Mikroben: Unsere kleinen Freunde

Wenn wir einatmen, fangen unsere Nasenlöcher Millionen unsichtbarer Teilchen ein: Staub, Pollen, Meeresgischt, Vulkanasche, Pflanzensporen. Und diese winzigen Bröckchen sind ihrerseits Heimat einer wimmelnden Gemeinschaft von Bakterien und Viren.

Von Nathan Wolfe
bilder von Fhnw, Martin Oeggerli mit Unterstützung der School Of Life Sciences
Foto von Fhnw, Martin Oeggerli mit Unterstützung der School Of Life Sciences

Atmen Sie ein. Spüren Sie, wie die Luft durch Ihre Nasenlöcher strömt. Wie sich Ihr Zwerchfell zusammenzieht und den Atem tief in den Brustkorb saugt. Sauerstoff fließt in die Hohlräume der Lunge, wandert in die Kapillaren – bereit, jede einzelne Zelle Ihres Körpers zu befeuern. Sie leben.

Voller Leben ist auch die Atemluft. Wenn wir einatmen, fangen unsere Nasenlöcher Millionen unsichtbarer Teilchen ein: Staub, Pollen, Meeresgischt, Vulkanasche, Pflanzensporen. Und diese winzigen Bröckchen sind ihrerseits Heimat einer wimmelnden Gemeinschaft von Bakterien und Viren. Manche davon können Allergien oder Asthma auslösen. Seltener sind Kleinstlebewesen, die Krankheiten verursachen, etwa Sars, Tuberkulose oder Grippe.

In den vergangenen 15 Jahren habe ich viel Zeit darauf verwendet, mit Wattestäbchen in Menschennasen, Schweineschnauzen, Vogelschnäbeln und in den Riechorganen von Affen herumzustochern. Ich wollte Spuren von Erregern finden, bevor sie tödliche Pandemien auslösen. Die Folge war, dass ich Luft lange Zeit nur noch als Träger der nächsten Pandemie ansah – und nicht als das Medium, das unser Leben erhält. Aber atmen Sie ruhig: Die meisten Mikroben in der Luft schaden uns wenig oder gar nicht. Manche tun uns sogar etwas Gutes. Wahr ist freilich auch: Wir wissen nur sehr wenig über sie.

Die heimlichen Herrscher der Erde

Bakterien stellen die größte Zahl von Lebewesen auf dieser Erde. Dennoch kennen wir sie erst seit rund 350 Jahren. Damals richtete der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek zum ersten Mal sein Mikroskop auf Teichwasser- und Speichelproben. Die Viren – viel kleiner als Bakterien, aber zahlreicher als alle Lebewesen zusammen – wurden vor etwas mehr als hundert Jahren entdeckt. Und erst seit einigen Jahrzehnten ist uns klar, wie allgegenwärtig diese kleinsten Lebewesen sind: Sie gedeihen am oberen Rand der Wolken, aber auch kilometertief in der Erde. Wir sind stolz darauf, nahezu jeden Winkel unseres Planeten erkundet zu haben. Aber verborgen darin liegt die Schattenwelt der Mikroben – der heimlichen Herrscher unserer Erde.

Dass wir lange so wenig über die Fülle der Mikroben wussten, lag vor allem daran, dass man die meisten Mikroorganismen nicht im Labor züchten kann. Erst in jüngster Zeit konnten Forscher mit DNA-Sequenzierungsverfahren ganze Populationen untersuchen, ohne zuvor in einer Petrischale eine Kultur anlegen zu müssen. So gaben Wissenschaftler am Lawrence Berkeley National Laboratory 2006 bekannt, dass Luftproben, die sie in San Antonio und Austin in Texas gesammelt hatten, mindestens 1800 verschiedene Arten schwebender Bakterien enthalten; damit spielte die Luft, was den Artenreichtum angeht, plötzlich in der glei­chen Liga wie der Erdboden. Die Bakterien stammten etwa von Wiesen, aus Kläranlagen, heißen Quellen und vom menschlichen Zahnfleisch; ungewöhnlich häufig waren auch Bakte­rien, die in abblätternder Farbe vorkommen.

Mikroben spielen eine wichtige Rolle in der Unterwasserwelt. Sehen Sie hier ein Video über die kleinsten Meeresbewohner:

Viele in der Luft schwebende Bakterien kommen aus der näheren Umgebung, manche haben aber auch riesige Entfernungen zurückgelegt. Staub aus den Wüsten Chinas wandert über den Pazifik nach Amerika und bis nach Europa; irgendwann hat er die ganze Erde umrundet. Solche Staubwolken enthalten Bakterien und Viren aus dem Boden ihrer Herkunftsregionen, aber auch Mikroben aus dem Rauch von Müll­halden oder dem Nebel über den Ozeanen. At­men Sie ein, und Sie haben eine Stichprobe der ganzen Welt in Ihren Lungen.

Auch die oberen Atmosphärenschichten enthalten Mikroben. Manche schweben bis zu 36 Kilometer hoch über der Erde. Trotz der starken Ultraviolettstrahlung, in der die meisten Bakterien zugrunde gehen, scheinen einige Arten in den Wolken Stoffwechsel zu betreiben, mög­licherweise pflanzen sie sich sogar fort.

Mikroben leben nicht nur in der Luft, sie haben sie auch erschaffen – oder zumindest je­nen Teil, auf den wir am meisten angewiesen sind. Als das Leben auf der Erde entstand, enthielt die Atmosphäre keine nennenswerten Sauerstoffmengen. Sauerstoff ist ein Abfallpro­dukt der Fotosynthese, und die Entstehung dieses Prozesses vor etwa zweieinhalb Milliarden Jahren verdanken wir den Cyanobakterien. Sie generieren auch heute etwa die Hälfte des ent­stehenden Sauerstoffs und indirekt auch den Rest: Vor Hunderten von Jahrmillionen fanden urtümliche Cyanobakterien ihren Weg in Zellen, aus denen im Verlauf der Evolution die Pflanzen entstanden. Nachdem sie sich in diesen Urahnen festgesetzt hatten, entwickelten sie sich zu Chlo­roplasten, den sauerstoffproduzierenden Foto­ synthesefabriken der Pflanzenzellen. Frei lebende Cyanobakterien und die Chloroplasten in den Pflanzen betreiben zusammen den allergrößten Teil der Fotosynthese auf der Erde.

Mikroben zur Untermiete

Aber zurück zu unserer Nase. Was passiert mit den Mikroben, die wir unwissentlich ein­ geatmet haben? Sie strömen einfach hindurch. Unsere Atemwege sind die Heimat einer kom­plexen Ansammlung von Untermietern. Die meisten Bakterien in unseren Nasenlöchern ge­hören zu drei Gattungen: Corynebacterium, Propionibacterium und Staphylococcus. Sie bilden eine der vielen Lebensgemeinschaften, aus denen das Mikrobiom des Menschen besteht: die Gesamtheit aller Bakterien und Lebewesen, die auf unserer Haut, dem Zahnfleisch, den Zähnen, den Geschlechtsorganen und in unserem Darm zu Hause sind.

In unserem Körper sind die Bakterien gegenüber unseren eigenen Zellen in zehnfacher Überzahl, und sie wiegen etwa so viel wie unser Gehirn – bei einem Erwachsenen rund 1350 Gramm. Jeder Mensch ist also sowohl ein Or­ganismus als auch ein dicht besiedeltes Öko­system, und die Arten, die seine Biotope bevöl­kern, unterscheiden sich voneinander so stark wie Tiere des Urwalds von denen der Wüste.

Die meisten dieser Mikroben sind entweder nützlich oder unaufdringliche Schmarotzer. Sie helfen uns, das Essen zu verdauen und Nährstoffe aufzunehmen. Sie produzieren lebenswichtige Vitamine und entzündungshemmende Proteine, die unsere eigenen Gene nicht herstellen können. Und sie trainieren unser Immunsystem, so dass es ansteckende Eindringlinge besser bekämpfen kann. Bakterien auf unserer Haut scheiden eine Art natürliche Feuchtigkeitslotion aus und ver­hindern so die Entstehung von Rissen, durch die Krankheitserreger eindringen könnten.

Die erste Dosis dieser Mikroben erhalten wir, wenn wir den Geburtskanal unserer Mutter pas­sieren. Dort durchläuft die Bakterienbesiedelung während der Schwangerschaft einen dramati­schen Wandel. Unter anderem wird Lactobacillus johnsonii, der normalerweise im Darm lebt und zur Verdauung von Milch beiträgt, in der Vagina häufiger. Das Baby kommt mit den Bakterien in Kontakt – und kann möglicherweise dadurch die Muttermilch besser verdauen.

Gefährliches Bakterium

Unser Organismus ist aber auch Heimat eini­ger höchst zwielichtiger Gestalten. Zu jedem Zeitpunkt tragen ungefähr ein Drittel der Men­schen Staphylococcus aureus in der Nase, ein normalerweise harmloses Bakterium, das aller­dings gefährlich werden kann. In der Regel hal­ten konkurrierende Bewohner der Nasenhöhle das Bakterium unter Kontrolle. Aber S. aureus kann sich zu einem Übeltäter entwickeln, insbe­sondere wenn er sich in andere Regionen vor­wagt. In der Haut kann er alles Mögliche verur­sachen, vom Pickel bis zur lebensbedrohlichen Infektion. Unter bestimmten Bedingungen tun sich die einzelnen Bakterien auch zu einer film­artigen Masse zusammen, die eine einheitliche Front bildet, in neue Gewebe einwandert und sogar Venenkatheter und andere Klinikgerät­ schaften infizieren kann – mit bisweilen töd­lichen Folgen. Manche Stämme sind besonders gefährlich, weil sie eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt haben.

Je mehr wir über Mikroben lernen, desto klarer wird jedoch, wie leicht auch die nützlichen Kleinstlebewesen zwischen die Fronten der Antibiotika und ihrer Ziele geraten können. Und nicht immer sind die Grenzen zwischen Freund und Feind leicht zu ziehen: So ist seit langem bekannt, dass das Magenbakterium Helicobacter pylori bei manchen Menschen Magengeschwüre verursacht. Bei den meisten jedoch erfüllt es eine nützliche Funktion: Es steuert die Immunzellen im Magen. Studien des Mikrobiologen Martin Blaser von der Universität New York zeigen nun allerdings, dass immer weniger Erwachsene mit dem Bakterium besiedelt sind. Gleichzeitig lei­den immer mehr amerikanische Jugendliche an Asthma. Blaser vermutet, dass es einen Zusam­menhang geben könnte.

Dynamische Umwelt

Sollen wir also unsere Kinder mit einer Dosis H. pylori impfen? So einfach ist die Sache leider nicht. Je mehr Forscher über die Verbindungen zwischen uns und unseren Mikroben – und über ihre komplexen Beziehungen untereinander – entdecken, desto stärker betrachten sie die Welt der Kleinstlebewesen wie die Ökologen ein Öko­system: als dynamische Umwelt, definiert durch die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen ihren Teilen. Was können wir daraus lernen? Möglicherweise, dass es an der Zeit ist, vorsich­tiger mit Antibiotika umzugehen und verstärkt auf Therapien zu setzen, die die ganze Mi­krobenpopulation stärken und damit unsere Gesundheit verbessern. «Wie man eine Lebens­gemeinschaft stört, wissen wir», sagt die Mikro­benforscherin Katerine Lemon vom Forsyth Institute in Cambridge, Massachusetts. «Wie wir sie wieder in einen gesunden Zustand versetzen können, müssen wir noch lernen.»

Mikroben als Untermieter, um die wir uns zu unserem eigenen Nutzen kümmern sollten – diese Sichtweise ist meilenweit entfernt von mei­ner Alltagstätigkeit, sie als Mörder dingfest zu machen und auszurotten. Doch beide Perspektiven haben ihre Berechtigung. Unsere Wachsamkeit gegenüber der Bedrohung durch infektiöse Krankheitserreger darf nicht nachlassen. Neben unserer Furcht vor den unsichtbaren Lebewesen um uns und in uns sollten wir aber auch Respekt entwickeln: für all das, was sie für uns leisten.

Weitere Artikel zu diesem Thema finden Sie auf unserer Themenseite Evolution .

(NG, Heft 1 / 2013, Seite(n) 112 bis 123)

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