Wildnis braucht das Hirn

Berge, Bäume, Wasser: Forscher sind sicher, dass die Natur das beste Heilmittel für unser strapaziertes Denkorgan ist.

Von Florence Williams
Foto von Lucas Foglia

Zusammenfassung: Natur entspannt, gibt Kraft, steigert die Aufmerksamkeit, macht gesund! Weltweit erforschen Wissenschaftler in unterschiedlichen Projekten die Auswirkungen der Natur auf den Körper und Geist der Menschen. Sie fanden heraus, dass regelmäßige Aufenthalte in der Natur das Risiko für Krankheiten mindern, die geistige Leistung stärken und psychischen Stress senken. Die Forscher sind sich einig, die Natur ist das beste Heilmittel für unser strapaziertes Denkorgan.

Auf dem Weg in die Wildnis kann man sich keinen besseren Fahrer vorstellen als David Strayer. Nie würde er am Steuer eine SMS schreiben oder telefonieren. Nie würde er es- sen. Strayer ist Psychologe an der Universität von Utah. Sein Spezialgebiet: Aufmerksamkeit. Er weiß, wie fehleranfällig unser Gehirn ist, vor allem wenn wir versuchen, mehrere Dinge gleichzeitig tun. Er hat herausgefunden, dass das Benutzen eines Handys die Aufmerksamkeit der meisten Autofahrer genauso stark beeinträchtigt, als hätten sie Alkohol getrunken. Strayer weiß, wie uns das moderne Leben mit seinen vielfältigen Anforderungen stresst.


Als begeisterter Rucksackreisender kennt er aber auch ein Gegenmittel: die Natur.


Am dritten Tag unserer Exkursion in die wilden Canyons von Utah rührt Strayer in einem gewaltigen Eisenkessel mit Hühnchenfleisch und erklärt 22 Psychologiestudenten den „Dreitageeffekt“. Unser Gehirn, sagt er, sei keine drei Pfund schwere Dauerlaufmaschine. Es ermüde leicht. Und darum solle man zwischendurch mal Tempo rausnehmen, die Arbeit unterbrechen und eine schöne natürliche Umgebung auf sich wirken lassen. Danach fühle man sich nicht nur besser, man sei auch geistig leistungsfähiger.


Dass dies tatsächlich so ist, hat Strayer schon früher an einer anderen Gruppe studentischer Camper nachgewiesen. Nach einer dreitägigen Wanderung durch die Wildnis schnitten die Teilnehmer bei Aufgaben zur kreativen Problemlösung um 50 Prozent besser ab als vorher. Der „Dreitageeffekt“, sagt er, sei eine Art Reinigung der geistigen Windschutzscheibe, ausgelöst durch den Aufenthalt in der Natur. Bei unserer Exkursion möchte er nun den Reinigungsprozess in Aktion erfassen: indem er seine Studenten – und mich – an ein EEG anschließt, ein Gerät, das die Aktivität des Gehirns aufzeichnet.

Die Abendsonne färbt die Canyonwände rot. Die Gruppe ist matt, müde und hungrig – aber auf jene zufriedene Art, wie sie beim Campen typisch ist. Strayer sieht tatsächlich sehr entspannt aus trotz seines verschwitzten T-Shirts und seines leichten Sonnenbrands. „Vom dritten Tag an sind meine Sinne neu geeicht. Ich rieche und höre Dinge, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Ich bin dann mehr im Einklang mit der Natur“, sagt er. „Und ich kann besser denken.“

Aber warum? Strayer vermutet, dass der Aufenthalt in der Natur es dem Befehlszentrum des Gehirns – dem präfrontalen Cortex – ermöglicht, einen Gang zurückzuschalten und sich zu erholen – wie ein überbeanspruchter Muskel. Das EEG wird zeigen, ob er recht hat: Dann müsste jene Form der Hirnaktivität schwächer sein, die konzeptionelles Denken und den Grad der Aufmerksamkeit widerspiegelt. Strayer wird die Daten der Studenten im Wald mit denen anderer Freiwilliger vergleichen. Eine Gruppe dieser Probanden sitzt in einem Labor, eine zweite hält sich auf einem Parkplatz in der Innenstadt von Salt Lake City auf.

Während das Fleisch gart, stülpen seine Studenten eine Art Badekappe mit zwölf angeschlossenen Messelektroden über meinen Kopf. Sechs weitere Elektroden befestigen sie mit Saugnäpfen an meinem Gesicht. Von dort leiten Kabel die elektrischen Signale meines Gehirns an ein Aufzeichnungsgerät.

An diesen Drähten hängend, gehe ich vorsichtig zu einer grasbewachsenen Böschung am San Juan River. Ich soll dort einfach zehn Minuten ruhig sitzen, an nichts Besonderes denken, nur den breiten, glitzernden Fluss betrachten, der gemächlich dahinfließt. Schon seit Tagen habe ich in keinen Computer und auf kein Handy geschaut. Für ein paar Augenblicke vergesse ich, dass ich so etwas überhaupt jemals besessen habe.

Es war 1865, als der Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmstedt auf das Yosemite-Tal blickte und eine Welt sah, die ihm bewahrenswert erschien. Er drängte die kalifornischen Gesetzgeber, die Region unter Schutz zu stellen. Olmstedt hatte bereits den Central Park in New York City gestaltet und war überzeugt davon, dass schöne Grünflächen allen Menschen zugute kommen sollten. „Es ist wissenschaftlich erwiesen“, schrieb er, „dass das gelegentliche Betrachten eindrucksvoller natürlicher Landschaften (...) der Gesundheit und Kraft der Menschen und speziell der Gesundheit und Kraft ihres Geistes zuträglich ist.“

Olmstedt hatte geflunkert; seine Behauptung gründete sich weniger auf Wissenschaft als auf Intuition. Allerdings eine Intuition mit langer Tradition. Sie reicht mindestens bis zu Kyros dem Großen zurück, der schon vor rund 2500 Jahren in Persiens geschäftiger Hauptstadt Pasagardai Erholungsparks anlegen ließ. In Europa schrieb der Heilkundige Paracelsus im 16. Jahrhundert: „Die Kunst des Heilens kommt von der Natur und nicht vom Arzt.“ Und der britische Dichter William Wordsworth notierte 1789, an den Ufern des Flusses Wye sitzend, dass „ein Auge, das von der Macht der Harmonie zur Ruhe gebracht“ wurde, imstande sei, „das Fieber dieser Welt“ zu lindern. Ob belegt oder nicht: Das Argument, dass die Natur heilsam ist, stützte jedenfalls die Forderungen Olmstedts; bald darauf wurden die ersten Nationalparks gegründet.

Tatsächliche wissenschaftliche Beweise für das segensreiche Wirken der Natur gab es damals kaum – doch das hat sich geändert. Weltweit leiden Menschen unter Übergewicht, Depression und Kurzsichtigkeit, unter Gesundheitsproblemen, die auch darauf zurückgeführt werden, dass die Menschen zu viel Zeit „drinnen“ verbringen. Darum untersuchen Forscher heute gründlicher als je zuvor, wie die Natur unser Gehirn und unseren Körper beeinflusst. Neurowissenschaftler und Psychologen erfassen in Kurven und Zahlen, was einst göttlich und mysteriös erschien, sie messen Stresshormone, Herzfrequenz und Hirnaktivität. Und ihre Ergebnisse deuten darauf hin: Wenn wir Zeit im Grünen verbringen, „geht Grundlegendes vor sich“, wie Strayer es formuliert.

In England haben Forscher der medizinischen Fakultät an der Universität von Exeter Daten zur psychischen Gesundheit von 10.000 Stadtbewohnern ausgewertet und auf Karten abgeglichen, wo die Teilnehmer in den vergangenen 18 Jahren gelebt hatten. Ein Ergebnis: Menschen, die in der Nähe von Grünanlagen wohnten, klagten weniger über psychischen Stress. Das galt auch, wenn man Faktoren herausrechnete, die ebenfalls die Gesundheit beeinflussen, zum Beispiel Einkommen, Bildung und Beschäftigung.

Niederländische Forscher fanden im Jahr 2009 heraus, dass 15 Krankheiten – darunter Depression, Angst, Herzleiden, Diabetes, Asthma und Migräne – bei Menschen seltener vorkommen, die höchstens einen Kilometer von einer Grünanlage entfernt wohnen.

Im vergangenen Jahr verglich ein internationales Forscherteam den Stadtplan Torontos in Kanada mit den Ergebnissen einer Umfrage unter mehr als 31.000 Bewohnern und kam zu dem Schluss: Menschen, die in Straßen mit überdurchschnittlich vielen Bäumen wohnten, hatten deutlich weniger Herz­ und Stoffwechselkrankheiten. Andere Untersuchungen ergaben, dass bei Menschen, die in der Nähe von Grünanlagen wohnen, weniger Stresshormone im Blut zirkulieren – und dass sie länger leben.

Aus diesen Fakten auf das „Warum“ zu schließen, ist allerdings schwierig. Liegt es an der frischen Luft? Lösen bestimmte Farben oder Formen positive neurochemische Vorgänge in unserem Gehirn aus? Oder bewegen sich Menschen in grüneren Stadtvierteln einfach mehr, weil es dort mehr Gelegenheiten zum Joggen oder Spazierengehen gibt?

Richard Mitchell, Arzt an der Universität von Glasgow, glaubte zunächst an genau diesen „Bewegungseffekt“. Doch dann startete er eine eigene Untersuchung. Es stellte sich heraus, dass Menschen, die in der Nähe von Parks oder anderen Grünanlagen wohnten, auch dann seltener krank waren, wenn sie die Natur gar nicht aktiv nutzten. Auch die Sterberate war in diesen Gegenden niedriger als in Betonwüsten. Andere Studien belegen den Effekt. Am meisten scheinen übrigens Menschen mit geringem Einkommen vom Grün zu profitieren. Die Untersuchung aus Toronto hatte ergeben, dass sich ein Leben am Park auf die Gesundheit so positiv auswirkt wie ein um 18.500 Euro höheres Jahreseinkommen. In der Stadt, so Mitchell, gleicht die Nähe zur Natur soziale Unterschiede aus.

Grünes reduziert Stress auf vielfältige Weise. Wer Bäume und Wiesen vor seinem Fenster sehen kann, erholt sich im Krankenhaus schneller, erbringt in der Schule bessere Leistungen und ist weniger gewalttätig – sogar in Vierteln, wo Gewalt zum Alltag gehört. Auch diese Beobachtungen werden von Experimenten bestätigt. Egal ob man Stresshormone misst, Atmung, Herzfrequenz oder Hautfeuchtigkeit, man kommt zu dem Ergebnis: Schon eine kleine Dosis Natur kann Menschen beruhigen und ihre Leistungsfähigkeit steigern. Das funktioniert sogar, wenn man ihnen nur Bilder einer natürlichen Umgebung präsentiert, wie die schwedische Ärztin Matilda von den Bosch zeigen konnte. Sie ließ Versuchspersonen schwierige Mathematikaufgaben lösen. Bei denen, die danach 15 Minuten lang dreidimensionale Bilder von Naturszenen sehen durften und Vogelstimmen hörten, beruhigte sich der Herzschlag rascher als bei denen, die in einem gewöhnlichen Zimmer saßen.

Ein ähnlicher Versuch läuft derzeit in der Justizvollzugsanstalt Snake River im Osten von Oregon. Eine Gruppe von Gefangenen betreibt dort mehrmals pro Woche Sport in einem Raum, in dem an den Wänden Naturvideos laufen. Die andere in einer Sporthalle ohne Videos. Die Vollzugsbeamten berichten bereits von ersten Ergebnissen: Die erste Gruppe trainiere viel ruhiger als die andere, in der die Häftlinge häufig herumbrüllten.

All diese Hinweise auf die heilende Wirkung des Grünen fallen in eine Zeit, in der immer mehr Menschen kaum noch hinausgehen, beklagt Lisa Nisbet, Psychologieprofessorin an der Universität Trent in Kanada. In Umfragen sagen zwar viele, wie toll sie Nationalparks und Gärten fänden, doch in Zeiten von Internet und E­Mail kommen immer weniger ins Freie – Jugendliche noch seltener als Erwachsene. Nach einer Untersuchung der Harvard School of Public Health verbringen amerikanische Erwachsene mehr Zeit in ihrem Auto als „draußen“. Zu ähnlichen Ergebnissen kam kürzlich das Freiburger Institut für Angewandte Sozialwissenschaften. Die Forscher betonen, wie wichtig für Kinder das Spielen im Freien ist – und sie mahnen zugleich, dass es immer schwieriger werde, „Raum für Bewegung“ zu finden.

„Die Menschen unterschätzen den Glückseffekt des Draußenseins“, sagt Nisbet. „Viele glauben, dass sie sich glücklicher fühlen, wenn sie shoppen oder fernsehen. Es ist sonderbar: Wir gehen auf Distanz zur Natur, obwohl es doch sie ist, die uns hervorgebracht hat.“ Es gibt jedoch immer mehr Menschen, die das nicht länger hinnehmen wollen. In einem Pilotprojekt im Kinderkrankenhaus Benioff in Oakland, Kalifornien, hält die Ärztin Nooshin Razani ihre Kollegen in der Ambulanz dazu an, jungen Patienten und ihren Familien öfter anstelle von Tabletten Aufenthalte in Parks zu verschreiben. „Um die Patienten dazu zu animieren, haben wir die Natur in der Klinik sichtbar gemacht“, sagt sie. „Wir haben Landkarten an die Wände gehängt, um zu zeigen, wohin man gehen könnte, und Bilder von der Wildnis in der Umgebung. Es tut Ärzten und Patienten gleichermaßen gut, sie anzuschauen.“ Das Krankenhaus organisiert auch Familienfahrten ins Grüne.

In anderen Ländern ist die Förderung von Naturerlebnissen bereits Teil der Gesundheitspolitik. Zum Beispiel in Finnland, einem Land mit hohen Depressions-, Alkoholismus- und Selbstmordraten. Dort wurden Tausende Menschen aufgefordert, für eine staatlich geförderte Studie ihre Stimmung und ihr Stressniveau zu bewerten – jeweils nach einem Aufenthalt in natürlicher und in städtischer Umgebung. Das Ergebnis war eindrucksvoll, und darum empfehlen finnische Mediziner heute zur Vorbeugung gegen Trübsinn eine Mindestdosis Natur: fünf Stunden pro Monat, verteilt auf mehrere Tage pro Woche.

„Ein 40- bis 50-minütiger Spaziergang reicht schon, damit man sich besser fühlt“, sagt Kalevi Korpela, Professor für Psychologie an der Universität von Tampere. Er hat geholfen, ein halbes Dutzend „Kraftwanderwege“ anzulegen, die zum Spaziergang, zur Achtsamkeit und zum Nachdenken anregen sollen. Auf Schildern stehen Anleitungen wie: „Hocken Sie sich hin und berühren Sie eine Pflanze.“

Doch wohl niemand hat die Forderung nach „Natur auf Rezept“ enthusiastischer aufgenommen als die Südkoreaner. Viele von ihnen leiden unter beruflichem Stress, digitaler Abhängigkeit und enormem Leistungsdruck. Einer Umfrage des Elektronikgiganten Samsung zufolge sagen mehr als 70 Prozent, dass ihre Jobs und die langen Arbeitstage sie depressiv machten. Und das, obwohl in der Geschichte dieser mächtigen Wirtschaftsnation traditionell Naturgeister verehrt wurden. „Shin to bul ee“ sagt der Volksmund: „Körper und Erde sind eins.“

Im Saneum Forest, einem „Heilwald“ östlich von Seoul bietet mir ein „Gesundheitsförster“ Ulmenrindentee an. Dann wandern wir unter leuchtend roten Ahornbäumen, Eichen und Kiefern an einem Bach entlang. Es ist Herbst, das bunte Laub und die klare Luft haben eine Menge Stadtflüchtlinge in den Wald gelockt. Wir erreichen eine Lichtung voller Holzpodeste. Darauf stehen paarweise 40 Feuerwehrleute mittleren Alters. Die Männer leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Die Gemeindeverwaltung hat ihnen ein kostenloses dreitägiges Erholungsprogramm verordnet. In westlichen Ländern würden Männer im Wald vermutlich laufen oder jagen oder fischen, hier praktizieren sie Partner-Yoga, massieren sich gegenseitig Lavendelöl in die Unterarme und stellen zarte Collagen aus getrockneten Blumen her.

Saneum ist einer von drei anerkannten Heilwäldern in Südkorea, bis 2017 sind 34 weitere geplant. Dann werden die meisten größeren Städte einen in ihrer Nähe haben. Die Universität Chungbuk bietet den Studiengang „Waldheilung“ an, die koreanische Forstverwaltung geht davon aus, demnächst bis zu 500 Gesundheitsförster einstellen zu können. Ihr Angebot reicht „von der Wiege bis zur Bahre“, von der vorgeburtlichen Waldmeditation über Holzhandwerk für Krebspatienten bis hin zu Waldbestattungen. Eine „Glückseisenbahn“ bringt Kinder, die gemobbt werden, für zwei Tage zum Zelten in den Wald. Neben dem Nationalpark Sobaeksan wird gerade ein hundert Millionen Euro teures Heilzentrum gebaut. Forstwissenschaftler destillieren ätherische Öle aus Baumsäften und untersuchen, ob man damit Stresshormone und Asthma reduzieren kann.

In der Industriestadt Deajun besuche ich den Forstminister Shin Won Sop. Er ist Sozialwissenschaftler und hat früher die Wirkung der Waldtherapie auf Alkoholiker erforscht. Das menschliche Wohlbefinden, erklärt er, sei mittlerweile offizielles Ziel des nationalen Forstplans. Die Zahl der Menschen, die jährlich in die koreanischen Wälder kämen, sei von 9,4 Millionen im Jahr 2010 auf 12,8 Millionen im Jahr 2013 gestiegen.

„Natürlich nutzen wir die Wälder weiter, um Holz zu gewinnen“, sagt Shin. „Aber ich glaube, am meisten nutzt der Wald im Moment der Gesundheitssparte.“ Die Arztkosten würden sinken, die lokale Wirtschaft profitieren.

In Utah scheint mein Großstadtgehirn gut auf die Wildnis anzusprechen. Wir wandern am Tag zwischen blühenden Kaktusfeigen, am Abend sitzen wir am Lagerfeuer. Strayers Studenten wirken auf ihn entspannter und kontaktfreudiger als im Seminarraum, ihre Referate besser. Aber was verändert sich in ihrem Gehirn? Und in meinem?

Eine ganze Menge, wenn man sich die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Forschung anschaut. Mit modernen Messgeräten wurde zum Beispiel die Hirnaktivität bei Probanden beobachtet, die Bilder betrachten. Wenn sie sich Stadtszenen anschauten, war die Region im Gehirn stärker durchblutet, in der Angst und Anspannung verarbeitet werden. Im Gegensatz dazu erregten Naturszenen eine stärkere Aktivität in Hirnbereichen, denen man Empathie und Altruismus zuordnet. Vielleicht macht die Natur uns also nicht nur zu ruhigeren, sondern auch zu netteren Menschen.

Womöglich lässt sie uns auch zu uns selbst netter sein. An der Universität Stanford scannten Forscher die Gehirne von 38 Freiwilligen. Zuvor waren die Probanden entweder 90 Minuten durch einen großen Park oder auf einer verkehrsreichen Straße in der Innenstadt von Palo Alto spazieren gegangen. Bei den Teilnehmern im Park war die Aktivität in jenem Teil des Stirnhirns vermindert, der sonst besonders stark bei depressiven Grübeleien beansprucht wird. Auch die Parkgänger selbst gaben zu Protokoll, dass sie weniger düstere, selbstquälerische Gedanken gehabt hätten.

Aber wie erklärt sich dieser Effekt? Es geht auch hier um Aufmerksamkeit, vermutet der Umweltpsychologe Stephen Kaplan von der Universität Michigan. Ob durch Sonnenuntergänge, Flüsse oder Schmetterlinge: Die schöne Natur bannt unseren Fokus, sie zieht ihn weg von den Sorgen des Lebens und auch von dem, was der Landschaftsarchitekt Olmstedt die „nervöse Irritation“ des Stadtlebens nannte. Unsere Stimmung wird heller, und unser Gehirn kann sich erholen. Kaplan hat in eigenen Studien die Erkenntnisse der Finnen bestätigt, wonach ein 50-minütiger Spaziergang unter Bäumen unsere Aufmerksamkeit verbessert.

Er schrieb: „Stellen Sie sich eine Behandlung vor die keine Nebenwirkungen hat, leicht erhältlich ist, Ihre geistigen Fähigkeiten steigert – und nichts kostet.“ Es gebe sie. Sie heiße: „Geh raus in die Natur.“

Wenige Monate nach unserer Exkursion in Utah schickte Strayer mir die Ergebnisse meines EEGs. Er hatte die Messwerte aus meinem Gehirn mit denen von Gruppenmitgliedern verglichen, die in der Stadt geblieben waren. Meine Signalzacken waren tatsächlich schwächer als ihre. Der still dahinfließende San Juan River hatte sich offensichtlich, zumindest für eine Weile, beruhigend auf mein Gehirn ausgewirkt.

Allerdings sagt Strayer, dass wissenschaftliche Studien nie endgültig erklären würden, wie das Gehirn auf die Natur anspricht. Ein Rest Mysterium werde bleiben.

Und vielleicht soll das auch so sein.

„Letzten Endes gehen wir doch nicht in die Natur, nur weil die Forschung behauptet, das würde etwas mit uns machen“, sagt Strayer. „Wir gehen nach draußen, weil wir uns dann besser fühlen.“

Aus dem Englischen von Dr. Ina Pfitzner

(NG, Heft 01 / 2016, Seite(n) 56 bis 75)

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