Lebensretter Kröten-Taxi: Zu Besuch am Amphibienzaun in Hamburg

Deutschlandweit gehen in diesen Wochen wieder Amphibien auf Wanderung, um zu laichen. Damit die Bestände nicht weiter schrumpfen, ist menschliche Hilfe vielerorts unabdingbar geworden. Ein Ortsbesuch am Straßenrand.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 1. März 2024, 08:31 MEZ
Straße im Winter, am rechten Rand ein schiefes, grün umrandetes Schild mit einer abgebildeten Kröte und ...

Ein Schild warnt an der Vogt-Kölln-Straße, die das Niendorfer Gehege in Hamburg durchschneidet, vor wandernden Kröten. Im Jahr 2024 machten sich die ersten Tiere hier am 11. Februar auf den Weg.

Foto von Katarina Fischer

Es ist halb acht an einem nasskalten Morgen in Hamburg. Das Wetter lädt nicht unbedingt zu einem Spaziergang ein, trotzdem bin ich auf dem Weg ins Niendorfer Gehege, ein Naturschutzgebiet im Nordwesten der Stadt. Ich möchte Irm Hermans treffen, die eine wichtige Aufgabe erfüllt: Sie hilft Amphibien über die Straße.

Anfang Februar wurde an der Stelle an der Vogt-Kölln-Straße, die das Schutzgebiet durchschneidet, vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) ein Krötenschutzzaun aufgestellt, mit Unterstützung vieler Freiwilliger, wie die Organisation erfreut meldete. Die 50 Zentimeter hohe Barriere aus grünem Kunststoff hält Kröten, Frösche und Molche davon ab, auf die Fahrbahn zu hüpfen oder zu kriechen. Das verhindert viele tote Tiere, doch getan ist es damit nicht – rüber müssen sie nämlich trotzdem.

Warten auf Krötenwetter

An dieser Stelle beginnt die Arbeit von Menschen wie Irm. Bei Wind und Wetter, Tag um Tag, sammeln sie in der Wanderzeit Amphibien aus Auffangeimern, die in regelmäßigen Abständen entlang des Zauns im Boden eingegraben sind. Dann bringen die „Kröten-Taxis“, wie die Helfer sich selbst nennen, die Tiere sicher zu ihren Laichgewässern.

Links: Oben:

Amphibien lieben es kühl und nass. Wer sie retten will, darf keine Angst vor Matsch haben.

Rechts: Unten:

Zweimal am Tag werden die zwanzig Auffangeimer kontrolliert. Alle Tiere müssen eingesammelt, gezählt und am Laichgewässer ausgesetzt werden. 

bilder von Katarina Fischer

Auf die Anfrage, ob es möglich wäre, sich das Ganze einmal aus nächster Nähe anzusehen, erhalte ich die Antwort: „Ja, aber nur spontan.“ Die Umstände müssen stimmen. Nicht für die Kröten-Taxis – die dürfen nicht zimperlich sein –, sondern für die Tiere. Bei Temperaturen unter 5 Grad Celsius verfallen die Amphibien in eine Starre, bewegen sich nicht vom Fleck und die Eimer bleiben leer. Acht Grad oder etwas wärmer, schön nass und am besten noch ein bisschen stürmisch: Das ist bestes Krötenwetter.

Meine Schuhe sind dementsprechend schon matschig und die Jacke feucht vom Nieselregen, als ich am Zaun ankomme. Zwei Personen im leuchtenden Warnwesten warten dort auf mich: Irm und Marco. Wir sprechen einander mit Vornamen an, denn, so Irm, „das ist beim NABU quasi Gesetz“. Marco, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, hat sich auf einen Aufruf im örtlichen Wochenblatt gemeldet, in dem freiwillige Helfer für die Aktion gesucht wurden. Heute bekommt er von Irm seine Einweisung in die Krötenrettung. Bis im April die Zäune wieder abgebaut werden, will er regelmäßig für die Amphibien im Einsatz sein.

BELIEBT

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    Irm (links) und Marco bergen vorsichtig die Erdkröten, die sich über Nacht im Auffangeimer gesammelt haben.

    Foto von Katarina Fischer

    Irm hat direkt zu Beginn gute Nachrichten zu vermelden. Die bisherige Ausbeute am Zaun sei in diesem Jahr rekordverdächtig. 2023 seien an dieser Stelle im Niendorfer Gehege fast 1.000 Amphibien gerettet worden. „Wenn das Wetter mitspielt, toppen wir das in 2024“, sagt Irm – allein am vorherigen Abend seien schon 90 Tiere gezählt worden. 

    Erdkröten machen mit Abstand den größten Teil aus. Molche und Frösche sitzen nur selten in den Eimern. „Wir hatten dieses Jahr schon sieben Molche. Im letzten Jahr haben wir im gesamten Zeitraum nur fünf gesammelt“, sagt Irm. Dies als Indikator für die Entwicklung der Populationen zu nehmen, sei aber schwierig, denn „natürlich entgeht uns auch der ein oder andere Molch. Aber generell schrumpfen die Populationen.“ Dass in diesem Jahr bereits so viele Tiere gerettet werden konnten, liegt ihr zufolge nicht daran, dass sich die Bestände erholen. Stattdessen würden eher das bessere Material und die Verlängerung des Zauns ihre Wirkung zeigen.

    Harte Zeiten für Kröte, Frosch und Molch

    Dass es den Amphibien so schlecht geht, hat verschiedene Gründe. „Zum einen natürlich der Klimawandel“, sagt Irm. „Jetzt haben wir zum Glück mal ein nasses Jahr, aber die letzten paar Jahre waren so trocken… da geht dann alles in den Dutt.“ Weitere Probleme seien die Zerstörung der Laichgewässer, die Flächenversiegelung, Giftstoffe in der Umwelt und das Fehlen von Grünstreifen, die die Lebensräume verbinden. „Es gibt so viele Faktoren, die es den Tieren wirklich schwer machen. Und wenn sie halbwegs spezialisiert sind, dann haben sie immer weniger Chancen, zu überleben. Bei den Fröschen ist es dramatisch, die leiden massiv.“

    Der Wunsch, einen Frosch zu finden, ist in unserer kleinen Dreiergruppe, die heute die Frühkontrolle übernimmt, darum auch besonders groß. „Wenn ihr einen Frosch in den Transporteimer gesetzt habt, macht sofort den Deckel drauf. Sonst hüpft er weg“, sagt Irm, als sie uns Helfern leere Farbeimer reicht. Sie werden mit Laub gefüllt, damit die Tiere sich beim Transport darunter verkriechen können. Außerdem bekommen alle Einweghandschuhe, die zum Schutz der Amphibien getragen werden müssen. Um die Übertragung von Krankheiten zu verhindern, aber auch, weil Seifen- und Cremereste an den Händen die empfindliche Haut der Tiere schädigen können.

    Dann kniet sich Irm neben den ersten der 20 Auffangeimer, schiebt vorsichtig das Laub darin zur Seite und hebt den ersten Fund des Tages: ein Erdkrötenweibchen, auf dessen Rücken ein kleines Krötenmännchen sitzt, die Vorderbeine fest um seine Partnerin geschlungen. „Ein Doppeldecker“, sagt sie. „Die zählen wir separat.“

    Links: Oben:

    Ein „Doppeldecker“ – ein Männchen, das sich von einem Weibchen Huckepack zum Laichgewässer tragen lässt – ist der erste Fund des Tages.

    Rechts: Unten:

    In Eimern wie diesem werden die Amphibien sicher über die Straße getragen.

    bilder von Katarina Fischer

    Straßenverkehr bringt Tiere in Lebensgefahr

    Den Winter verbringen Amphibien in der sogenannten Winterstarre. Frösche und Molche am Gewässergrund, Erdkröten eingegraben in die Erde oder in Laubhaufen. Steigen die Temperaturen, beginnt die jährliche Massenwanderung, immer zum selben Laichgewässer. „Erdkröten und Grasfrösche sind Explosionslaicher. Das heißt, wenn es losgeht, geht’s schlagartig los“, sagt Irm. Fallen die Temperaturen während der Wanderung wieder unter fünf Grad, setzt erneut die Starre ein und die Reise wird unterbrochen. Abgesehen davon sind die Amphibien zielstrebig unterwegs.

    Leider werden ihre Wanderrouten aber an vielen Orten unterbrochen – so wie im Niendorfer Gehege durch die Vogt-Kölln-Straße. Sie ist weder besonders stark befahren, noch besonders breit. In jede Richtung führt nur eine Spur. Doch für Kröten, die hier zu Hunderten versuchen, auf die andere Straßenseite zu gelangen, ist sie eine Todesfalle. Nicht nur, weil die Tiere Gefahr laufen, überfahren zu werden: Allein schon der Strömungsdruck, der entsteht, wenn ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an am Straßenrand sitzenden Amphibien vorbeirast, ist stark genug, um ihre inneren Organe platzen zu lassen.

    Außerdem sind Gehwegkanten ein oft kaum zu überwindendes Hindernis für die Weibchen, die prallvoll mit Eiern sind. „Auf dem Hinweg haben die dicken Mädels oft das Problem, dass sie den Bürgersteig nicht hochkommen“, sagt Irm. „Das ist sehr anstrengend für sie und verbraucht wahnsinnig viel Energie. Es ist ein Elend.“

    Zwei Wochen nach Wanderungsbeginn wurden laut Zwischenbilanz an diesem Zaun bereits 871 männliche, 267 weibliche und fünf juvenile Erdkröten eingesammelt. Außerdem befanden sich sechs Grasfrösche und 20 Molche in den Eimern. „So viele Funde gab es noch nie!“, sagt Irm. 

    Foto von Katarina Fischer

    Um dieses Elend zu beenden, das in Form hunderter toter Tiere sichtbar wurde, die hier Jahr um Jahr im Frühjahr auf der Straße lagen, wurde 2010 zum ersten Mal ein Krötenschutzzaun aufgestellt und die Zäune in den Folgejahren verlängert, um mehr Amphibien abfangen zu können. Im Jahr 2024 misst der Zaun 180 Meter.

    Ein Herz für Amphibien

    Behutsam setzt Irm den „Doppeldecker“ in ihren Transportbehälter. Außer ihm sind keine weiteren Tiere in dem Auffangeimer, stattdessen steht mehrere Zentimeter hoch Wasser darin. Alle Eimer sind mit Löchern am Boden versehen, damit das nicht passiert. Manchmal, wie in diesem Fall, verstopfen sie aber. Irm benutzt ein Stöckchen, um sie freizulegen. Dann verteilt sie am Boden frisches Laub und stellt einen langen Stock in den Eimer, damit andere Tiere – etwa Mäuse –, die aus Versehen hineinfallen, aus eigener Kraft wieder herausklettern können.

    Im nächsten Auffangeimer ist sehr viel mehr los. Mehrere Erdkrötenmännchen und zwei dicke Weibchen haben sich unter dem schützenden Laub versteckt. Jedes Tier wird vorsichtig eingesammelt und untersucht. Dabei achtet Irm vor allem auf die Finger, an denen man erkennen kann, ob die Kröte männlich oder weiblich ist. „Jungs haben schmutzige Fingernägel“, sagt sie. Außerdem kann man an ihren Daumen und den angrenzenden zwei Fingern dunkle, wulstige Veränderungen sehen: die Paarungs- oder Brunstschwielen.

    Es ist erstaunlich, wie individuell die Kröten sind. Obwohl alle derselben Spezies angehören, unterscheiden sie sich in Größe, Farbe und Musterung. Von hellgrüner Haut mit dunklen Punkten über schlammfarben und goldglänzend bis hin zu einem bräunlichen Farbton mit einem Stich ins Rosa ist alles dabei. Manche Kröten, vor allem die jüngeren Männchen, sind sehr agil. Andere liegen ruhig in der Hand. „Was für eine schöne Frau“, sagt Irm, als wir ein dickes Krötenweibchen betrachten. Je mehr Eimer wir leeren und je mehr Tiere ich selbst in der Hand halte, desto besser kann ich ihre Begeisterung für die Amphibien verstehen.

    Einmal Laichgewässer und zurück

    Als wir am Ende des Zauns angekommen sind, haben wir fünf Transporteimer mit Erdkröten gefüllt. Wie viele Tiere genau es sind, wird gezählt, wenn sie aus ihren Taxis steigen. Im Laichgewässer angekommen, akklimatisieren sich die Weibchen ein paar Tage lang, bevor sie bis zu fünf Meter lange Laichschnüre ins Wasser abgeben, die von den auf ihnen sitzenden Männchen direkt befruchtet werden. Während die Männchen im Anschluss noch ein bisschen im Wasser plantschen, machen die Weibchen sich direkt auf den Rückweg – und in diese Richtung gibt es keinen schützenden Krötenzaun.

    Der Grund: „Bei der Rückwanderung weiß man nie genau, wann es soweit sein wird, also können wir da nicht viel machen“, so Irm. „Da gibt es aber auch nicht so eine Massenwanderung wie auf dem Hinweg und es sitzen nicht an einem Abend hundert Tiere auf der Straße. Ein Einzeltier hat eine bessere Chance, rüberzukommen und denen, die wir bei den Abendkontrollen auf dem Rückweg finden, helfen wir natürlich auf die andere Straßenseite.“

    Endlich in Sicherheit: Wenige Meter von ihrem Laichgewässer werden die geretteten Erdkröten wieder ausgesetzt.

    Foto von Katarina Fischer

    Ebenfalls ohne Schutz auskommen muss die nächste Generation, die im Juli bis August das Laichgewässer verlässt. Auch hier ist schwer vorauszusagen, wann sie sich auf den Weg machen wird. Zudem wären Schutzzäune für die agilen Babyamphibien kein echtes Hindernis. „Die würden es wahrscheinlich schaffen, über den Zaun zu steigen“, sagt Irm. „Bei den Babys im Sommer sind wir auf Meldung angewiesen. Die verteilen sich nach dem Zufallsprinzip. Alles, was wir machen können, ist, darüber zu informieren, dass kleine Frösche und Kröten unterwegs sind, damit die Leute aufpassen und sie nicht tottreten.“

    Krötzenschutz: Jeder kann mitmachen!

    Die Chancen, dass diese Hinweise Wirkung zeigen, stehen gut. „Das Bewusstsein ändert sich zum Glück“, so Irm. „Die Leute verstehen inzwischen, dass diese Tiere Nützlinge sind und wir nicht nur spleenige Krötenretter. Das Verständnis dafür, wie wichtig Amphibien für die Nahrungskette sind, wächst.“ Indem sie Kaulquappen im Überschuss produzieren, liefern sie nämlich Futter für Molche, Libellenlarven und Fische. Auch die Amphibien selbst werden gefressen, zum Beispiel von Reihern. Gleichzeitig sind sie wichtige Schädlingsvernichter.

    Nachdem wir unsere Eimer über die Straße getragen und ein paar Minuten über einen matschigen Wanderweg entlang der Kollau spaziert sind, kommen wir an einen umzäunten Teich – das Laichgewässer unserer Erdkröten. Nun beginnt das Zählen. Nach und nach wird jedes Tier einzeln aus seinem Taxi gehoben und das Geschlecht geprüft. Irm macht Striche auf ihrer Liste: Sechs „Doppeldecker“, 45 männliche, 25 weibliche und zwei juvenile Erdkröten sind es an diesem Morgen insgesamt – Frösche und Molche sind leider keine dabei.

    Links: Oben:

    Eine Kröte wartet darauf, in die Freiheit entlassen zu werden.

    Rechts: Unten:

    Für die Rettungsstatistik führt Irm eine Strichliste, in der jedes gerettete Tier dokumentiert wird.

    bilder von Katarina Fischer

    Nach dem Aussetzen, kriechen und hoppeln die Erdkröten davon – eine auch in die falsche Richtung, was sofort korrigiert wird. Manche bleiben auch erst einmal sitzen oder verbuddeln sich an Ort und Stelle im Laub.

    Es ist ein schöner Anblick, der einen die in den dünnen Handschuhen frierenden Hände sofort vergessen lässt – und einer der Gründe dafür ist, warum Leute wie Irm bei jedem Wetter mit vollem Einsatz für die Amphibien da sind. „Vor ein paar Tagen waren wir während eines Sturms hier und irgendwann war ich völlig steifgefroren“, sagt sie. „Aber ich habe das gar nicht gemerkt, weil die Kleinen da alle ankamen.“

    Wer solche Momente auch erleben möchte, kann sich beim NABU als Freiwillige*r melden. Die werden für die Amphibienwanderung immer gesucht, denn die Auffangeimer müssen zweimal täglich geleert werden – und das über einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten. Damit das klappt, braucht es viele helfende Hände. Nicht nur in diesem, sondern in jedem Jahr, damit es auch die nächste Amphibiengeneration sicher auf die andere Straßenseite schafft.

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