Ohne Erbarmen – und ohne Sinn

Schuppentiere tragen ein exotisches Panzerkleid. Das macht die scheuen Wesen zur Zielscheibe von Wilderern – denn die Schuppen gelten als unverzichtbare Zutat für fragwürdige Heilmittel.

Von Rachael Bale
bilder von Brent Stirton
Veröffentlicht am 23. Mai 2019, 23:17 MESZ
Pangolin auf Nahrungssuche
Gestatten, Tamuda! In einer Schutzstation in Simbabwe sucht das Steppenschuppentier nach seiner Lieblingsmahlzeit: Ameisen oder Termiten. Tamuda wurde vor Wilderern gerettet, die seine Schuppen vermutlich nach Asien schmuggeln wollten, wo sie zur Herstellung von traditionellen Heilmitteln genutzt werden.
Foto von Brent Stirton

Wenn Tamuda läuft, hält er die Arme vor sich gestreckt wie ein T. Rex. Nur ist Tamuda längst nicht so groß wie ein Dinosaurier. Man kann ihn auf den Arm nehmen wie einen Hundewelpen. Allerdings ist er vom Kopf bis zur Schwanzspitze mit Schuppen bedeckt. Sein Betreuer führt das junge Schuppentier zu einem Sandhügel, den er mit der Hacke auflockert. Guck mal, spornt er Tamuda an: Ameisen. Das Schuppentier begreift und fängt an zu fressen. Mit seiner Zunge, die fast so lang ist wie sein ganzer Körper, sucht es die Furchen ab, scharrt mit den Krallen nach der Beute.

Doch schon nach ein paar Minuten hat Tamuda genug. Er lässt sich auf die Seite fallen wie ein Zweijähriger bei einem Wutanfall und schmiegt sich an den Stiefel seines Betreuers, der ihn sanft wegschubst. Aber Tamuda möchte Aufmerksamkeit. Er schaut zu seiner Bezugsperson hinauf, streckt bettelnd die Arme aus. Der Betreuer versucht, streng zu bleiben – schließlich soll er Tamuda erziehen –, aber er kann nicht widerstehen. Wie jede gute Schuppentiermutter hebt er Tamuda hoch und nimmt ihn in den Arm.

Tamuda wird in der Tikki Hywood Foundation unterrichtet, einer Ranch unweit von Harare in Simbabwe. Hier können Schuppentiere, die Lisa Hywood und ihr Team vor Wilderern gerettet haben, zu Kräften kommen. Hywood, eine kleine, energische Frau, die ihren Schützlingen liebevoll Schlaflieder vorsummen und im nächsten Moment lautstark gegen die Grausamkeit des Menschen wettern kann, hat seit 2012 mehr als 180 Schuppentiere gerettet. In Tikki Hywood leben auch Rappenantilopen, Kühe, eine quirlige Ziege und ein Eselspaar namens Jesus und Maria.

Junge Schuppentiere, auch Tannenzapfentiere genannt, lieben es, die Welt von oben zu betrachten. Mehrere Monate tragen die Mütter sie auf dem Rücken, damit sich die Jungtiere deren Verhalten abschauen können. Vermutlich verbrachte auch Tamuda die meiste Zeit in dieser Höhe, bevor er und seine Mutter von Wilderern gefangen wurden. Wenn ein Muttertier Angst hat, rollt es sich zusammen, um mit seinem Panzer den weichen, pelzigen Bauch und ihr Junges zu schützen. Gegen einen Löwen ist das eine gute Verteidigungsstrategie, aber wenn der Räuber ein Mensch ist, der das Tier mit den Händen aufheben kann, ist es so ziemlich das Falscheste, was man tun kann.

Tamuda und seine Mutter wurden Anfang 2017 ins Rettungszentrum gebracht. Ein Mann hatte versucht, die beiden von Mosambik in einem Sack nach Simbabwe zu bringen. Nach Schätzungen von Traffic, einer Organisation zur

Beobachtung des Handels mit Wildtieren, wurden zwischen den Jahren 2000 und 2013 eine Million dieser Tiere gewildert – vor allem wegen ihrer Schuppen, die in der traditionellen Medizin verwendet werden. Das Schuppentier gilt als eines der am häufigsten gehandelten Säugetiere der Welt.

Schuppentiere sehen aus wie geschuppte Gürteltiere, sind aber näher mit Bären und Hunden verwandt. Sie bilden eine eigene taxonomische Ordnung. Wenn sie verschwinden, wird auf der Erde kein Wesen mehr existieren, das so ist wie sie. Alle acht Arten, vier in Afrika und vier in Asien, sind gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht.

Seit 2000 ist der internationale Handel mit den vier asiatischen Schuppentierarten verboten. 2017 trat im Zuge des Washingtoner Artenschutzübereinkommens CITES ein Verbot des kommerziellen Handels mit allen acht Arten in Kraft. Mindestens 67 Länder und Territorien auf sechs Kontinenten sind am illegalen Handel mit Schuppentieren beteiligt. Laut einer Analyse von Traffic stammen die größten Mengen der Schuppen aus Kamerun, Nigeria, Sierra Leone und Uganda. Sie werden vor allem nach China gebracht.

In West- und Zentralafrika und bei einigen indigenen Völkern in Süd- und Südostasien wird das Fleisch der Schuppentiere verzehrt. In Ghana, Nigeria, Südafrika und anderen Gegenden in Subsahara-Afrika verwenden Heiler Körperteile der Tiere in der traditionellen Medizin. Dass die Tiere vom Aussterben bedroht sind, liegt aber vor allem an der Nachfrage nach ihren Schuppen. Getrocknet, zu Pulver zermahlen und in Pillen verarbeitet, werden sie für eine Reihe traditioneller chinesischer Heilmittel verwendet, von Präparaten zur Anregung der Milchbildung bei Müttern bis zur Linderung von Beschwerden bei Arthritis und Rheuma. Jedes Jahr vergeben die chinesischen Provinzen Lizenzen für die Verarbeitung von insgesamt 26,6 Tonnen Schuppen – einer Menge, für die man etwa 73000 Schuppentiere braucht.

Genau weiß niemand, wie viele Tonnen Schuppentierschuppen jährlich tatsächlich geschmuggelt werden. 2017 wurden in China 11,9 Tonnen Schuppen von bis zu 30000 Tieren beschlagnahmt – bis dahin einer der größten dokumentierten Funde. Im vergangenen Jahr zogen Behörden in Hongkong eine Einzellieferung von sieben Tonnen mit dem Ziel China aus dem Verkehr. Daraus lässt sich schließen, dass jedes Jahr Hunderttausende Schuppentiere abgeschlachtet werden.

Gerüchten zufolge sollen chinesische Firmen inzwischen an der groß angelegten Zucht von Schuppentieren arbeiten. Die Regierung hatte dafür bis 2016 angeblich zehn Genehmigungen erteilt, darunter an Auffangstationen und Investoren. Weitere 20 Pharmaunternehmen gründeten 2014 gemeinsam mit Firmen in Uganda, Laos und Kambodscha eine „Zuchtgemeinschaft“.

Das Problem ist, dass niemand wirklich weiß, wie man Schuppentiere züchtet. Die meisten Schuppentiere überleben höchstens 200 Tage in Gefangenschaft – zu kurz, um sich zu paaren und auch noch Junge aufzuziehen.

Die Schuppentiere in Gefangenschaft am Leben zu halten ist eine gewaltige Aufgabe. Über ihren ungewöhnlichen Speiseplan hinaus brauchen sie besondere Pflege, weil sie zu Magengeschwüren und Lungenentzündungen neigen, die meist durch Stress verursacht werden. Sechs Zoos und Nonprofitorganisationen in den USA importierten 2016 insgesamt 46 Schuppentiere aus Togo, um die Tiere unter kontrollierten Bedingungen zu studieren und eine eigenständige Population aufzubauen. Bis Anfang März 2019 waren 16 von ihnen gestorben.

Man müsste das Problem von der Nachfrageseite anzugehen, nötig wäre eine bessere Aufklärung der Bevölkerung in China, sagt Steve Given vom American College of Traditional Chinese Medicine in San Francisco. Im Arzneibuch der chinesischen Medizin hat er 125 mineralische, tierische oder Kräuterpräparate gefunden, die anstelle von Schuppentierschuppen eingesetzt werden können – je nachdem, was behandelt werden soll. „Es besteht kein Grund für die Anwendung von Chuan Shan Jia“, sagt er, wobei er den chinesischen Namen für die Schuppen benutzt.

Bisher hat die westliche Medizinforschung keine Hinweise gefunden, dass die Schuppen, die aus Keratin bestehen, demselben Material wie Fingernägel, Haare und Nashornhörner, irgendeine physiologische Wirkung auf den Menschen haben. Aber traditionellen Medizintexten zufolge sollen die Schuppen gegen „Ungleichgewichte im Körper“ wirken, wie etwa „Blutstau“, ein Leiden, das stechende Schmerzen hervorruft und mit Menstruationsstörungen, Stillproblemen und Arthritis einhergehen soll.

Solange Millionen von Menschen auf die traditionelle Medizin vertrauen – und diese Zahl wird sich eher noch erhöhen, denn die Weltgesundheitsorganisation erwägt, die traditionelle chinesische Heilkunde in ihr einflussreiches

medizinisches Kompendium aufzunehmen –, sei Aufklärung von Patienten und Beschäftigten in Heilberufen über Alternativen die wirksamste Methode, um die Schuppentiere vor dem Aussterben zu bewahren, sagt Given.

Diese Reportage stammt aus Heft 6/2019 des National Geographic-Magazins und wurde gekürzt.

BELIEBT

    mehr anzeigen
    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved