Meister der Tarnung: Die 7 unglaublichsten Fähigkeiten von Oktopussen
Wohl kaum eine Tierart ist so wandlungsfähig, hochintelligent und zugleich sozial wie Oktopusse. Die Fähigkeiten der achtarmigen Meeresbewohner sind einzigartig – und überraschen Forschende immer wieder aufs Neue.
Kampf zwischen einer Gewöhnlichen Krake (Octopus vulgaris) mit einer Muräne. Sie versucht, sich aus den Fängen des Oktopusses herauszuwinden.
Acht Arme, drei Herzen, geschätzte 500 Millionen Nervenzellen – die Zahlen, mit denen Oktopusse oder auch Kraken genannt, aufwarten, sind spektakulär. Sie zählen zu den wundersamsten und vielseitigsten Geschöpfen in unseren Ozeanen. Aufgrund ihres komplexen Gehirns sind Kraken äußerst intelligent, können Werkzeuge benutzen, zeigen spielerisches Verhalten, träumen und pflegen sogar Partnerschaften mit anderen Tiergattungen.
Lediglich ihr Gehirn ist von einer dünnen Knorpelschicht geschützt, der Rest des Oktopuskörpers besteht aus Weichteilen. Das macht sie extrem beweglich und anpassungsfähig. Kein anderes Tier auf diesem Planeten kann die eigene Körperform und -farbe so schnell und häufig wechseln wie der Oktopus. Doch das ist nur ein kleiner Teil seiner herausragenden Fähigkeiten.
Das Gehirn von Oktopussen steckt in seinen Armen
Das menschliche Nervensystem besteht aus 86 Milliarden Neuronen. Die meisten davon befinden sich in den je sechs verschiedenen Lappen unserer beiden Hirnhälften. Oktopusgehirne haben nicht nur sechs, sondern zwischen 50 und 70 solcher Lappen. Und das Gehirn der Kraken ist noch der kleinste Bestandteil ihres Nervensystems: Vier Fünftel seiner Neuronen – schätzungsweise 350 Millionen – stecken in seinen Armen. Jeder Arm besitzt sein eigenes Rechenzentrum, das große Informationsmengen weiterverarbeiten kann. Unter gewissen Umständen funktionieren die Arme sogar ohne Input aus dem Gehirn. Selbst vom Körper abgetrennt, kann ein Oktopusarm noch losziehen und etwas tun. Verliert ein Oktopus einen Arm, ist das nicht sonderlich tragisch, denn innerhalb von zwei bis vier Monaten wächst er nach, und zwar als perfekte Replik des alten Arms.
Sie sind Könige der Camouflage
Der Große Blaue Kraken (Octopus cyanea) lebt in den Korallenriffen des Indopazifiks – einem der komplexesten Lebensräume der Erde, in dem es vor Texturen, Farben und scharfsichtigen Raubtieren nur so wimmelt. Anhand von Videoaufnahmen dieser Oktopusse aus Mikronesien und Französisch-Polynesien errechnete der amerikanische Meeresbiologe Roger Hanlon, wie oft die Oktopusse pro Stunde ihre Farbe wechseln können: bis zu 177 Mal. Zudem konnten Forschende bei den Tieren 50 verschiedene Körpermuster feststellen. Obwohl die Kraken für einen Farbwechsel nur den Bruchteil einer Sekunde brauchen, können diese Könige der Camouflage manche Farben und Muster auch länger als eine Stunde behalten. „Die Geschwindigkeit und Vielfalt dieser Transformationen sind einmalig in der uns bekannten Tierwelt“, so Roger Hanlon.
Die meisten Oktopusse jagen nachts. Anders die Gewöhnliche Krake. Sie nutzt ihre Fähigkeit, zur Tarnung die Farbe zu wechseln, um auch tagsüber bei Sonnenlicht zu jagen.
Oktopusse haben „elektrische Haut“
Unter dem Mikroskop sieht die oberste Hautschicht von Oktopussen aus wie die Palette eines Künstlers – allerdings eine, in der die Farbkleckse pulsieren, größer und kleiner werden, in einem Moment ganz intensiv und im nächsten ganz blass leuchten. Jeder Farbklecks ist ein winziges Organ voller Pigmentzellen – schwarz, braun, orange, rot und gelb –, Chromatophor genannt.
Allein um jedes seiner beiden Augen besitzt ein gewöhnlicher Oktopus mehr als fünf Millionen dieser Chromatophoren. Mit ihnen kann er die umliegende Haut verbergen oder hervorheben, indem er ein Kaleidoskop an Mustern wie Ringe oder Streifen erzeugt. Jeder dieser Pigmentsäcke wird durch 18 bis 20 Muskeln gesteuert. Entspannen sie sich, wird die Farbe unsichtbar.
Indem er einige Muskeln anspannt und andere lockerlässt, kann der Oktopus allerdings nicht nur die Größe, sondern auch die Form jedes Chromatophors steuern und Scheiben, ovale Flecken oder sogar eckige Formen in verschiedenen Farben entstehen lassen. Und das schneller als ein Wimpernschlag. Wie Oktopusse ihre Farbauswahl steuern, fand man erst kürzlich heraus, zum großen Teil im Labor des Forschers Roger Hanlon: Nerven generieren elektrische Impulse, die wiederum die Information übermitteln, welche den Chromatophoren den Befehl zum Öffnen und Schließen gibt.
Ein jugendlicher Wunderpus auf Beutefang vor der Küste der Philippinen – er passt sich farblich seiner nächtlichen Umgebung an.
Oktopusse können mit ihrer Haut „sehen“
Die Augen von Kraken scheinen zunächst nicht sonderlich leistungsfähig. Die lichtsensiblen Zellen ihrer Netzhaut enthalten nur ein Pigment. Zum Vergleich: Die menschliche Netzhaut verfügt über drei, die von Hunden immerhin noch über zwei Pigmente. Forschende vermuten, dass Oktopusse völlig andere Systeme als wir nutzen, um die Farben ihrer Umgebung wahrzunehmen und sich darauf abzustimmen. Ihre elektrische Haut, die Chromatophoren und die Nerven, mit denen sie die Papillen aufrichten, enthalten Proteine, die man sonst in Augen findet. 2015 berichteten Evolutionsbiologen der University of California in Santa Barbara, dass die Haut lichtempfindlich ist und Veränderungen der Helligkeit erkennt. Anders ausgedrückt: Oktopusse können Licht vermutlich fühlen – oder mit ihrer Haut sehen.
Bei Gefahr entwickeln sie Warnlichter
Blaugeringelte Kraken (Hapalochlaena spp.) findet man unter anderem zwischen Japan und Südaustralien sowie zwischen den Philippinen und dem Inselstaat Vanuatu. In ihrem Ruhezustand sehen sie mattgrau oder beige aus und vagabundieren gut sichtbar über weite Sandflächen. Werden sie jedoch bedroht, leuchtet ihre Haut mit bis zu 60 neonblauen, schillernden Ringen auf, die sich schwarz eingerahmt auf der cremefarbenen oder gelben Haut gut abheben. Wie blinkende Blaulichter an einem Krankenwagen oder Polizeiauto pulsieren die Ringe, um Aufmerksamkeit zu erregen. Damit stellen die Blaugeringelten Kraken ihre Waffe zur Schau. Dank symbiotischer Bakterien in ihren Speicheldrüsen verfügen sie über ein Nervengift, das 1000-mal tödlicher ist als Cyanid. Ihr Leben hängt davon ab, dass potenzielle Fressfeinde ihre Warnung, sich fernzuhalten, beherzigen.
Halb versteckt im Sand: Der Maori-Krake ist eine der größten Arten in den Gewässern von Neuseeland. Voll ausgestreckt messen seine Arme von einer Spitze zur anderen fast drei Meter.
Oktopusse sind Meister der Mimik
Mimik-Oktopusse (Thaumoctopus mimicus) oder auch Karnevalstintenfische genannt, sind versierte Lügner und tun das so überzeugend, dass sie auch ihre ärgsten Feinde damit in die Flucht schlagen können. Sie sind nicht nur in der Lage, ihr Erscheinungsbild an die Umgebung anzupassen, sondern schneiden es sogar auf die unterschiedlichen Ängste ihrer Jäger zu. So können Karnevalstintenfische wellenförmig über den schlammigen Boden gleiten und ihre Arme hinter sich herziehen – und dabei die Gestalt, Farbe, Bewegung und Geschwindigkeit eines giftigen Zebrias (einer Plattfischart aus der Familie der Seezungen) annehmen. Oder sie stellen mit den Armen die Giftspitzen des Feuerfischs nach.
Ihre cleveren Tarnungen scheinen zu funktionieren. So konnten Forschende einen Mimik-Oktopus beobachten, dem sich ein Riffbarsch näherte. Diese Art ist so aggressiv, dass sie sogar Barrakudas verjagt. Vor den Augen des Raubfisches nahm der Oktopus die Form eines anderen Lebewesens an: Er versteckte sechs Arme im Sand und streckte nur zwei seiner sich schlängelnden gestreiften Arme aus. Der Riffbarsch floh, als sei er bedroht von einem seiner tödlichsten Feinde, einer breit gestreiften, giftigen Seeschlange, dem Nattern-Plattschwanz. Oktopusse wurden außerdem schon beobachtet, wie sie das Aussehen von Anemonen, Quallen, Schlangensternen, Fangschreckenkrebsen, Krokodilschlangenaalen und Meeresschnecken annahmen.
Kraken sind wahre Kraftpakete
Mit seinen hydrostatischen Muskeln kann ein Oktopus das Hundertfache seines Körpergewichts ziehen. Ihre Muskeln funktionieren ähnlich wie unsere Zunge, denn sie werden nicht von Knochen gestützt, sondern von einer darin enthaltenen Flüssigkeit. „Oktopusse haben Muskelstränge, die längs, rund und in Spiralen angeordnet sind“, erklärt der Dr. Christine Huffard, Forscherin am Monterey Bay Aquarium Research Institute in Kalifornien. „Indem sie alle gegeneinander pressen, können gegenüberliegende Muskeln sogar ein Pseudogelenk bilden.“
Ein Kokosnuss-Oktopus (Amphioctopus marginatus), läuft mit einer Ladung schützender Schalen über den Meeresgrund.
Das ermöglicht ihnen, die Außenseiten ihrer beiden Hinterarme zu nutzen, um abwechselnd einen Saugnapfrand nach dem anderen abzulegen und über den Boden zu rollen – wie ein Förderband oder die Laufrollen eines Panzers. Auf diese Weise kommen Oktopusse in beeindruckendem Tempo voran.
Dr. Huffard hat die Zeit eines Kokosnuss-Oktopusses (Amphioctopus marginatus) gestoppt. Er schaffte es, 14 Zentimeter pro Sekunde zurückzulegen, das sind 0,5 Kilometer pro Stunde. Natürlich könnten sie viel schneller durchs Meer flitzen, wenn sie ihren Rückstoßantrieb verwenden – aber diese Bewegung würde sie verraten. Sie würden nicht mehr einer rollenden Kokosnuss oder einem Haufen umhertreibender Algen ähneln. „Das Gehen auf zwei Gliedmaßen“, erklärt Christine Huffard, „ermöglicht Oktopussen, sich schneller fortzubewegen, ohne dabei ihre wichtigste Verteidigungsart aufzugeben“: ihre Tarnung.
Die Geheimnisse des Oktopus von Sy Montgomery
Mehr über die faszinierenden und geheimnisvollen Meeresbewohner lesen Sie in Sy Montgomerys Die Geheimnisse des Oktopus.