Grönlandhai aus der Arktis in der Karibik gesichtet

Bisher nahm man an, dass Grönlandhaie ausschließlich in der eiskalten Tiefsee der Arktis leben. Nun wurde ein Exemplar der Spezies vor der Küste von Belize dokumentiert.

Von Annie Roth
Veröffentlicht am 10. Aug. 2022, 09:09 MESZ
Aufnahme von unten: Grönlandhai beim Abtauchen unter der Wasseroberfläche.

Grönlandhaie (Somniosus microcephalus) kennt man bisher nur aus der Arktis. Aufgrund einer überraschenden Sichtung im Frühjahr 2022 wird nun aber vermutet, dass sie in Tiefseegebieten auf der ganzen Welt weiter verbreitet sein könnten.

Foto von Franco Banfi, Nature Picture Library

Der Hai ist das Enigma der Ozeane: Vieles an ihm ist rätselhaft und unerforscht. Das gilt auch für den Grönlandhai, über den wir kaum etwas wissen – doch das, was bekannt ist, ist außergewöhnlich.

Angehörige der Spezies können ein Alter von bis zu 400 Jahre erreichen. Oft sind die Tiere aufgrund von Parasitenbefall der Hornhaut blind. Sie jagen und fressen Fische und Kopffüßer, aber auch Aas steht auf dem Speiseplan. So wurden Grönlandhaie dabei beobachtet, wie sie sich die Kadaver von Säugetieren wie Pferden, Rentieren und sogar Eisbären einverleiben.

Nun hat ein Grönlandhai erneut Forschende in Erstaunen versetzt – durch seine pure Anwesenheit. Denn eines der Tiere wurde im Frühling des Jahres 2022 an einem Ort gesichtet, an dem man niemals mit ihm gerechnet hätte: in der westlichen Karibik, Tausende von Seemeilen von seinem eigentlichen Territorium entfernt.

„Wir waren sehr überrascht und sehr aufgeregt“, sagt Devanshi Kasana, Doktorandin an der Florida International University in Miami, die den Hai entdeckte, als sie mit einer Gruppe von belizianischen Fischern auf einer Tigerhai-Expedition unterwegs war. Die Sichtung wurde im Juli 2022 in der Zeitschrift Marine Biology öffentlich gemacht.

Durch Zufall fingen Devanshi Kasana und ihre Kollegen auf einer Tigerhai-Expedition diesen Schlafhai, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen Grönlandhai handelt. Sollte dem so sein, wäre dies die erste Sichtung eines Schlafhais in der westlichen Karibik.

Foto von Devanshi Kasana, Florida International University

Zwar gelang es Kasana nicht, eine DNA-Probe des Hais zu nehmen, mit der sie seine Artzugehörigkeit genau hätte bestimmen können, doch aufgrund von Fotos, die sie machte, gehen führende Hai-Experten davon aus, dass es sich bei dem Tier höchstwahrscheinlich um einen Grönlandhai gehandelt hat. Die Sichtung wirft Fragen über das tatsächliche Verbreitungsgebiet der Spezies auf, denn bisher dachte man, dass diese die eisigen Gewässer des Nordatlantiks nicht verlassen würde.

Unerwartete Sichtung

Ort des Aufeinandertreffens war das Belize-Barrier Reef an der Südküste des mittelamerikanischen Staats – dem längsten Barriereriff der nördlichen Hemisphäre. Ziel der Expedition war es eigentlich, Tigerhaie zu fangen, mit einem Tag zu versehen und wieder freizulassen. Dafür hielt Devanshi Kasana an dem teilweise unter Wasser liegenden Atoll Glover’s Reef eine Langleine ins Meer. Das Wetter war an diesem Tag nicht gut, die See aufgepeitscht und die Crew spielte bereits mit dem Gedanken, aufzugeben. Da bemerkten sie plötzlich, dass etwas an der Leine zog.

„Es war sofort klar, dass wir etwas ziemlich Schweres an der Leine hatten“, sagt Hector Martinez, einer der Fischer, die Kasana auf der Expedition begleiteten. Enorme Kräfte wirkten auf die hydraulische Spinnrolle der Langleine, doch schließlich konnten die Fischer den Kampf gewinnen und den Hai an die Oberfläche ziehen.

Doch was für einen Hai hatten sie da am Haken? „Trotz der geballten, mehrjährigen Fischereierfahrung und Kompetenz an Bord konnten wir die Spezies nicht auf Anhieb bestimmen“, sagt Kasana.

Zunächst dachte sie, dass es sich bei dem Tier um einen Stumpfnasen-Sechskiemerhai handelt, der überall auf der Welt verbreitet ist. Um sicherzugehen, schickte sie ihrem Professor Demian Chapman, Leiter des Mote Marine Laboratory & Aquarium in Sarasota, Florida, ein Foto des Hais. Doch der Spezialist war anderer Meinung: Ihm zufolge zeigte das Bild mit großer Wahrscheinlichkeit einen Grönlandhai.

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    Aus der arktischen Kälte in die karibische Tiefsee

    Im Jahr 2016 erklärten Wissenschaftler den Grönlandhai zur langlebigsten Wirbeltierspezies der Welt. Das Alter kann bestimmt werden, indem Gewebe in der Mitte des Haiauges, das aus Proteinen aufgebaut ist, die bei der Geburt des Hais entstehen, mithilfe der Radiokarbondatierungsmethode analysiert wird.

    Grönlandhaie sind nicht nur die größten Fische im Arktischen Ozean sondern auch die einzige Haiart, die dort das ganze Jahr über lebt. Über die Gesamtgröße der Population weiß man nicht viel. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass sie abnehmend ist, weshalb die Weltnaturschutzorganisation die Spezies als potenziell gefährdet eingestuft hat. Zwar wurde die Spezies auch schon in eher seichten Gewässern gesichtet, doch eigentlich ist sie perfekt auf die Tiefsee eingestellt: Der Grönlandhai kann in bis zu 2.200 Metern Tiefe leben und toleriert Temperaturen zwischen minus zwei und sieben Grad Celsius.

    Grönlandhaie gehören zur Familie der Schlafhaie, die perfekt auf das Leben in kalten Gewässern angepasst sind. Um Energie zu sparen, bewegen sie sich nur sehr langsam und ihr Gewebe weist eine hohe Konzentration chemischer Verbindungen auf, die ähnlich funktionieren wie Frostschutzmittel, sodass sich auf dem Hai keine Eiskristalle bilden.

    All das macht die Sichtung eines Grönlandhais vor der Küste von Belize umso unerwarteter – obwohl es nicht das erste Mal war, dass ein Schlafhai in der Nähe des Äquators aufgetaucht ist.

    Laut Brynn Devine, Expertin für arktische Fischerei bei der Naturschutzorganisation Ocean North, ist die dokumentierte Sichtung eines Grönlandhais in der Karibik von unschätzbarem Wert. „Wir wissen kaum etwas über die Verbreitung dieser Haie abseits der Pole. Durch Beobachtungen wie diese können wir mehr über die Spezies lernen, doch prinzipiell gibt es noch riesige Wissenslücke in Bezug auf Grönlandhaie“, sagt sie.

    Zwar liegt die Karibik weit von der Arktis entfernt, doch auch hier herrschen in der Tiefsee äußerst niedrige Wassertemperaturen, die für den Grönlandhai offenbar genau richtig sind. Kasana hält es darum für möglich, dass Schlafhaie in Tiefseegebieten überall auf der Welt zu Hause sind – doch die Sichtungslage ist mehr als dürftig.

    „Über die Tiefsee der Karibik ist viel zu wenig bekannt“, sagt Dave Ebert, Haibiologe und Autor des Buchs Sharks of the World. „Wir können von Glück sagen, dass es Devanshi Kasana gelungen ist, ein Foto von dem Hai zu machen – sonst hätten wir nie etwas von seiner Existenz erfahren.“

    „Wir freuen uns sehr, zufällig auf etwas so Aufregendes gestoßen zu sein“, sagt Kasana. Sie hofft, dass ihre Sichtung dazu beitragen wird, dass „mehr für den Schutz der unentdeckten Kreaturen in der Tiefsee am Glover’s Reef“ getan wird. Die Regierung von Belize hat inzwischen drei Atolle des Landes zu Schutzgebieten für Haie erklärt – darunter auch das Glover’s Reef, den Fundort des Grönlandhais, – und das Meer, das es umgibt.

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