Ein Paradies für Haie

Kein Zweifel, Haie haben ein Imageproblem. Mit ihrem Killerblick sind sie nicht gerade Sympathieträger.

Von Jennifer S. Holland
bilder von Brian Skerry
Foto von Brian Skerry

Kein Zweifel, Haie haben ein Imageproblem. Mit ihrem Serienkillerblick, abscheulich gefletschten Zähnen und blutigen Fressorgien sind sie nicht gerade Sympathieträger. Filmemacher und Schriftsteller trugen ein Übriges dazu bei, dass der Hai zum Inbegriff des Untiers wurde. "Stumpfsinnigen Fresser abscheulichen Fleisches" - so nannte Herman Melville den Hai mit seinem "Sägerachen", der "grässlichen Flanke" und seinem "Gorgonenhaupt". Auf jahrelangen Reisen an Bord von Walfängern hatte der berühmte Epiker der Meere im 19. Jahrhundert miterlebt, wie Haie die Innereien geschlachteter Wale verschlangen. Dass diese gefährlichen Räuber auch Aas fraßen, war wohl ausschlaggebend dafür, dass Melville sie derart verabscheute. Auf den Bahamas hätte er seine Einstellung vielleicht geändert.

Ernest Hemingway, der sich Mitte der dreißiger Jahre mit Schreibmaschine und Angelrute auf die Inseln zurückzog, fand hier Anregung, über Fische, Fliegenfischen und die Abenteuer des Segelns zu schreiben. Sicher, als Angler verdammte er die Haie, die seine Beute schneller wegfraßen, als er sie einziehen konnte. Er tötete Dutzende Haie und verbrannte ihre Kadaver am Strand. Doch obwohl er sie oft verteufelte, schrieb er auch mit Bewunderung über die Herren der Meere. In seinem Roman "Der alte Mann und das Meer" sagt ein Protagonist über einen auftauchenden Makohai: "Alles an ihm war prachtvoll bis hin zum zähnestarrenden Schlund … Er ist kein Aasgeier … Er ist wunderschön, edel und hat vor nichts Angst."

Foto von Bild: Brian Skerry

So, wie Hemingway die Bahamas einst erlebt hat, sind sie fast überall auch noch heute: Das Wasser ist klar und blau und voller Leben. Der größte Teil des Archipels - etwa 700 Inseln, die sich südöstlich von Florida über 800 Kilometer erstrecken - ist von jeder modernen Entwicklung noch unberührt. Die Einheimischen verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Fang von Karibik-Langusten, Schnappern und Fechterschnecken. Sportangler fischen in seichten Gewässern nach Frauenfischen und in dem kalten, 1800 Meter tiefen Graben, der "Zunge des Ozeans" genannt wird, nach Blauen Marlinen und Segelfischen. Auch die Haie sind noch da. An der Tauchbasis "Tiger Beach" kreisen Dutzende Tigerhaie. Ihre dunklen, wachen Augen sind faustgroß, feine Punkte und Streifen zieren ihre Haut wie ein Batikmuster. Nach dem Weißen Hai gilt diese Spezies als die gefährlichste. Der Tigerhai frisst buchstäblich alles - andere Haie, Bauschilder, Autoreifen. Ein großes Weibchen schert aus der Kreisformation aus und kommt auf mich zu. Es schwimmt so nah an mir vorbei, dass ich die Poren auf seinem Maul erkenne, mit denen es die bioelektrische Energie von lebendigem Fleisch wahrnehmen kann. Während es lautlos vorübergleitet, strecke ich die Hand aus und streiche ihm über die Seite. Die Haut fühlt sich wie feines Schmirgelpapier an. Die Bewegungen des Tieres sind gleichmäßig und ruhig. Bald schließt es sich wieder seinen kreisenden Artgenossen an. Für einen Fisch mit einem so bösartigen Ruf macht dieser Hai einen entwaffnend sanften ersten Eindruck auf mich.

Tigerhaie sind nicht die einzigen Haie, die es hier gibt. Mehr als 40 Arten bevölkern die Gewässer der Bahamas, darunter Zitronenhaie, Große Hammerhaie, Stierhaie, Große Schwarzspitzenhaie, Makohaie, Seidenhaie und Atlantische Ammenhaie. Selbst Blauhaie und Walhaie kommen auf ihren weitläufigen Wanderungen hier entlang. Andere leben ganzjährig in diesen Gewässern und gebären ihre Jungen in denselben stillen Lagunen, in denen sie selber geboren wurden. Und die Fischer fluchen wie einst Hemingway über diese Räuber, die ihnen die Beute von der Angel schnappen. Der Name Bahamas kommt von dem spanischen Ausdruck Baha Mar und bedeutet "flaches Meer". Der Archipel ruht auf der Großen und der Kleinen Bahamabank, zwei Kalksteinplattformen, die von bis zu 3900 Meter tiefen Seegräben getrennt werden. Die Vielfalt der Landschaft - steile Abgründe und seichte Stellen, Felsvorsprünge und Sandstrände, Korallenriffe, Mangrovenwälder, Seegraswiesen und stille Lagunen - lässt hier Leben in allen Größenordnungen gedeihen. Dazu lockt die Mischung aus Atlantikwasser und einem warmen Strom aus dem Golf von Mexiko Haie von überall her an. Für sie ist dieses saubere Meer das Paradies.

In einem abgeschiedenen, von Mangroven gesäumten seichten Gewässer tummeln sich kleine Zitronenhaie und schnappen an der stillen, glasklaren Oberfläche nach Beute.

BELIEBT

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    Hammerhai

    "Dieser Ort ist ganz außergewöhnlich", sagt der Biologe Samuel "Doc" Gruber, der in der Nähe eine Haiforschungsstation leitet. Die winzige Lagune der Inselgruppe Bimini ist eine natürliche Kinderstube für Haie, eine Geburts- und Nahrungsstätte, in der junge Zitronenhaie fressen und heranwachsen können, ohne selber gefressen zu werden. Ein erwachsenes Weibchen mit einem Sender hat Gruber vor ein paar Jahren hierhergeführt. Seit etwa 25 Jahren forscht Samuel Gruber über die Zitronenhaie von Bimini. Er hat die weltweit größte Datenbank zu einer Haipopulation erstellt. Seine Erkenntnisse darüber, wie Haie ihre Umwelt beeinflussen und was sie umgekehrt von ihr brauchen, bestätigen zusammen mit vielen anderen Untersuchungen, wie wichtig die Mangroven für Haie sind.

    Deshalb ist Gruber auch so wütend über die riesige Ferienanlage, die in Nord-Bimini entsteht. Apartmenthäuser, ein Jachthafen und ein Casino sind bereits im Bau, Pläne für einen Golfplatz am Strand liegen vor. Der Meeresboden wird ausgebaggert, immer mehr Land wird umzäunt und bebaut. Die Einheimischen sehen voller Sorge, wie der Zugang zu den Fanggründen schrumpft. "Doch am schlimmsten ist, dass die Mangroven verschwinden, wenn sich die Baulöwen durchsetzen", sagt Gruber. Allerdings räumt er ein, dass Bimini und andere kleinere Inseln eine verbesserte Infrastruktur für Besucher brauchen, denn die Einnahmen aus dem Tourismus spielen für die lokale Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Ein schwieriger Balanceakt: Sensible Erschließung und eine überschaubare Zahl an Touristen würden zum Schutz der Haie beitragen - ein Zuviel an Tourismus wiederum könnte ihr Ende bedeuten.

    (NG, Heft 6 / 2008, Seite(n) 92)

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