Ein Sommer mit Luchsen

Eine Wildtierfotografin dokumentierte einen Sommer lang eine Luchsfamilie, die unter der Terrasse einer Ranch lebte, und sah den Jungtieren beim Erwachsenwerden zu.

Von Alexa Keefe
bilder von Karine Aigner
Veröffentlicht am 14. Jan. 2021, 14:54 MEZ
Rotluchse

Jeden Abend kamen die Luchsmutter und ihr Nachwuchs unter dem Haus hervor. Sie gingen direkt zum Wassernapf, der vom Ranchbesitzer ständig aufgefüllt wurde.

Foto von Karine Aigner

An einem heißen Tag in Texas im Juni 2017 begegnete die Tierfotografin Karine Aigner einem Rotluchs – und eine unerwartete Beziehung begann.

„Man hatte mir gesagt, dass seit Jahren Rotluchse unter dem Gebäude hausen. Aber in den sechs Sommern, in denen ich auf der Ranch Fotografie-Workshops gegeben hatte, hatte ich sie nur ein- oder zweimal gesehen.“

Rotluchse sind notorisch scheu, und obwohl sie überall in den Vereinigten Staaten leben, erhascht man selten mehr als einen flüchtigen Blick auf sie. Aigner hatte die Tiere daher nie ernsthaft als Fotomotive in Betracht gezogen.

Aber als sie in jener Woche eines der Jungtiere über die Terrasse huschen sah, beschloss Aigner, ihr Glück zu versuchen. „Ich habe mir eingeredet, dass ich hinter meinem Pseudoversteck aus Tarnnetz, das auf beiden Seiten an den Terrassenstühlen befestigt war, gut versteckt sein würde“, sagt sie. „Ich habe einfach improvisiert.“

Sie schmorte in der heißen Nachmittagssonne mit ihrem 600-mm-Objektiv, das auf eine Wasserschüssel gerichtet war, die der Besitzer des Hauses auf die Terrasse gestellt hatte.

„Als die Sonne begann unterzugehen, tauchte sie auf – lautlos und aus heiterem Himmel, wie es die Art der Luchse ist“, erinnert sich Aigner. Ihr Herz raste, als sie beobachtete, wie das Tier, das sie später Momcat taufte, Wasser aus der Schüssel trank. An ihrer Seite: eines ihrer Kitten. „Wir sahen uns eine gefühlte Ewigkeit lang in die Augen – meine Tarnvorrichtung funktionierte ganz offensichtlich nicht.“

Die Ranch bot mehr als nur Schutz vor schwülen Nachmittagen: Für die jungen Luchse war sie ein Abenteuerspielplatz.

Foto von Karine Aigner

Aigner änderte ihren Plan, damit sie den Rest des Sommers mit Momcat und ihren drei Jungen verbringen konnte. Sie brachte ihre Tage damit zu, die Tiere schweigsam dabei zu beobachten, wie sie ihrer täglichen Routine nachgingen: Sie schliefen zusammen unter dem Haus, bis die Hitze nachließ, und gingen dann gemeinsam nach draußen, um zu trinken, zu spielen und sich zu putzen.

„Ohne Vorwarnung wanderte Momcat durch den Zaun und hinaus“, sagt Aigner. „Wie auf Kommando stellten sich drei kleine Luchse auf der Terrasse auf und sahen ihr nach. Als ich darüber nachdachte, schien es fast so, als hätte sie sie in meiner Obhut gelassen. Rotluchse verlegen ihren Bau bei jeglichem Anzeichen von Gefahr. Momcat tat das aber nicht.“

Die Mutter kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Jungen und unterrichtete sie jeden Tag.

Foto von Karine Aigner

Aigner beobachtete, wie Momcat andere Rotluchse verjagte und eine Waschbärenmutter mit sechs Jungen tötete, die zum Trinken an die Schüssel gekommen waren. „Es gab Abende, an denen sie Kaninchen und Ratten nach Hause brachte und sie direkt vor meinen Augen für die Kätzchen deponierte. Und es gab Nächte, in denen sie die Kätzchen völlig allein ließ.“

Sie sah dabei zu, wie die Kitten mit der Zeit immer mutiger und neugieriger wurden, bis sie schließlich den Mut hatten, sich hinauszuwagen und selbst zu jagen.

„Momcat ließ mich in ihre Welt“, sagt Aigner. „Sie erlaubte mir zu sehen, was es heißt, ein Rotluchs zu sein, und was es bedeutet, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern zu sein. Wir beide fanden Zuflucht in der Welt des jeweils anderen. Ich hatte keine andere Absicht, als präsent zu sein, und sie schien das zu wissen.“

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und gerade als die Kätzchen auszogen, um ihr eigenes Leben zu leben, war es auch für Aigner Zeit, in ihr normales Leben zurückzukehren. Aber die besondere Erfahrung des Sommers ließ sie nicht los. Als sie im Herbst aus beruflichen Gründen nach Texas zurückkehrte, beschloss sie, der Ranch einen Besuch abzustatten.

„Rein logisch war mir klar, dass sie nicht mehr da sein sollten, aber die Hoffnung hatte ich trotzdem“, sagt Aigner. „Ich wusste, dass ich mich nicht zu sehr an ein wildes Tier gewöhnen durfte. Insgeheim bezeichnete ich sie als ‚meine Kinder‘, aber ich hatte ihnen nie Namen gegeben. Mein Herz raste.“

Rotluchse bringen ihren Jungen das Jagen bei. Am Anfang brachte die Mutter tote Beute unter die Terrasse, wo die Jungen die Tiere verschlangen.

Foto von Karine Aigner

Im Laufe der Zeit wechselte die Beute von toten Baumwollschwanzkaninchen zu lebenden Ratten oder Wühlmäusen. Die Mutter kehrte durch den Zaun zurück, ließ das noch zappelnde Abendessen fallen und sah zu, wie sich die Jungluchse fauchend und schreiend auf die Beute stürzten.

Foto von Karine Aigner

Aigner sah wie so oft unter dem Haus nach, aber die Kitten waren weg. Als sie sich umdrehte, um zu gehen, stieg ein Rotluchs langsam die Terrassentreppe hinunter. Unten blieb er stehen und drehte sich zu ihr um, bevor er sich ruhig hinsetzte, um sich die Pfoten zu lecken.

„Es ist selten, dass ein Rotluchs sich vor einem putzt. Ich wusste, dass sie es war“, sagt Aigner. „Sie hat sich zu mir umgedreht und wir haben uns in die Augen gesehen, wie am Anfang.“

In diesem Moment habe sie erkannt, welches Geschenk ihr gemacht wurde. „Es gibt eine unausgesprochene Verbindung zwischen Lebewesen. Sie lehren uns so viel, wenn wir uns nur erlauben, es langsam anzugehen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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