Vergesst nicht die Aschenputtel!

Charismatische Tiere mit Kulleraugen bewahrt der Mensch gerne. Doch auch andere brauchen unsere Hilfe.

Von Christine Dell'Amore
bilder von Joël Sartore
Veröffentlicht am 14. Mai 2021, 16:50 MESZ
Kalifornischer Kondor

Um dem Kalifornischen Kondor zu helfen, haben Forscher in Gefangenschaft gezüchtete Kondore in Kalifornien, Utah und Arizona ausgewildert. Der riesige Landvogel ist trotzdem weiter vom Aussterben bedroht.

Foto von Joël Sartore

Man könnte ihn als Geier der Insektenwelt bezeichnen, den amerikanischen Totengräber Nicrophorus americanus. Einst krabbelte der Käfer in 35 US-Bundesstaaten umher und befreite die fruchtbaren Ebenen von allem möglichen Aas. Heute gilt er als vom Aussterben bedroht. Der Verlust von Lebensraum, Pestizide und Lichtverschmutzung sind vermutlich einige der Gründe, die dafür gesorgt haben, dass sich von diesem Recyclingwunder der Natur heute nur noch vier versprengte Populationen finden lassen. Wie der Tiger ist auch der Amerikanische Totengräber orange-schwarz gemustert. Bei beiden Species nehmen die Bestände ab. Doch während der Tiger ein auf Anhieb wiedererkennbares Symbol für die Erhaltung der Arten ist, kennt kaum jemand den Käfer.

Diese Diskrepanz ist ein gutes Beispiel für die Dominanz der „Flaggschiffarten“ – prominente Spezies voller Ausstrahlungskraft, mit denen gemeinnützige Organisationen, Behörden und andere Gruppen das öffentliche Interesse am Natur- und Artenschutz wecken wollen. Die meisten dieser Spezies entstammen lediglich drei Gruppen: den Primaten, den Beutegreifern und den Huftieren. Das liegt hauptsächlich daran, dass Menschen größere Tiere mit nach vorn weisenden Augen ansprechender finden und leichter einen Bezug zwischen sich und dem Tier herstellen können. Einer Pflanze kann man im Gegensatz dazu schwerlich in die Augen blicken.

Ich habe im Rahmen meiner Arbeit den Schwerpunkt stets auf Arten gelegt, die im Schatten stehen. Die meisten Tierschutzgelder gehen jedoch an „Celebrity-Spezies“ wie Menschenaffen, Elefanten, Großkatzen, Nashörner und Riesenpandas. In Meinungsumfragen steht der Tiger häufig an der Spitze der Beliebtheitsskala. Allein im Jahr 2019 hat Indien, wo die Mehrheit dieser Großkatzen zu Hause ist, mehr als 49 Millionen Dollar für den Erhalt der Art ausgegeben. Das ist alles schön und gut. Doch währenddessen tauchen weniger bekannte Fisch-, Reptilien-, Amphibien- und Vogelarten in die Anonymität ab, darunter das Philippinen-Krokodil, dessen Anzahl auf rund 100 verbleibende Individuen geschrumpft ist, oder der Engelhai, der einst in allen europäischen Gewässern verbreitet war und in der Nordsee mittlerweile ausgestorben ist. Pflanzen und Wirbellose nehmen auf der Skala der Beliebtheit einen noch niedrigeren Platz ein. Weltweit stehen mehr als 35 500 Pflanzen- und Tierarten kurz davor, für immer zu verschwinden.

Der amerikanische Totengräber Nicrophorus americanus krabbelte einst in 35 US-Bundesstaaten umher und befreite die fruchtbaren Ebenen von allem möglichen Aas. Heute gilt er als vom Aussterben bedroht.

Foto von Joël Sartore

Das stellt uns vor ein Dilemma. DerArtenschutz verfügt nicht über ausreichende finanzielle Mittel. Wenn das Geld im Topf also begrenzt ist – wie entscheiden wir dann, welche Arten wir retten sollen? Die Antwort lautet: Es ist kompliziert. Denn was zählt? Die Wahrscheinlichkeit, mit der das betreffende Tier überlebt? Die persönlichen Vorlieben der Entscheidungsträger oder der Politik? Die Bedeutung des Tieres für unsere Wirtschaft?

Das umstrittene Konzept der Triage im Artenschutz sieht vor, dass Experten schnell entscheiden, welche Art gerettet werden kann, und gleichzeitig akzeptieren, dass sie andere nicht retten können. In den Achtzigerjahren, als es vermutlich nur noch 22 Kalifornische Kondore in freier Wildbahn gab, entbrannte eine Debatte darüber, ob man viel Geld in die Nachzucht stecken oder die Aasfresser aufgeben sollte. Man entschied sich für Ersteres, und so gibt es heute wieder mehr als 500 frei lebende Exemplare in Kalifornien, Utah und Arizona sowie im Norden Mexikos. Heute hält man die Nachzucht mehrheitlich für eine kluge Entscheidung.

Wie entscheiden wir, welche Arten wir retten sollen?

In anderen Fällen können wenig überlegte oder voreilige Entscheidungen dazu führen, dass Geld falsch eingesetzt wird, sagt Leah Gerber, Artenschutzexpertin von der Arizona State University. Die US-Naturschutzbehörde Fish and Wildlife Service etwa hat mehr als vier Millionen Dollar im Jahr in Maßnahmen investiert, die die Population des stark gefährdeten Nördlichen Fleckenkauzes stützen sollten. Das Programm gelte als „kostspielige Fehlentscheidung“, so Gerber, weil es eben nicht zum beabsichtigten Wachstum der Population geführt hat. Die in Texas heimische Art Coryphantha ramillosa hingegen, ein in den USA bedrohtes Kakteengewächs, bekommt pro Jahr nur etwa 140 000 Dollar von der Regierung. Mit nur wenigen Zehntausenden Dollar mehr könnte sie gerettet werden.

Aus diesem Grund haben Gerber und andere Artenschützer analytische Werkzeuge entwickelt, die sich der Angelegenheit weniger emotional nähern sollen. Mittlerweile nutzt auch der U.S. Fish and Wildlife Service ihre „Rucksackmethode“. Der Name spielt darauf an, dass ein Wanderer sich entscheiden muss, welche Dinge ihm so wichtig sind, dass er ihnen einen Platz in seinem Rucksack einräumt. Die Methode soll beim Retten von Arten „mehr Leistung fürs Geld“ bringen. Ein Algorithmus berechnet dabei die effizientesten Schutzmaßnahmen und bezieht dabei auch Faktoren wie die Kosten zur Rettung einer Spezies und deren Wahrscheinlichkeit, auszusterben, mit ein.

BELIEBT

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    Das Fingertier oder Aye-Aye gilt manchen Bewohnern Madagaskars immer noch als böses Omen. Dabei befreit die nachtaktive Primatenart die Bäume von Schädlingen und nützt so dem Wald.

    Foto von Joël Sartore

    Der Ökologe Hugh Possingham hat für die australische und die neuseeländische Regierung ein ähnliches Modell entwickelt, das Projekt-Priorisierungs-Protokoll. Es konzentriert sich auf Kosteneffizienz und soll so kontroverse Diskussionen verhindern. „Im Grunde ist das nicht anders als beim Kauf von Kartoffeln, Reis und Fleisch – da trifft man die Entscheidungen auch aufgrund von gesundem Menschenverstand“, sagt Possingham.

    Bedrohte Arten können auch gemäß dem Grad ihrer Einzigartigkeit Priorität bekommen. Die sogenannten EDGE-Spezies – das Akronym steht für Evolutionarily Distinct and Globally Endangered – bezeichnet Arten, die global gesehen am Abgrund stehen. Es sind Pflanzen und Tiere, die nur wenige nahe Verwandte haben und vielleicht ganz alleine einen gesamten Zweig der Evolutionsgeschichte repräsentieren. Der Verlust von EDGE-Spezies wie dem Fingertier aus Madagaskar, dem australischen Numbat, dem afrikanischen Schuhschnabel oder dem Chinesischen Riesensalamander könnte Nutzen vernichten, den wir vielleicht noch gar nicht kennen. Der vom Aussterben bedrohte Axolotl etwa, ein in Mexiko heimischer Schwanzlurch, besitzt regenerative Fähigkeiten, die uns in der Humanmedizin weit voranbringen könnten.

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    Das Triage-Schutzmodell fragt danach, was wir aufgeben, während das EDGE-Modell das Augenmerk optimistischer darauf lenkt, was wir erhalten wollen, sagt Nisha Owen von der britischen Naturschutzorganisation On the EDGE Conversation. Es verteilt Punkte nach evolutionärer Besonderheit und globaler Gefährdung und räumt den Arten mit der höchsten Punktzahl die höchste Priorität ein. Mittlerweile, so Owen, benötigen 90 der 100 Spezies, die auf der Prioritätenliste ganz oben stehen, umfassendere Schutzmaßnahmen.

    Sollte sich der Artenschutz auf ganze Ökosysteme konzentrieren statt auf einzelne Spezies?

    Ein weiterer Ansatz fordert, dass der Artenschutz sich auf ganze Ökosysteme konzentriert statt nur auf einzelne Spezies. Andere setzen sich für den Schutz von Schirmarten ein – in der Annahme, dass auch die kleineren Bewohner eines Habitats von Schutzmaß- nahmen für die prominenten Arten profitieren. Doch das funktioniert nur in manchen Situationen, zum Beispiel bei den Pandabären. Weil China sich derart um den Schutz seines Nationalsymbols bemüht hat, wurden auch viele der im Lebensraum des Pandas heimischen Vögel und andere Säugetiere zumindest teilweise geschützt. Stuart Pimm, Artenschützer an der Duke University, nennt den Diamantfasan und die stark gefährdete Goldstumpfnase. Ein Gegenbeispiel ist der gleichfalls stark gefährdete Nasenfrosch, der ausschließlich im Verbreitungsgebiet des Königstigers in den indischen Westghats vorkommt. Er hat nicht von den immensen Summen profitiert, die für den Schutz des Tigers ausgegeben wurden, sagt Owen. Denn was der Nasenfrosch braucht – ein Terrain mit rasch strömenden Flüssen ohne viele Straßen –, unterscheidet sich von dem, was der Tiger braucht.

    Charisma liegt im Auge des Betrachters. Könnten wir also nicht die Liste der Tiere erweitern, die als ansprechend oder sogar schön gelten? Der Artenschützer Bob Smith von der University of Kent hat sogar schon einen Namen für sie: Aschenputtel-Arten. Dabei handelt es sich überwiegend um bedrohte Tiere, die zwar beliebt sind, als Flaggschiffkandidaten aber meist übersehen werden. Der Tamarau etwa gehört dazu, der Afrikanische Esel, der Cozumel-Waschbär und viele mehr. Smith ist überzeugt, dass „weniger bekannte und weniger ansprechende Spezies mit etwas mehr Marketingaufwand immer noch ausgezeichnete Flaggschiffarten abgeben“ könnten.

    Es ist trotzdem in Ordnung, sich für Pandas und Tiger zu engagieren. „Spezies wie diese haben mich überhaupt erst zum Artenschutz gebracht“, sagt Bob Smith. „Aber es ist unsere Aufgabe als Artenschützer, die Menschen dazu zu bewegen, sich auch für andere Spezies zu begeistern.“

    Aus dem Englischen von Dr. Ulrike Kretschmer

    Christine Dell'Amore, langjährige Redakteurin für Naturthemen bei NATIONAL GEOGRAPHIC, ist eine Liebhaberin vernachlässigter und gering geschätzter Tiere.

    Dieser Artikel erschien in voller Länge mit vielen weiteren Bildern in der Mai 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen! 

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