Tief in Down Under

Niemand erforscht Canyons so leidenschaftlich wie die Australier. Lesen Sie hier eine abenteuerliche Expedition in die Blue Mountains und gewinnen Sie tolle Preise aus dem NG-Sortiment.

Von Mark Jenkins
Foto von Carsten Peter

Die Schweizer haben hohe Berge, also klettern sie. Die Kanadier haben viele Seen, deshalb fahren sie Kanu. Die Australier haben tiefe Canyons, daher betreiben sie: canyoning. Das ist eine be­sondere Form des Irrsinns, etwas zwischen Berg­steigen und Höhlenklettern, wobei es eher hinab- als hinaufgeht, oft durch nasse Tunnel und enge Durchgänge. Gewiss, es gibt auch andere Gegenden mit tief eingeschnittenen Schluchten – Korsika, Utah, Jordanien –, doch niemand hat wohl mehr Erfahrung im Canyonklettern als die Aussies. Man könnte sagen, dass es sich um eine extreme Form des Wildniswanderns handelt, das die Australier bushwalking nennen. Die Aborigines hatten es schon Tausende Jahre lang getan, bevor die Europäer ihr Land besiedelten.

Tausende wandern durch Canyons. Hunderte wagen es, sich abzuseilen. Aber nur eine Handvoll erforschen unbekanntes Terrain. Man er­kennt sie an Beinen wie Rugbyspieler und den kreuz und quer über ihre Knie verlaufenden Narben von all den Kratzwunden aus dem Busch.

Diese Abenteurer ertragen kaltes Wasser wie ein Pinguin. Sie springen über Felsen wie ein Wallaby. Sie kriechen in feuchte, dunkle Löcher wie ein Molch. Alle tragen am liebsten volleys – Dunlop-Tennisschuhe aus Segeltuch mit Gummisohlen –, dazu Shorts, alte Gamaschen und Fleece-Pullover vom Flohmarkt.

Sie kampieren neben winzigen Lagerfeuern und ernähren sich morgens, mittags und abends von jaffles. Das sind mit jeder denkbaren Zutat (auch dem gewöhnungsbedürftigen Hefeextrakt Vegemite) belegte Sandwiches, die in Spezial­pfannen über dem Feuer gegrillt werden.

Vor allem sind sie ständig auf der Suche nach Schluchten. Hauptsache, entlegen und schwer zu erreichen. «Je dunkler, je enger, je gewunde­ner, desto besser», sagt David Noble, einer der erfahrensten Kletterer. «Die Leute fragen uns immer wieder: Was passiert, wenn du da unten festsitzt? Darauf legen wir es an. Improvisieren zu müssen, um wieder rauszukommen.»

In den vergangenen 38 Jahren hat Noble in den Blue Mountains, westlich von Sydney, mehr als 70 Erstbegehungen gemacht. In dieser zer­klüfteten Landschaft gibt es Hunderte steile Canyons. Die Blueys sind kein Gebirge, sondern ein Sedimentplateau, in das Flüsse und Bäche tiefe Einschnitte gegraben haben. Es ist dicht mit Eukalyptusbäumen bewachsen.

Der 57-jährige Noble verweigert sich allen Konventionen. Er hat noch nie am Steuer eines Autos gesessen. Jeden Tag fährt er mit dem Fahrrad knapp 30 Kilometer durch Sydneys Au­ßenbezirke, um an einer Highschool Physik zu unterrichten. Er hat zwar von den Canyons, die er erkundet und Cannibal, Crucifixion (Kreu­zigung) oder Resurrection (Wiederauferste­hung) benannt hat, Landkarten angefertigt und Fotos auf seine Internetseite gestellt. Aber er verrät niemandem, wo diese Schluchten liegen, und verweigert mir, genau auf seine Karten zu schauen. «Ich will die Canyons nicht bekannt machen», sagt er. «So bleiben sie ursprünglich und für andere eine Herausforderung, sie selber zu erkunden. Das ist Teil ihrer Magie.»

Das sehen manche anders. Nobles größter Rivale ist Rick Jamieson, ein gutmütiger Bär von einem Mann, ebenfalls Physiklehrer. Vor mehr als einem Jahrzehnt nahm er mich mit auf den jeweils ersten kompletten Abstieg in zwei große Schluchten: in die Bennett Gully und die Orongo. Kritik handelte er sich ein, als er ein Buch ver­öffentlichte, in dem er manche Geheimnisse der Canyonregion preisgab.

Jamieson ist jetzt 70, doch immer noch in den Schluchten unterwegs. Auch das herzhafte Lachen ist ihm geblieben. «Mighty!», ruft er mit australischem Akzent, als wir uns auf ein Bier treffen. «Wie gut, dass GPS dort unten nicht funktioniert. So bleibt es ein Abenteuer.»

Vor gut 60 Jahren begannen die ersten weißen Australier, in den Canyons zu klettern. Die tiefs­ten Schluchten wurden jedoch erst in den sech­ziger Jahren erkundet, als moderne Kletteraus­rüstung zur Verfügung stand. Der Danae Brook Canyon liegt versteckt im labyrinthartigen Zen­trum der Blue Mountains und ist bis heute eines der schwierigsten Reviere. In seinem Buch schreibt Jamieson von einer «sehr, sehr langen Tagestour», bei der die Kletterer sich mindestens neunmal auf schwierige Weise abseilen müssen. Beide, Jamieson und Noble, haben diese Route geschafft, können mich aber nicht begleiten. Der drahtige John Robens brennt hingegen darauf, es zu versuchen.

Wir treffen uns bei ihm zu Hause in Sydney. Fast jedes Wochenende eilt der 39-jährige Computerexperte aus der Stadt ins Outback. Robens – Strubbelhaare, sanfte Stimme, trockener Hu­mor – ist wie Noble immer nur mit dem Fahrrad unterwegs. Er hat Oberschenkel wie Lance Arm­strong. Mit seiner Frau Chuin Nee Ooi, auch sie Computerexpertin und Meisterin im Canyon­klettern, lebt er in einem eher bescheidenen Haus im Stadtzentrum. Dort sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm: Karabinerhaken, Klet­terseile und schlammverkrustete Klamotten liegen verstreut zwischen Computern und CDs, Kaffeetassen und einem Konzertflügel. Eine große Holzkiste auf der engen Veranda ist bis oben voll mit ausgelatschten Volleys.

Wir fahren von Sydney aus vier Stunden nach Westen und zelten im Kanangra-Boyd-Nationalpark. Frühmorgens wandern wir den Feuer­wehrpfad am Mount Thurat hinab. Unsere Rucksäcke sind schwer von Nassanzügen, Seilen und einem Lunchpaket. Wir überqueren den Kanangra Creek, dann geht es in den Busch.

Keine Wege mehr. Wir orientieren uns mit einer Karte und GPS. Canyonkletterer eint die Fähigkeit, rasch in scheinbar undurchdringlichem Gestrüpp voranzukommen. Ich kann Robens kaum folgen. Wir springen über umge­stürzte Bäume, schlagen uns quer durchs Gebüsch. Immer wieder riesige Netze. Mausgroße Spinnen laufen über meinen Nacken. «Keine Sorge», sagt Robens vergnügt. «Nur auf dem Boden lebende Spinnen können dich töten.»

Mein Begleiter ist noch nie in dieser Gegend gewesen – aber nach kaum einer Stunde erreichen wir genau das obere Ende des Danae-Wasserfalls. Der Danae Brook schießt hier in die Tiefe. Robens weist auf einen nicht sehr vertrauenerweckend über die Klippe ragenden Baum: «Von dort müssen wir uns abseilen.»

Wir zwängen uns in die Nassanzüge, setzen die Helme auf, legen Klettergurte an und schwingen uns hinaus. So weit oben hat sich der Danae Brook noch nicht in den Fels gefräst, und wir hangeln wir uns durch Schwaden neben dem Wasserfall hinab. Immer wieder rutschen unsere Füße auf riesigen Farnwedeln weg.

Bei der nächsten Seillänge hat der Danae Brook eine gut meterbreite, 15 Meter tiefe Spalte geformt. Wir steigen an ihrem Innenrand hinab und schauen hinaus auf einen senkrechten Strei­fen blauen Himmels.

Dann der dritte Seilabschnitt. Wir stehen ganz oben auf einer abschüssigen und glitschigen Felskante, jedoch tief in einem Ein­schnitt. Das Wasser prasselt auf uns herunter. «Wir müssen innen an dem blöden Felsblock vorbei», ruft Robens. «Das Seil darf sich hier auf keinen Fall verklemmen.» Die Felswände sind mit Moos überwuchert. Was folgt, kommt mir vor, als müsste ich mich durch einen engen zehnstöckigen Fahrstuhlschacht zwängen, in den jemand riesige Wassermengen schüttet. Wir müssen uns am Seil in den Was­serfall schwingen, prallen gegen den Fels, fangen uns wieder. Aber es ist die Anstrengung wert. Bald stehen wir in einer Pfütze am Grund – und können problemlos unser Seil einholen.

Unter dem gewaltigen Felsbrocken verengt sich die Spalte. Das Wasser fließt nun in sanftem Strom waagerecht durch eine höhlenartige Kam­mer bis zur vorderen Kante. 300 Höhenmeter liegen noch vor uns. Direkt im Wasserfall seilen wir uns ab. Auf halber Strecke mache ich den Fehler, nach oben zu schauen – der Schwall reißt mir beinahe den Kopf ab.

Die folgenden drei Seillängen sind genauso abenteuerlich. Jedes Mal landen wir auf Felsstufen in eiskalten Wasserbecken.

Als wir gegen 10 Uhr auf einem sonnenbe­schienenen Fels Rast machen, besucht uns eine neugierige Australische Wasseragame: eine halb­meterlange dinosaurierähnliche Eidechse mit leuchtendem Kamm. Wir trinken direkt aus dem kühlen, köstlichen Bach. Als ich meinen Kopf in das smaragdgrüne Wasser tauche, sehe ich am Grund blauschalige Flusskrebse, yabbies genannt. Wir befreien uns aus den Nassanzügen. Robens setzt den Weg im Adamskostüm fort, ich ziehe Nylonhosen an. Zwei Wochen zuvor bin ich in einem anderen Canyon in einen Aus­tralischen Brennnesselbaum geraten, der einen bösen Juckreiz auslöste – ungefähr wie Brenn­nesseln, nur dass das schmerzhafte Gefühl einen Monat lang anhält. Und das an einer besonders empfindlichen Körperregion.

Es folgen mehrere kurze Abstiege und zwei Sprünge. Robens stürzt sich mit einem Jubel­schrei von dem Felsblock, wirft Arme und Beine in die Luft und schließt sie wie ein Schmetter­ling, bevor er sechs Meter tiefer ins Wasser taucht. Unten tost der Danae über einen steilen felsübersäten Abhang. Robens springt, landet auf einem glitschigen Stein, rutscht, springt abermals. Alles in einer fließenden Bewegung. Stolpernd sehe ich ihm zu. Er scheint für diese Wildnis geboren zu sein.

Wie Bergsteiger auf dem Gipfel können wir noch längst nicht feiern. Auch beim Canyonklettern gibt es einen Rückweg. Bergauf. Wir rasten zehn Minuten lang, dann beginnen wir mit dem elend langen Aufstieg. Meter für Meter ziehen wir uns nahezu senkrecht von Ast zu Ast und erreichen schweißnass das wie eine Halb­insel vorspringende Plateau der Gangerang Range, direkt gegenüber dem Danae Brook Can­yon. Wir schreien vor Freude. Hier beginnt ein bequemer Wanderweg.

Die Sonne im Rücken, träume ich vom Avo­cado-Tomaten-Schinken-Provolone-Sandwich, das ich heute abend am Lagerfeuer braten wer­de. Mir ist warm, ich bin müde, fühle Körper und Geist gereinigt. Plötzlich biegt Robens ins Gebüsch ab. «Muss dir was zeigen», ruft er. Wir zwängen uns an einem Sandsteinvorsprung vor­bei, und plötzlich fällt unser Blick auf Aborigine-Kunst. Eine Reihe von ockerfarbenen Strichfiguren, dem Anschein nach nackt, alle mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen und sichtlich frohgemut. Wie Canyonkletterer.

(NG, Heft 10 / 2011, Seite(n) 48 bis 69)

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