Der Weiße Hai: Gefahr oder gefährdet?

Hollywood machte den großen Weißen zum berühmtesten Raubtier der Welt. Trotzdem wissen wir nur wenig über ihn. Bis jetzt!

Von Erik Vance
bilder von Brian Skerry
Foto von Brian Skerry

Zusammenfassung: Der Weiße Hai gibt der Wissenschaft nach wie vor viele Rätsel auf. Alter und geschlechtsreife der Tiere sind ebenso unbekannt wie ihre Routen durch die Weltmeere. Dank moderner Technik, wie satellitengestützte Langzeitsender, könnten bald zwei Rätsel gelöst werden: Wohin zieht der Weiße Hai, wenn er die Küstenregionen verlässt? Und: Wie viele Tiere gibt es genau? Diese Erkenntnisse könnten helfen, die gefährdeten Tiere zu schützen - vorausgesetzt der Mensch akzeptiert die großen Räuber vor seinen Küsten.

Eine Begegnung mit einem Weißen Hai in freier Wildbahn ist – anders. Auf den ersten Blick sieht er gar nicht aus wie die wilde Bestie, die man aus den Medien kennt. Er wirkt eher beleibt, um nicht zu sagen: fett. Reißt er das Maul auf, wabbeln weiche Wülste an seinen Wangen – ein feistes, leicht dümmliches Grinsen. Von der Seite betrachtet gleicht eines der gefürchtetsten Raubtiere der Welt einem pausbäckigen Hanswurst.

Dieser Eindruck ändert sich schlagartig, als sich der vermeintliche Clown uns zuwendet. Plötzlich verstehen wir die Angst, ja Panik, die dieses Tier bei den meisten Menschen auslöst, spüren sie am eigenen Leib. Von vorn betrachtet sieht der Kopf aus wie ein spitzer Keil mit schwarzen Augen, die uns finster fixieren. Hängebacken und Grinsen sind verschwunden. Das Einzige, was wir in diesem Moment wahrnehmen, sind die mehrreihigen, fünf Zentimeter langen Zähne.

Langsam und selbstbewusst nähert sich der Hai, dreht den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, scheint sich zu fragen, ob wir seiner Zeit wert sind. Wenn wir Glück haben, wendet er sich ab, wird dabei wieder zum Clown und entschwindet im Dämmerlicht.

Biologen unterscheiden zwischen mehr als 500 Haiarten, aber die menschliche Fantasie beschäftigt sich eigentlich nur mit einer Spezies: dem großen Weißen. Gut 40 Jahre nachdem Spielbergs „Der weiße Hai“ einer ganzen Generation den Strandurlaub vermieste, ist der Raubfisch noch immer einer der größten Filmstars überhaupt. Auch in dem weltweit erfolgreichen Animationsfilm „Findet Nemo“, dessen zweiter Teil diesen Herbst in die Kinos kommt, wurde die Rolle des Bösewichts weder mit dem aggressiven Bullenhai noch mit dem Tigerhai besetzt, der viel besser in das Korallenriff-Setting passen würde. Stattdessen war – selbstverständlich – mal wieder der Weiße Hai mit zähnefletschendem Grinsen auf Kinoplakaten und in Filmtrailern zu sehen.

Jedes Kleinkind erkennt den Weißen Hai, und doch wissen wir wenig über ihn. Niemand hat je gesehen, wie sich die Raubfische paaren oder Junge zur Welt bringen. Niemand weiß, wann sie Geschlechtsreife erlangen oder wie alt sie werden. Wir wissen nicht mal, welchen Routen sie durch die Weltmeere folgen oder wie viele es gibt.

NG-Video: Wie Brian Skerry die Weißen Haie von Cape Cod fotografierte

Und das Wenige, das wir zu wissen glauben, ist oft falsch. Der Weiße Hai ist keine erbarmungslose Bestie, die ihre Beute im Blutrausch zerfleischt, sondern geht beim Angriff überraschend vorsichtig vor und ist vermutlich schlauer, als viele Experten angenommen hatten. Die Menschen fürchten den Meeresjäger nicht nur, weil er gut sechs Meter groß wird und mit einem Druck von zwei Tonnen zubeißt, sondern weil es sich um ein maritimes Phantom handelt. Weil wir so wenig über die Tiere wissen, fühlen wir uns unsicher und orientierungslos und bedroht. Aber je mehr wir über den Carcharodon carcharias herausfinden, desto besser können wir einschätzen, ob er eine Gefahr für den Menschen darstellt – oder ob man ihn vor dem Menschen – Fangflotten, Umweltverschmutzung, Sportfischerei – schützen muss.

Sollte man sich vor dem Weißen Hai, dem bekanntesten Killer des Planeten, nun fürchten – oder doch eher Mitleid mit ihm haben?

Der Weiße Hai macht es Wissenschaftlern nicht leicht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Gäbe es ein gefährliches Landraubtier, das entlang der Küsten von Kalifornien, Südafrika oder Australien seine Beute jagt, hätten Forscher seine Paarungsgewohnheiten, seine Wanderungen und sein Verhalten längst genauestens untersucht. Im Ozean aber gelten andere Regeln. Weiße Haie tauchen auf und verschwinden, in tieferen Meeresregionen ist es fast unmöglich, ihnen auf der Spur zu bleiben. Man kann die Fische nicht in Meerwasseraquarien halten, da sie sich in Gefangenschaft selbst in Gefahr bringen oder andere Beckenbewohner attackieren. Einige Haie traten in den Hungerstreik oder rammten ihren Kopf immer wieder gegen die Wand. Mehrere Betreiber von Seewasseraquarien mussten gefangene Weiße Haie freilassen.

Trotz dieser Schwierigkeiten stehen Wissenschaftler dank moderner Technik kurz davor, zumindest zwei Geheimnisse des Weißen Hais zu lüften. In welche Meeresregion zieht er sich zurück, wenn er die Küsten hinter sich lässt? Und: Wie viele Tiere gibt es genau?

Ein wunderschöner Sommernachmittag auf Cape Cod an der Atlantikküste des US-Bundesstaats Massachusetts. In Strandnähe liegt ein Sieben-Meter-Fischerboot. Die Passagiere – Biologen, Touristen, Journalisten – haben es sich auf Bänken bequem gemacht. Über Funk lauschen sie einem Piloten, der 300 Meter über ihnen kreist. In markantem Neuengland-Akzent sagt er: „Etwas südlich schwimmt ein verdammt hübscher Hai.“

Der Fischereibiologe Greg Skomal, der im Energie- und Umweltministerium arbeitet, wird munter und steigt auf einen Vorbau am Bug, der die Reling um eineinhalb Meter über ragt. In der Hand hält er allerdings weder Harpune noch Angel, sondern eine drei Meter lange Stange mit Videokamera. Als der Kapitän endlich Gas gibt, grinst Skomal voller Vorfreude wie ein kleines Kind.

Der Forscher hatte lange Zeit wenig Gelegenheit, den Weißen Hai zu studieren. An der Ostküste der USA tauchten die Tiere nur äußerst selten auf – hin und wieder verfing sich einer in einem Fischernetz. Aber die Ostküste wurde nicht zu den Meeresregionen gezählt, in denen sich Weiße Haie zu bestimmten Jahreszeiten in größerer Zahl sammeln und Robben jagen: die Pazifikküste vor Kalifornien und Mexiko, die Südküsten von Südafrika und Australien. Als im Jahr 2004 ein einzelnes Weibchen längere Zeit durch die seichten Buchten und Meeresarme von Massachusetts schwamm, war Skomal, der die Fische seit 20 Jahren mithilfe von Peilsendern untersucht, elektrisiert: ein großer Weißer! Direkt vor der Haustür! „Ich dachte nur: Was für ein Glück! So eine Chance bekomme ich nie wieder!“, erzählt er. Er blieb dem Haiweibchen zwei Wochen auf der Spur, taufte es „Gretel“ und schoss ihm mit einer kleinen Harpune einen elektronischen Peilsender unter die Haut.

Der Sender fiel allerdings nach nur 45 Minuten wieder ab. Skomals Chance, endlich mehr über die mysteriösen Wanderbewegungen der Weißen Haie zu erfahren, war vorerst dahin. Fünf Jahre später, am ersten Septembersonntag des Jahres 2009, sichtete ein Pilot vor Cape Cod fünf Weiße Haie. Als das Wochenende vorüber war, hatte Skomal sie alle mit Peilsendern versehen. „Ich flippte völlig aus“, sagt er. „Das Adrenalin peitschte durch meine Adern. Davon hatte ich immer geträumt.“ Mittlerweile hat sich Skomal vielleicht daran gewöhnt. Denn die Haie besuchen die US-Ostküste seitdem jeden Sommer.

In Kalifornien hat man mehr Erfahrung mit den Tieren. Scot Anderson beobachtet die Haie seit Mitte der Achtzigerjahre vor der kalifornischen Küste – zunächst verfolgten die Forscher die Fische mit bloßem Auge, später nutzten sie akustische Peilsender und heute modernste Satellitentechnologie. In den vergangenen 30 Jahren hat Anderson gemeinsam mit Kollegen Tausende von Haisichtungen dokumentiert, die Fachleute identifizieren einzelne Tiere anhand der Form und Zeichnung ihrer Schwanzflossen oder beschreiben die Linie zwischen dem grauen Körper und dem weißen Bauch. Zumindest für die Meeresregion vor Kalifornien können die Biologen heute sagen, wie viele Haie es gibt und wo sie sich aufhalten.

Um die Gesamtpopulation zu bestimmen, nutzen die Biologen eine statistische Formel, die auf der sogenannten Fang-Wiederfang-Methode basiert. Dazu setzt man die Zahl der Haie, die in einem bestimmten Zeitraum in einem Gebiet gesichtet werden, ins Verhältnis zu den Individuen, die dort zuvor schon gesichtet wurden, und zu denen, die erstmals auftauchen, und erhält so Rückschlüsse auf die Gesamtpopulation.

2011 errechnete ein Forscherteam auf diese Art und Weise, dass vor Kalifornien nur 219 ausgewachsene Weiße Haie leben. Das niedrige Ergebnis schockierte Experten wie Öffentlichkeit – und stand bald in der Kritik. Ein anderes Forscherteam wertete die Daten erneut aus, legte aber andere Annahmen zugrunde und schätzte die Zahl der Haie für die Meeresregion auf mehr als 2000 (einschließlich der Jungtiere, die in der ersten Berechnung nicht berücksichtigt worden waren).

Wenig später schätzte eine Arbeitsgruppe in Südafrika den Bestand dort auf etwa 900 Tiere. Vor der mexikanischen Insel Guadalupe leben weitere 120 Exemplare. Die Interpretation der Hai-Volkszählung ist schwierig: Wie sind diese Zahlen einzuschätzen? Und ab wann gilt eine Population als stabil?

Die internationale Umweltorganisation IUCN bezeichnet den Weißen Hai als „gefährdete Art“. Diese Einstufung klingt nachvollziehbar, wenn man den höchsten Schätzungen folgt, die von einer globalen Population von 25.000 Tieren ausgeht. Nach den niedrigsten Schätzungen gibt es jedoch weltweit nur etwa 4000 Weiße Haie – ähnlich viele wie wild lebende Tiger, die offiziell „vom Aussterben bedroht“ sind. Der australische Statistiker und Hai-Experte Aaron MacNeil sieht Grund für vorsichtigen Optimismus – auch wegen der regelmäßigen Haisichtungen vor Cape Cod. „Historisch gesehen gibt es heute weniger Weiße Haie als früher“, sagt MacNeil, „aber die Art ist nicht vom Aussterben bedroht. Vermutlich nimmt ihre Zahl derzeit sogar sehr langsam zu.“

Eine positive Entwicklung ist, dass Weiße Haie anders als verwandte Arten kaum mehr von kommerziellen Fischern gejagt werden. Sportfischer, die nach Trophäen gieren, und Schleppnetze, in der der große Weiße als Beifang endet, bedrohen die Spezies weiterhin. Da der Weiße Hai an der Spitze der Nahrungskette steht, spielt er für das ökologische Gleichgewicht der Ozeane eine wichtige Rolle.

Um zu klären, ob der Weiße Hai zu den schutzbedürftigen Arten zählt, ist es wichtig, mehr über seine Wanderungsrouten herauszufinden. Leider bewegen sich Haie weniger berechenbar als Zugvögel: Statt zu einer gewissen Jahreszeit von Region A in die Region B umzuziehen, verhalten sich die Haie erratisch: Manche bleiben an den Küsten, andere ziehen im Zickzack Hunderte von Kilometern durch das offene Meer. Viele Haie – aber nicht alle – wandern offenbar je nach Jahreszeit zwischen warmem und kaltem Wasser hin und her. Und Männchen, Weibchen und Jungtiere sind auf unterschiedlichen Routen unterwegs.

Seit einiger Zeit liefern satellitengestützte Langzeitsender der Forschung aufschlussreiche Informationen. Bekannt ist, dass ausgewachsene Weiße Haie im Spätherbst die Küsten Kaliforniens und Mexikos verlassen und in die tieferen Meeresregionen in der Mitte des Pazifiks ziehen, die manche Meeresbiologen „Wüste des Ozeans“ nennen. „Was um alles in der Welt machen sie dort?“, fragt der kalifornische Haiforscher Salvador Jorgensen. Er vermutet, dass sich die Haie dort fortpflanzen, was auch erklären würde, warum noch nie ein Taucher oder U-Boot eine Haipaarung beobachtet hat. Die „Wüste des Ozeans“ ist riesig, das Wasser mehrere Tausend Meter tief. Die Auswertung der Satellitendaten ergab immerhin, dass sich Weibchen auf geradem Weg in das Gebiet bewegen, während die Männchen zwischen verschiedenen Meerestiefen hin und her wandern – auf der Suche nach Partnerinnen?

Später schwimmen die Männchen zurück zur Küste, während die Weibchen ein weiteres Jahr auf hoher See bleiben, womöglich, um ihren Nachwuchs an einem unbekannten Ort zur Welt zu bringen. Sicher ist nur, dass die Jungtiere irgendwann in den Futtergebieten der mittleren Breitengrade auftauchen, wo sie Fische fressen, bis sie groß genug sind, um mit ihren Artgenossen weiter nördlich und südlich auf Robbenjagd zu gehen.

Das Puzzle ist längst nicht komplett. Noch ist unklar, wo die Jungen geboren werden. Und bislang wurde nur die Population vor Kalifornien genauer untersucht. Die australischen Haie schwimmen vermutlich entlang der Südküste auf Nahrungssuche, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es dort bestimmte Wanderungsbewegungen oder einen Paarungstreff. Über die Verhältnisse im Atlantik ist noch weniger bekannt. Greg Skomal sagt: „Es gibt Wanderer, und es gibt Küstenbewohner. Aber ich habe keine Ahnung, wonach sich das richtet.“

Was er weiß, ist, dass der Weiße Hai an der US-Ostküste eine lange Geschichte hat. In seinem Arbeitszimmer in New Bedford zeigt er Dokumente, die belegen, dass schon die Ureinwohner auf Robbenjagd gingen. Die Analyse von Knochenfunden an archäologischen Ausgrabungsstätten legt nahe, dass die Robbenbestände im heutigen Neuengland schon im 17. Jahrhundert zusammenbrachen – und deshalb auch die Haie fernblieben. Erst seit Kurzem gibt es dank strenger Naturschutzgesetze wieder größere Robbenkolonien in der Region. Und mit den Beutetieren kamen auch die Haie zurück.

Bei einem Patrouillenflug über der Ostküste macht Wayne Davis, ein erfahrener Pilot, der den Meeresbiologen hilft, Weiße Haie aufzuspüren, in nur 30 Flugminuten sieben Exemplare aus. Die Fische schwimmen vor Stränden, an denen Robben Nahrung suchen. Nur eineinhalb Kilometer entfernt liegt der Badestrand. Die Bevölkerung von Neuengland hat die Neuankömmlinge bislang akzeptiert. Es gibt T-Shirts und Poster zu kaufen, auf denen die Haie meist von der Seite gezeigt werden – als fröhliche Witzbolde. Doch Experten gehen davon aus, dass irgendjemand die Haie irgendwann von einer anderen Seite kennenlernen wird – und sich einem Hai und seinen unzähligen Zähnen frontal gegenübersieht.

Zwar sind Haiangriffe auf Menschen sehr selten. Nach einer neuen Studie der Universität Stanford kommt ein Haiangriff auf 738 Millionen Strandbesuche. Die letzte tödliche Haiattacke vor Neuengland ereignete sich im Jahr 1936. 2012 wurde ein Schwimmer in beide Beine gebissen, 2014 wurden zwei Kanusportler aus ihrem Kanu geworfen und kamen mit dem Schrecken davon. Wie lange hält das Glück vor?

Spätestens wenn vor Massachusetts, im Mittelmeer oder im Südatlantik wieder ein Mensch durch einen Weißen Hai getötet wird, zeigt sich, wo wir wirklich stehen: Können wir unsere Ängste überwinden und dem Weißen Hai – dem legendären Killer, dem Clown mit den schwarzen Augen – eine Chance geben?

 

(NG, Heft 7 / 2016, Seite(n) 96 bis 119)

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