Orcas - Die Jagd beginnt

Manche Orcas mögen Heringe, andere bevorzugen Robben. Jeder in der Gruppe wird satt – dafür sorgen die Tiere mit ihren ausgefeilten Jagdstrategien.

Von Virginia Morell
bilder von Paul Nicklen
Foto von Paul Nicklen

Zusammenfassung: Viele Menschen kennen Orcas vor allem aus Ozeanparks, in denen sie Kunststücke vorführen müssen. Dabei sind die Schwertwale ausgezeichnete Jäger, die mit ausgefeilten Strategien dafür sorgen, dass jeder in ihrer Gruppe satt wird. Bemerkenswert: Jede Population entwickelt ihre eigene Taktik – je nach Beutetier und Lebensraum.

Das kann einem das Herz zerreißen, wenn es wieder einmal gelungen ist, einen Orca nach langer Gefangenschaft erfolgreich in die Freiheit zu entlassen, freuen sich nicht nur die Trainer, sondern alle, denen diese stolzen Tiere etwas bedeuten. Wer in freier Wildbahn mit Schwertwalen zu tun hat, spürt, was keine Show vermitteln kann: ihr Temperament, ihre Klugheit, ihre Freude am Leben miteinander in ihrem natürlichen Element.

An einem kalten Januartag im norwegischen Andfjord kann ich es selbst bewundern. 300 Kilometer nördlich des Polarkreises umgeben mich Dutzende der schwarz-weißen Schwertwale. Biologen nennen die Art Orcinus orca, es sind die größten Delfine. Ihre hohen Rückenflossen glitzern im arktischen Dämmerlicht. Ich werde in den nächsten Tagen viel darüber lernen, wie komplex das Leben dieser Tiere ist.

Es geht los. Im Team treiben die Orcas Heringe zu kleineren Gruppen zusammen, die wie silberne Kugeln durchs Wasser treiben. Hin und wieder schlagen die Schwertwale wie zur Übung mit dem Schwanz auf die Meeresoberfläche. Wenig später wenden sie die Hiebe unter Wasser an und prügeln auf den Heringsschwarm ein. Es ist die spezielle Jagdmethode der Orcas dieser Region, erklärt die aus Finnland stammende Meeresbiologin Tiu Similä, die neben mir auf dem Boot steht. Die Fische werden durch die Schläge nicht immer getötet, aber viele werden zumindest betäubt und sind dann eine leichte Beute.

Denn obwohl es so viele Heringe sind, ist es für die Schwertwale nicht leicht, sie zu fangen. Die Fische sind schnell und wendig, sie bilden angesichts der Räuber zwar dichte Schwärme, stieben aber blitzschnell auseinander, wenn ein Orca vorstößt. Anders als Bartenwale können Schwertwale nicht einfach das Maul aufsperren und Tausende Liter Meerwasser samt der Fische, die darin schwimmen, schlucken. Sie setzen eine andere Strategie ein und isolieren zunächst eine Gruppe Heringe von ihrem Schwarm. „Die Schwertwale hindern sie daran, wegzutauchen“, sagt Similä. „Sie drängen sie an die Oberfläche und umkreisen sie. Dabei hat jeder Wal seine Rolle. Es ist wie ein Ballett: Die Jäger bewegen sich koordiniert, sie kommunizieren und entscheiden gemeinsam, was als Nächstes zu tun ist.“

Wenn die silberne Heringskugel zusammengetrieben ist, beginnt in der Regel das „Karussell“: Dabei tauchen Orcas abwechselnd unter den Fischschwarm und umkreisen ihn. Sie stoßen Luftblasen aus, rufen und zeigen ihren weißen Bauch, um den Heringen Angst einzujagen. Die drängen sich noch dichter zusammen. Wenn das Karussell auf Hochtouren läuft, springen einige Heringe sogar in die Luft und versuchen, so zu entkommen. Sobald das Team von Schwertwalen – die Schule, wie der Biologe sagt – die Heringe unter Kontrolle hat, beginnt einer, mit dem Schwanz auf den Rand des Schwarmes einzuschlagen. Es ist angerichtet.

Heute bekommen wir allerdings kein Karussell zu sehen. Die Schwertwale schwimmen vor und hinter den Fischen hin und her, aber nicht in der typischen Kreisbahn. Sie sind dennoch erfolgreich. Mit gewaltigen Hieben schlagen sie ihren Schwanz in den Schwarm, betäubte und tote Heringe treiben im Wasser, Fischschuppen liegen silbern auf der See.

Das Karussell ist eine von vielen verschiedenen Jagdstrategien, die Schwertwale je nach Region und Art ihrer Beute einsetzen. Similä und einige ihrer Kollegen sprechen dabei sogar von unterschiedlichen „Kulturen“. In Argentinien werfen sich Schwertwale beispielsweise auf den Strand und fangen arglose Seelöwenjunge. Die Jäger achten dabei auf den Stand der Gezeiten und den Wellengang, um nicht längere Zeit auf dem Trockenen zu liegen. In der Antarktis erzeugen Orcas wiederum gemeinsam hohe Wellen, mit denen sie Robben von Eisschollen spülen.

Viele dieser „Kulturphänomene“ sind heute bekannt, aber was wir an diesem Januartag erleben, ist etwas vollkommen Neues: Wo hier im Andfjord sonst nur Schwertwale jagen, schwimmen diesmal auch Finn- und Buckelwale zwischen ihnen umher und tun sich an den Heringen gütlich. Similä staunt: Es ist nicht bekannt, dass Orcas gemeinsam mit größeren Walen jagen. Gelegentlich greifen sie Pott-, Grau-, Finn- und Buckelwale sogar an – was ihnen den Beinamen Killerwale eingetragen hat.

Doch hier ragen Rückenflossen unterschiedlichster Form und Farbe um uns herum aus dem Wasser. Wo Schwertwale die Heringe zusammengedrängt haben, tauchen plötzlich Buckelwale mit weit aufgerissenem Maul empor und verschlucken die Fische, ehe die Orcas zum Zuge kommen. Von den Finnwalen sehen wir nur ihre gebogenen Flossen, wenn sie einen schnellen Atemzug nehmen, bevor sie sich zum Fressen wieder absinken lassen. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt Similä.

Da Buckelwale genau wie Orcas bei der Jagd Fischschwärme umkreisen und mit Luftblasen zusammentreiben, könnte es eine Erklärung für die sonderbare Zusammenkunft geben: „Arbeiten sie hier vielleicht mit den Orcas zusammen?“, fragt sich Similä. Andererseits wirkt die Jagd heute nicht sehr koordiniert, Orcas wie Buckelwale fressen eher „im Vorbeischwimmen“, nachdem die Orcas mit dem Schwanz auf den Rand der Heringskugel geschlagen haben. „Das erfordert mehr Energie als das Karussell“, sagt Similä. „Wenn so viele Heringe da sind, ist das Karussell eigentlich sinnvoller.“ Sie kann sich das Verhalten nicht erklären. Dabei beschäftigt sie sich schon seit 30 Jahren mit den Schwertwalen.

Rund 50.000 soll es in allen Meeren zwischen Arktis und Antarktis geben, im Nordatlantik könnten es rund 3.000 Tiere sein, von denen sich einige Populationen auf Heringe spezialisiert haben. Eine Untergruppe von etwa tausend Orcas – die „norwegischen Schwertwale“ – folgen den Schwärmen bis in die Fjorde.

Als zu Beginn der Sechzigerjahre die Heringsbestände zeitweise überfischt wurden, verschwanden auch die Schwertwale aus den norwegischen Fjorden. Als die Heringe sich Anfang der Achtzigerjahre erholten, wurden die Orcas bald danach wieder gesichtet. Damals begann die Arbeit der Biologin mit den Schwertwalen. Sie fotografierte so viele Tiere wie möglich, um sie später identifizieren zu können. Sie schnorchelte neben ihnen und filmte sie beim Fressen. „Als ich anfing, wusste man über die Orcas so gut wie nichts“, erzählt sie. „Man sagte, sie seien üble Schädlinge und würden alle Fische wegfressen.“

Von 1978 bis 1981 gab es in Norwegen ein offizielles Dezimierungsprogramm, und die Fischer töteten jeden Schwertwal, den sie zu sehen bekamen – insgesamt 346 Tiere. Noch lange danach galten die Schwertwale vielen Norwegern als maßlos gefräßige Heringsräuber – bis 1992. Da strahlte das Fernsehen Aufnahmen aus, die Similä gemacht hatte. Die Bilder bewiesen, dass Orcas keineswegs ganze Heringsschwärme auf einmal verschlucken, sondern wählerisch einen Fisch nach dem anderen verspeisen, so lange, bis sie satt sind.

Der Schaden war da bereits angerichtet. Orca-Gruppen, in denen einzelne erschossen oder verwundet wurden, vergessen offenbar nie. „Bei manchen Tieren kann man Narben von Schusswunden sehen“, sagt Similä. „An solche Schulen kommen wir nie nah heran. Wenn die einen Motor hören, hauen sie ab.“ Geführt wird jede Schwertwalschule von einer erfahrenen Walkuh, der Matriarchin. Similä vermutet, dass diese „weisen Mütter“ ihren Jungen auch beibringen, Fischerboote zu meiden. „Ich weiß nicht, wie sie es den anderen mitteilen. Vielleicht führen sie ihre Gruppe einfach weg. Aber irgendwie sagen sie auch: ‚Aufpassen, Gefahr!‘“

Während der Tage, die ich Similä begleite, sehen wir einmal Schwertwale auf der anderen Seite des Fjords blasen. Wir fahren hinüber in eine ruhige Lagune, „das Schwertwalparadies“, wie die Biologin sagt. Dicht bei uns kommen einige Schulen an die Oberfläche. Wie Segel gleiten ihre Rückenflossen über das Meer – lang und gerade die der Bullen, kürzer und gebogen die der Kühe. Zwischen ihnen treiben sich Buckelwale herum, die wohl auf Fische warten. Einige Orca-Kälber reiten spielerisch auf unserem Kielwasser und beäugen uns neugierig. Anders als bei der letzten Begegnung haben die Schwertwale es heute anscheinend nicht eilig – und Similä nutzt die Ruhe, um etwas mehr über sie zu erzählen.

Bei der Jagd, sagt sie, habe anscheinend jeder Schwertwal eine bestimmte Aufgabe. Sie hat gesehen, wie erwachsene Tiere den Nachwuchs schulten, wie Jungtiere nach dem Vorbild ihrer Mütter übten, mit dem Schwanz zu schlagen. Sie hat auch beobachtet, dass manche Schulen den Heringen auf ihrer langen Reise zu den Laichgründen folgen. Similä hat einige Schwertwale mit Satellitensendern ausgestattet und ihre Route aufgezeichnet. „Einer der Orcas machte mehrere Hundert Kilometer an einem Tag“, sagt sie. „Wir konnten es kaum fassen.“

Dann erzählt sie noch eine andere Geschichte. Sie handelt von Stumpy, einem Jungtier, das ihr 1996 aufgefallen war. Der Orca war an Wirbelsäule und Rückenflosse schwer verletzt. Vermutlich war er kurz zuvor von einem Schiff angefahren worden. „Stumpy haben wir ihn wegen seiner verkürzten Rückenflosse genannt“, sagt Similä. Wegen der Verstümmelung kann sie nicht sagen, ob es ein Männchen oder ein Weibchen sei. „Er ist behindert, er kann nicht jagen, aber die anderen kümmern sich um ihn.“

Stumpy gehört keiner Schule fest an, er lebt wechselweise in mindestens fünf verschiedenen Gruppen, aber alle geben ihm zu fressen. Einmal konnte Similä selbst zusehen, wie zwei Weibchen heranschossen, jedes brachte Stumpy einen großen Hering. Die Biologin ist überzeugt, dass die Schwertwale wissen, woher Stumpys Verletzung stammt, denn sie halten ihn von Booten und Schiffen fern. „Seine Artgenossen wissen, dass er Hilfe braucht, und sie helfen ihm“, sagt Similä.

Manche Fachleute vermuten, dass in einer Schwertwalschule sehr enge soziale Bindungen herrschen, dass Orcas nach dem Prinzip „einer für alle, alle für einen“ leben. Das könnte der Grund dafür sein, dass manchmal eine ganze Schule strandet und umkommt, wenn ein krankes Tier sich zur Küste wendet. Das würde auch erklären, warum so viele Schwertwale dem verkrüppelten Stumpy helfen.

Similä hat einen grossen Teil ihres Lebens mit den Tieren verbracht, die in einer engen Gemeinschaft leben, sich an Vergangenes erinnern und sich um die Schwächsten in ihrer Mitte kümmern. Vielleicht ist sie auch deshalb angesichts des Walgetümmels, das wir bestaunen konnten, auf die Idee gekommen, dass die Schwertwale sich bei der Jagd nicht nur mit ihren Artgenossen verständigen, sondern sich auch mit Buckel- und Finnwalen zusammengetan haben könnten. Sie denkt lange darüber nach, doch dann verwirft sie den Gedanken wieder.

„Nein, die arbeiten nicht zusammen“, sagt sie. „Die Buckelwale pfuschen den Schwertwalen eigentlich nur dazwischen. Jedes Mal, wenn die Orcas einen Heringsschwarm unter Kontrolle haben und anfangen wollen zu fressen, platzen die Buckelwale ihnen hinein. Und auch die Finnwale profitieren nur von der Jagdstrategie der Schwertwale.“

Denen macht das offenbar nichts aus. Sie wechseln weder das Revier noch versuchen sie, die Schmarotzer zu verjagen. Vielleicht belegt diese Gleichmut aber auch einfach nur, dass es im Andfjord zurzeit genug Heringe für alle gibt.

(NG, Heft 8 / 2015, Seite(n) 66 bis 79)

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