkar sitzt mit seiner Frau Snehan und seinem Sohn Ajay auf dem Boden. Nach einigem Nachbohren zählt er auf, was er geschafft hat. Er hat die Molkerei wieder in Betrieb genommen, was den Frauen einen 19 Kilometer langen Weg zum Milchkauf erspart. Die Buchhaltung und die Geschäftsführung hat er Frauen übertragen. Er hat Eltern ermutigt, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die Anmeldungen haben sich auf mehr als 150 Schüler verdreifacht. Drei Jahre zuvor hatte er im Winter den sechsjährigen Ajay mutter­seelenallein auf der Straße gefunden. Und ihn adoptiert. Ob seine Arbeit hier getan ist? Pelkar seufzt. „Zuerst dachte ich, zwei Jahre wären genug, um mein Projekt zu vollenden. Jetzt glaube ich, es ist eine Lebensaufgabe.“

Die Menschenmassen jubelten Gandhi auf dem Salzmarsch mit einer Euphorie zu, wie man sie im heutigen Indien nicht mehr kennt. Frauen strömten zu Hunderten auf die Straßen und begleiteten den Marsch durch die Städte. Weil er fürchtete, der Zug könnte angegriffen werden, hatte Gandhi nur Männer für seine Mission ausgewählt, doch Frauen waren für ihn seine eigentlichen Verbündeten. „Ich glaube, sie haben ein tieferes Verständnis für Gewalt­freiheit als Männer“, sagte er. „Nicht weil sie schwach sind, was Männer in ihrer Überheb­lichkeit glauben, sondern weil sie mutiger sind.“

Wie in vielem war Gandhi auch mit seiner Kampagne für die Gleichheit der Geschlechter seiner Zeit voraus. Er erhob seine Stimme gegen Kinderheirat, Gewalt gegen Frauen, gegen das Mitgiftsystem und fehlende Bildung für Mäd­chen. Im Grunde ist Indien nach wie vor eine konservative, patriarchalische Gesellschaft. Aber auch der Widerstand im Geiste Gandhis ist nicht abgeebbt.

„Meine Stärke, das sind meine Frauen“, sagt Ela Bhatt, die Gründerin der Self­Employed Women’s Association (Sewa), einer Gewerk­schaft und Kooperative mit mehr als 1,8 Millio­nen Mitgliedern. Sie empfängt mich in ihrem schlichten Zuhause. Auf ihrer gemütlichen Gartenbank wirkt Bhatt wie eine sanftmütige Großmutter, aber die Geschichte, die sie er­zählt, ist eine Geschichte über eiserne Ent­schlossenheit. Drei Jahre nach dem Salzmarsch geboren, wurde sie als erwachsene Frau Anwäl­tin. Später kündigte sie ihren Job bei einer Tex­tilgewerkschaft und gründete 1972 die Sewa. Für eine Handvoll Rupien hatten Frauen jetzt Zugang zu Ausbildungskursen, Bankkrediten, Krankenversicherung und Kinderbetreuung.

„In Indien sind Frauen immer als Menschen zweiter Klasse behandelt worden“, sagt sie. „Aber sie sind die eigentlichen Familienober­häupter. In ihren Händen ist das Geld sicherer.“

Alles, wofür Gandhi steht, ist für Bhatt selbst­ verständlich. Ihr Großvater, ein Arzt, wurde während der Salzproteste verprügelt und ins Gefängnis gesteckt. Ihre Eltern schlossen sich der Unabhängigkeitsbewegung an. „Ich ver­danke dem Geist jener Zeit so viel“, sagt sie. „Ich war voller Idealismus.“ Bhatts Organisation setzte eine eigene Revolution in Gang. Nach ihrem Vorbild entstanden überall in Südasien Frauenkooperativen. „Ich bin weder Gandhi­ Gelehrte noch eine Verehrerin“, betont sie. „Ich praktiziere Gandhi.“

Wo Sewa aktiv ist, da sind die Dörfer anders, da sind die Frauen mutiger und selbstsicherer. In einem provisorisch hergerichteten Haus mit kleinen Fenstern in Sihol, nahe der Salz­marschstadt Anand, sitzen einige von ihnen an hölzernen Webstühlen und fertigen Saris und Tücher. Früher, erzählt Gauriben Vankar, habe sie für ein paar Rupien am Tag auf den Tabak­ feldern gearbeitet. Heute verdiene sie das Viel­fache mit jedem einzelnen Sari, den sie webt.

Gandhi war ein Provokateur, der seine Zuhörer gern herausforderte. In Gajera, zehn Tage nach Beginn des Marsches, saß er auf ei­nem Podium vor einer erwartungsvollen Menge und schwieg. Das Publikum wurde unruhig. Schließlich sagte Gandhi, er könne seine Rede nicht halten, es sei denn, die Dorfvorsteher wür­den Unberührbare in ihrer Mitte aufnehmen.

Die anderen Hindus mieden den Kontakt zu den als unrein geltenden Angehörigen der nied­rigsten Gemeinschaft. Diese Menschen verrich­teten die schmutzigsten Arbeiten und waren vom Dorfleben ausgeschlossen. Sie durften weder Tempel betreten noch Wasser aus den Brunnen schöpfen. Es war ihnen sogar verbo­ten, dass ihre Schatten andere Hindus berüh­ren. Was Gandhi nun von seinen Anhängern verlangte, war wohl die größtmögliche Prüfung. Beschämt gaben die Dorfvorsteher ein Zeichen, und die Unberührbaren, die abseits auf einem Hügel saßen, durften sich ihnen anschließen.

In Gajera finde ich die Dalits, die „Gebroche­nen“, wie sie heute genannt werden, in blau gestrichenen Hütten am Rande des Dorfes. Ihr Leben hat sich seit Gandhis Besuch etwas ver­bessert. „Früher mussten wir unsere eigenen Tassen in die Teestuben mitbringen“, erzählt eine Frau. „Und wenn wir Getreide zum Haus einer höheren Kaste brachten, dann haben sie den Fußboden hinterher mit Wasser gereinigt.“

Doch an ihrer Armut hat sich wenig geändert. In Gajera arbeiten die meisten älteren Dalits in den Rizinusplantagen. Manche der jüngeren haben schlecht bezahlte Jobs in einer Glas­fabrik. Nur in Städten begegne ich einigen „Ge­brochenen“, die in die Mitte der Gesellschaft drängen. In einer Straßenkehrersiedlung in Delhi, die Gandhi öfter besuchte, erzählen mir ein paar junge Dalits stolz, sie seien Studenten, die ersten in ihren Familien, die dank staat­licher Stipendien eine Universität besuchten.

Endlich konnten sie das Meer hören. Mehr als drei Wochen waren die Marschteilnehmer gewandert, und jetzt näherten sie sich dem Küs­tendorf Dandi. Indien und die ganze westliche Welt blickten auf sie. Auf das, was nun passieren würde, hatte sich ihr Anführer jahrzehntelang vorbereitet.

Gandhi hatte sich nicht in Indien, sondern in Südafrika zum Aktivisten entwickelt. Nach sei­ner Ausbildung zum Anwalt in London kam er 1893 im Alter von 24 Jahren in das Land am Kap an und sah den aggressiven Rassismus und die Ungerechtigkeit. Er wurde inhaftiert, weil er Demonstrationen gegen Rassendiskriminie­rung angeführt hatte. Im Gefängnis studierte er die Bibel , den Koran und die Werke von Lew Tolstoi, Henry David Thoreau und John Ruskin. Als er 1915 nach Indien zurückkehrte, hatte er seine Philosophie des Satyagraha entwickelt, der politische Gegner sollte durch gewaltfreien Widerstand, Geduld und Mitgefühl überzeugt werden.

Für viele Historiker, Biografen und Akti­visten war der Salzmarsch Gandhis größte Leistung. Die Märsche, das Fasten, der zivile Ungehorsam, das Mobilisieren von Frauen, Ju­gendlichen und Besitzlosen: Gandhi hatte neue Formen des Widerstands entwickelt, die von sozialen Bewegungen bis heute eingesetzt wer­den. Indische Aktivisten organisieren nach Gandhis Vorbild gewaltfreie Kampagnen, ins­besondere zu Umweltthemen wie der Zerstö­rung der Wälder und dem Aufstauen der Flüsse.

„Als Gandhi­-Anhänger predigt man nicht nur, man handelt“, sagt der Aktivist P. V. Raja­ gopal. Er weiß, wie entschlossen die Anhänger sind. Etwa wenn es um Landraub geht. Seit Gandhis Zeiten haben die Armen in Indien ständig Land durch staatliche Bauprojekte, kor­rupte Grundherren oder Naturkatastrophen verloren und dafür wenig oder keine Entschä­digung erhalten. Für Rajagopal und seine Orga­nisation Ekta Parishad („Solidarischer Bund“) musste ein moderner Salzmarsch her. Um Teil­nehmer anzuwerben, reiste Rajagopal mit sei­nen Unterstützern fast ein Jahr durch Indien.

An einem sengend heißen Tag sprach er auf einem Schulhof in Chhatapur im Bundesstaat Bihar zu einigen Hundert Menschen, haupt­sächlich Dalit­-Frauen. „Wir bitten nicht um Computer oder Fernseher oder Autos und an­dere Annehmlichkeiten“, sagte Rajagopal in ein fiependes Mikrofon. „Wir fordern Land, um Häuser errichten zu können und um Nahrungs­mittel anbauen zu können. Wir haben lange genug gewartet. Wer kommt mit mir auf einen Marsch nach Delhi?“ Die Hände schnellten in die Höhe. Rajagopal, ein kleiner Mann mit ergrauendem Haar, senkte dankend den Kopf.

Der Fußmarsch als spiritueller Akt, als eine Botschaft. Sechs Monate später erstreckt sich diese Botschaft buchstäblich kilometerlang auf einer Straße nach Delhi. Zehntausende in Dreierreihen. Sie starten bei Anbruch der Däm­merung. Am Nachmittag, nach etwa 16 Kilo­metern, machen sie im Schatten einiger Bäume Halt und essen Linsen mit Reis. „Wir haben nichts mehr zu verlieren“, sagt eine Frau aus Bihar kämpferisch. „Die Tage auf der Straße sind nichts im Vergleich zu dem, was wir tagtäg­lich durchmachen.“

Mohandas Gandhi brach das Gesetz am frü­hen Morgen des 6. April 1930. Am Strand von Dandi bückte sich der Mann, den Freunde und Fremde Bapu, „Vater“, nannten, und schöpfte eine Handvoll Schlamm. Seine Geste beendete die britische Herrschaft nicht, doch sie sorgte für Risse im Fundament, die 17 Jahre später zur Unabhängigkeit des Landes führten.

Es ist heute nicht leicht, sich die Szene vor­zustellen. Die Küstenlinie hat sich verändert, wo Gandhi das Salz aufnahm, ist der Boden jetzt trocken. Es ist auch nicht leicht, Gandhi in ei­nem Indien zu finden, das sich so rasch ver­ändert. Aber wenn man genauer hinblickt, kann man ihn entdecken inmitten der Kakofonie und der Kompliziertheit des ländlichen und ur­banen Lebens. Dann sieht man den Geist des Widerstands.

Zwar ist Gandhi in mancherlei Hinsicht tra­gisch gescheitert, er war zum Beispiel unfähig, den Konflikt zwischen Hindus und Muslimen und die Abspaltung Pakistans zu verhindern. Doch zugleich sieht man am Strand von Dandi muslimische und hinduistische Familien, die nebeneinander in die Brandung waten, die Frauen mit gelüfteten Saris oder nach hinten geschobenen Kopftüchern. Sie sind der lebende Beweis für die Widerstandsfähigkeit der säku­laren, toleranten Demokratie, die Gandhi seiner Nation als Erbe hinterlassen wollte.

Das Licht in der Dunkelheit, wie Nehru Gandhis Vermächtnis beschrieb, führt mich zum Abschluss meiner Reise in den Bundes­staat Maharashtra. Dort hat sich die Society for Education, Action and Research in Community Health (Search) etabliert. Seit Mitte der Acht­zigerjahre bildet das Ärztepaar Abhay und Rani Bang gemeinsam mit Kollegen Frauen zu Ge­sundheitshelferinnen aus. Die meisten der Frauen können weder schreiben noch lesen. Die Erfolge von Search sind unglaublich. In 124 Dörfern arbeitet die Initiative mittlerweile, und überall, wo ihr Modell der Neugeborenenver­sorgung übernommen wurde, ist die Säuglings­sterblichkeit drastisch zurückgegangen.

Abhay Bang ist Gandhi nie begegnet, aber er ist in dessen Sevagram­-Aschram in Maharashtra aufgewachsen. Bang sitzt an einem Schreib­tisch, auf dem sich Berichte stapeln, und erzählt mir, dass auch hier im Zentrum von Search Gandhis Regeln gelten: nicht rauchen, nicht trinken, beim wöchentlichen Putzen helfen, am Abendgebet und an Gesprächsrunden teilneh­men. Verbessere das Leben anderer, lautet das ungeschriebene Gesetz. Die „Große Seele“ lebt hier weiter.

Man kann sogar sagen, dass Bang mit ihr spricht. Oft diskutiere er in Gedanken mit Gandhi, erzählt er. Etwa über Dinge wie Um­weltverschmutzung, religiös motivierte Gewalt und gesunde Ernährung. „Der große alte Mann hat so viel prophezeit“, sagt Bang. „Und wohin du auch schaust: Du wirst überall seine Ideen finden.“

(NG, Heft 10 / 2015, Seite(n) 118 bis 137)

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