Tierwanderungen - Wandern, um zu überleben

Was treibt eine Million Gnus zu ihrem großen Treck durch die Savanne Ostafrikas? Wie finden Vögel ihren Weg um die halbe Erde? Bilder und Berichte über diese Wunder der Natur.

Von Jürgen Nakot
bilder von National Geographic
Foto von National Geographic

Es scheint fast unglaublich,
 dass es das auf unserer übervölkerten Erde noch gibt:
die großen Wanderzüge der Tiere. Jedes Jahr machen sich Millionen Antilopen und Zebras in Afrika , Lachse, Aale und Wale in den Ozeanen , Zugvögel, Fledermäuse und Schmetterlinge im Luftraum auf den Weg. Sie legen Tausende von Kilometern zurück zwischen Sommer- und Winterquartieren. Zwischen den besten Nahrungsgründen und den Orten,
an denen sie ihre Jungen zur Welt bringen. Jeder Treck fordert unzählige Opfer – ist aber notwendig für den Fortbestand der Art. Die größten Gefahren gehen vom Menschen aus.

Vier Flusspferde liegen bräsig auf
einer Sandbank im Mara. Ihre breiten Köpfe sind flussaufwärts gerichtet. Es sieht beinahe so aus, als würden sie nur auf den Beginn des Spektakels warten, das sich etwa 80 Schritt entfernt an einer Furt zwischen den Steilufern anbahnt. Auf unserer Seite des Flusses im Süden Kenias drängen sich seit 20 Minuten einige tausend Gnus, Schädel an Schädel, Horn an Horn. Es ist früh am Morgen, es ist kalt, und der Atemdunst der Tiere leuchtet im Gegenlicht der tief stehenden Sonne. Dann schieben sich aus der Masse brauner Leiber die Zebras nach vorn. Meistens sind sie es, die das Signal zum Aufbruch geben.

Im Wildschutzgebiet Masai Mara ist Mitte September die Savanne weitgehend abgegrast, die großen Herden werden unruhig. Ihr Instinkt befiehlt ihnen, dem Regen hinterherzuziehen, südwärts in die Serengeti und hinab auf die satten Weiden am Ngorongoro-Krater. Dort bringen sie zwischen Dezember und April ihre Jungen zur Welt, ehe sie sich wenige Monate später erneut auf den viele hundert Kilometer langen Rückmarsch nach Kenia machen.

1,2 Millionen Gnus, 200.000 Zebras und knapp doppelt so viele Thomsongazellen bilden die Hauptmasse dieses alljährlichen Wanderzugs durch den Osten Afrikas. Bei dem nun hier am Flussübergang die nächste Etappe ansteht. Aber die Zebras zögern. Gegen den Druck der von hinten drängenden Gnus wenden sie sich wieder vom Ufer ab. Traben zurück in die Savanne. An diesem Morgen ist es schon der dritte abgebrochene Anlauf, den Fluss zu überqueren. Nicht heute. Nicht hier. Nicht jetzt.

«Also, wenn ich ein Gnu wäre, würde ich an dieser Furt auch nicht rübergehen», sage ich zu Dereck Joubert, der vor mir im Landrover sitzt. Nicht weil ich glaube, dass die Tiere vor den Kadavern ihrer toten Artgenossen zurückscheuen. Zu Dutzenden sind sie in den vergangenen Tagen beim Versuch, ans andere Ufer zu schwimmen, ertrunken. Nun liegen sie aufgebläht und Verwesungsgeruch verströmend auf den Felsen unterhalb der Böschung. Futter für Geier und Krokodile. Das ist der Zoll, den die Natur für die Erhaltung der Art einbehält. Als Hemmnis habe ich vielmehr die Mauer aus grünem Blech im Verdacht. Diesseits und jenseits des Flusses stehen die Jeeps Motorhaube an Motorhaube, darin Touristen hinter Kameras mit halbmeterlangen Objektiven. Menschliche Flusspferde sozusagen. Aber Joubert beruhigt mich: «Solange wir in den Autos bleiben und genug Platz am Ufer lassen, stören wir die Tiere nicht. Sie nehmen uns nicht als Gefahr wahr.»

Er muss es wissen. Der Mittfünfziger mit dem weißen Vollbart ist einer der besten Kenner der Großtierwelt Afrikas. Der Amerikaner ist wie seine Frau Beverly in Südafrika geboren. Für die National Geographic Society haben beide wesentlich zur wohl aufwendigsten Fernsehproduktion unserer Tage beigetragen: zur Serie „Great Migrations – das große Wunder der Tierwanderungen“, die in 166 Ländern im NATIONAL GEOGRAPHIC CHANNEL ausgestrahlt wurde.

Seit einem Vierteljahrhundert versuchen „die Jouberts“, wie sie allgemein genannt werden, den Menschen nahezubringen, wie wichtig die Erhaltung der Tierwelt auch für uns selber ist: «Wir müssen einsehen, dass wir alle Teil eines Ganzen sind. Dass in der Ökologie alles mit allem zusammenhängt. Dass wir am Ende uns selber schaden, wenn wir der Natur schaden.»

Eine oft gehörte Aussage, doch das Beispiel der Wanderung von Gnus und Zebras zeigt, wie sehr sie zutrifft. Denn der Zugweg der Tiere könnte schon bald blockiert sein. Die Regierung von Tansania will eine Straße quer durch den Serengeti-Nationalpark bauen, um die Region am Viktoriasee mit den Häfen am Indischen Ozean zu verbinden. Die für Schwerlaster ausgelegte Trasse würde die Route der Gnus, der Zebras und der Gazellen auf voller Breite durchschneiden. Um Kollisionen der Trucks mit den Tieren zu verhindern, müsste sie beidseitig eingezäunt werden. Das wäre nicht nur das Ende der Tierwanderung in der Serengeti. Das könnte das Ende der Serengeti selbst bedeuten.

Wieso, das hat mir wenige Tage zuvor in Frankfurt Christof Schenck erklärt, der Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft. Sie pflegt in Afrika das Erbe Bernhard Grzimeks („Serengeti darf nicht sterben“). «Die Tiere müssen dem Regen folgen, damit sie immer genug Futter finden», sagte Schenck. «Wenn sie nicht mehr wandern können, wächst das Gras in den Monaten, in denen sie fort sind, nicht ausreichend nach. Müssten die Tiere ortsfest bleiben, könnte die Savanne maximal 200.000 Gnus ernähren.» Ähnlich wäre es mit den Zebras und den Gazellen. Die meisten würden über kurz oder lang verhungern. «Nun nehmen Sie von den derzeit knapp zwei Millionen Grasfressern drei Viertel aus dem System heraus. Was fressen dann die Löwen und Geparden, die Hyänen und Schakale, die Geier und die Adler?» Außerdem würde die Savanne verbuschen, wenn sie nicht ständig abgeweidet würde. In ein paar Jahren käme es dann zu großen Waldbränden anstelle der heutigen oberflächlichen Grasfeuer. «Das gefährdet den Rest der Tierwelt, die Vögel genauso wie Elefanten, Nashörner und Giraffen. Ohne die großen Tiere aber kommen auch die Touristen nicht mehr, auf deren Geld Kenia und Tansania angewiesen sind», prophezeite Schenck.

Joash Motari, ein Wildhüter im Reservat Masai Mara, sagt es kürzer: «Die Straße in Tansania tötet die Gnus. Sie zerstört die Serengeti. Sie ist eine Gefahr für alle Menschen in Ostafrika.»

Der Treck der Gnus ist ein Lehrstück über das Zusammenspiel der Arten und das Funktionieren von Ökosystemen. Und ein Modell für das Phänomen der Tierwanderungen auf unserer Erde, das die Biologen seit Jahrzehnten staunend erforschen. Der amerikanische Zoologe Hugh Dingle hat fünf Kriterien formuliert, die zusammen das regelmäßige Migrationsverhalten der Tiere von anderen Formen ihrer Fortbewegung unterscheiden: beharrlicher Vorwärtsdrang, eindeutige Richtung, Wandern in Gemeinschaft, klar umrissene Start­ und Zielregionen und das vorherige Speichern von Energie.

Man findet dieses Verhalten in jedem Lebensraum, an Land, zu Wasser und in der Luft. Von den Elefanten in Afrika bis zu den Millionenheeren der Roten Landkrabbe auf der Weihnachtsinsel im Indischen Ozean. Von den riesigen Walen, die in den Ozeanen die Welt umrunden, bis zu den zarten Glasaalen, die es aus den Meeren zurück in die Bäche drängt, aus denen ihre Eltern stammen. Von den Scharen der Schwalben und Gänse, die Jahr für Jahr ganze Kontinente über­ fliegen. Über Schwärme von Guanofledermäusen, die den Winter in Mexiko verbringen und im Sommer mit ihrem Appetit texanische Farmer bei der Bekämpfung schädlicher Motten unterstützen. Bis hin zu den Monarchfaltern, die zwischen Mexiko und Kanada pendeln. Sie brauchen mehrere Generationen, um die Distanz zum Norden zu überbrücken, aber nur eine einzige bewältigt den gesamten, bis zu 3600 Kilometer langen Rückweg.

Für sie wie für alle wandernden Tiere gilt: Tausende, Zehntausende, ja Millionen Individuen schaffen es nicht bis ans Ziel. Sie sterben vor Erschöpfung, werden gefressen oder fallen schlechtem Wetter zum Opfer. Aber die, die ankommen, stellen das Überleben ihrer Art sicher. Sie folgen dem Regen, der Sonne oder ihren Beutetieren. Manche verbringen den Sommer an den Küsten nahe der Antarktis und ziehen ihre Jungen – wie die Küstenseeschwalbe und der Rote Knutt – am Polarkreis auf der gegenüberliegenden Seite der Erde auf. Manche sammeln sich für wenige Wochen in unübersehbaren Kolonien und werden wenig später für den Rest des Jahres mehr oder weniger unsichtbar, so zum Beispiel einige Pinguinarten.

Fressen und Fortpflanzung in der jeweils günstigsten Umgebung – das sind die beiden Antworten auf das „Warum“ der Tierwanderungen. Die großen Fragezeichen der Forschung stehen hinter den vielen „Wie“: Wie merken die Tiere, dass es Zeit ist, sich auf den Weg zu machen? Wie finden sie ihren Weg? Wie geben sie ihr Wissen an die folgende Generation weiter?

Antworten kann mir Manfred Niekisch geben. Der Professor für Internationalen Naturschutz und Direktor des Frankfurter Zoos ist Mitbegründer des Vereins Freunde der Bonner Konvention zum Schutz wandernder Tierarten (Convention on Migratory Species, CMS). Dieses Abkommen der Uno hat die Erforschung und den Schutz wandernder Arten zum Ziel. Nicht zuletzt, um es populärer zu machen, hat der Wissenschaftler kürzlich dem Schauspieler Hannes Jaenicke („Im Einsatz für ...“) den Vorsitz des Vereins überlassen.

Niekisch sitzt in Frankfurt zwar nur zwei Stockwerke von Christof Schenck entfernt, aber der Weg durch das verwinkelte Gebäude mit den fensterlosen Fluren über verborgene, teils halbgeschossige Treppen stellt meinen Orientierungssinn auf eine unerwartete Probe.

«Manchmal geht es eben nicht, ohne dass einem jemand beim ersten Mal den Weg zeigt», sagt Niekisch. Bei einigen wandernden Tier­ arten ist das auch so. Vielen weist zwar ein vererbtes genetisches Programm die Richtung vom Sommer­ ins Winterquartier, andere müssen das von den Eltern lernen: «So etwa die Saiga­-Antilopen, die durch die Steppen Zentralasiens ziehen. In Europa ist der Waldrapp ein gutes Beispiel dafür, dass auch manche Zugvögel erst lernen müssen, wo sie hinsollen.»

Diese Ibisse mit dem schwarzglänzenden Gefieder, dem nackten rosa Gesicht und der zerzausten Punkfrisur waren bei uns nach intensiver Bejagung in freier Wildbahn schon einmal ausgestorben. Doch weil sie sich in Tierparks gut züchten lassen, ist der Bestand inzwischen wieder so groß, dass Artenschützer im bayerischen Burghausen seit ein paar Jahren versuchen, sie auszuwildern. Waldrappe sind allerdings Zugvögel, und die Jungen müssen sich auf ihrem ersten Flug nach Süden die Route östlich um die Alpen herum in die Toskana von ihren Eltern zeigen lassen. Jungvögel, die von Menschen aufgezogen und freigelassen wurden, setzen zwar im August, wenn die Tage kürzer werden, pünktlich zum Flug ins Winterquartier an, wissen dann aber nicht, wohin.

Seit einigen Jahren trainiert deshalb das „Waldrappteam“ um Johannes Fritz junge Ibisse darauf, menschlichen Bezugspersonen, die in einem Ultraleichtflugzeug sitzen, nach Süden zu folgen. Mehr als 50 Vögel haben den Hinweg unter Geleit bereits geschafft, aber erst wenn die Vögel drei Jahre später, sobald sie geschlechtsreif geworden sind, allein den Weg um die Alpen herum zurück nach Burghausen finden, wird die Auswilderung als Erfolg gelten. Dieser Nachweis, dass sich die Waldrappe die Landmarken zur Orientierung beim ersten Überflug um die Alpen herum merken konnten, steht bislang aus.

Von anderen Zugvögeln weiß man, dass sie es können. Viele sehen die Welt ganz anders als Menschen, deren Augen nur einen engen Ausschnitt aus der Spannweite elektromagnetischer Wellen wahrnehmen. Von Ultraviolett bis Infrarot reicht das Spektrum der Tiere. Manche sehen zudem polarisiertes Licht, die Schwingungsebene der Sonnenstrahlen. Ihnen dient die Sonne sogar dann als Kompass, wenn der Himmel wolkenbedeckt ist. «Auch bei Hochseehaien vermutet man, dass sie polarisiertes Licht zur Orientierung nutzen», sagt Niekisch.

Vögel, die in der Nacht ziehen, haben sozusagen eine Karte der Sternbilder im Gehirn. Sie wissen, wie sich die jeweilige Position der Sterne im Verlauf der Jahreszeiten und über einen Flug von mehreren tausend Kilometern verändert. Das funktioniert selbst dann, wenn Forscher im Experiment Vögel im Flugzeug quer über einen Kontinent transportieren und freilassen: dann kalibrieren sie ihren Himmelskompass neu und finden den richtigen Weg zum Ziel.

Landmarken dienen auch unter Wasser als Wegweiser, zum Beispiel den Walen. Sie können den Meeresgrund zwar nicht sehen, aber sie erstellen Echokarten. Auf ihren Wanderungen von den Nahrungsgründen in höheren Breiten in die wärmeren Regionen, in denen sie sich paaren und die Jungen gebären, tasten sie wie der Navigator eines U­Boots Küstenverläufe sowie unterseeische Berge und Schluchten per Sonar ab.

Weitere Hilfsmittel, mit denen sich Tiere im Meer orientieren, sind Strömungen, die Temperaturverteilung oder Wellenmuster im Umfeld von Küsten oder Inseln. Damit finden auch Meeresschildkröten über Tausende von Kilometern quer über die Ozeane immer wieder den Strand, an dem sie aus dem Ei geschlüpft sind. Wobei Forscher neuerdings vermuten, dass manche Schildkrötenarten zusätzlich einen eingebauten Kompass haben: winzige eisenhaltige Partikel in ihren Körperzellen, die ihnen die Richtung im Erdmagnetfeld weisen – ein Erfolgskonzept der Evolution, das sich Monarchfalter und Zugvögel ebenfalls zunutze machen. Bei den Vögeln hatte man das schon lange vermutet, aber der Nachweis gelang erst kürzlich der Frankfurter Neurobiologin Gerta Fleissner. Sie ließ eigens Brieftauben im Synchrotronenlabor in Hamburg durchleuchten und fand die Kompasspartikel im Schnabel der Tiere. Genauer: in der Haut des Oberschnabels. Hier sind sie in speziellen Nervenzellen so angeordnet, dass die Tauben die Ausrichtung des Erdmagnetfelds in allen drei räumlichen Dimensionen wahrnehmen und analysieren können. Tauben tragen ihren „Navi“ also in der Nase – ohne dass sie auf längeren Flugstrecken aber auf ihren Geruchssinn verzichten können.

«Der scheint bei einigen Arten sogar wichtiger zu sein als die Orientierung im Magnetfeld», meint Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell. Um seine Aussage zu belegen, machte der von der National Geographic Society geförderte Forscher ein Experiment: Bei einigen Drosseln schaltete er das Riechvermögen vorübergehend aus, indem er ihre Nasen mit Salzlösung spülte. Bei einer Vergleichsgruppe störte er hingegen den Magnetsinn mit elektrischen Impulsen. Als er die Drosseln dann weit abseits ihrer üblichen Zugstrecke freiließ, schlugen die Vögel, die nicht riechen konnten, den falschen Weg ein. Jene mit dem ausgefallenen Nasenkompass hatten indes kaum Probleme, ihr Ziel anzusteuern.

Die Schaufelfußkröten in den Wüsten Nordamerikas haben es dagegen in vielerlei Hinsicht einfacher. Sie kennen nur eine Richtung: nach oben oder unten. Zoologen sprechen von saisonaler vertikaler Migration.

Die meiste Zeit des Jahres verbringen die Kröten metertief eingegraben im Boden, in einer Art Sommerstarre. Erst wenn es regnet, graben sie sich an die Oberfläche, um in zeitweise entstehenden Tümpeln ihre Eier abzulegen. «Lange Zeit haben Biologen gerätselt, woher sie wissen, wann es feucht genug ist», erzählt Niekisch. Auf das Wasser selbst reagieren sie nicht, denn wenn das erst so tief in den Boden gesickert ist, dass die Kröten es spüren könnten, beginnt es an der Oberfläche bereits wieder wegzutrocknen. Die folgende Generation hätte gar nicht genug Zeit, zu schlüpfen und von der Kaulquappe zum aus- gewachsenen Tier zu werden, das sich erneut eingräbt, ehe die Hitze es umbringt. «Inzwischen wissen wir: Es sind die Regentropfen, die auf die Erde trommeln, und krachende Gewitter, die den Boden vibrieren lassen. Das sind die Zeichen für die Schaufelfußkröten, sich rasch an die Oberfläche zu buddeln und zu paaren.»

Allerdings ist auch hier der Mensch dabei, ein Verhalten, das sich über Jahrtausende bewährt hat, bedrohlich zu stören. Immer häufiger knattern Freizeitfahrer auf Motorbuggys durch die Wüste. Sie verursachen Erschütterungen, die von den Kröten als Beginn der Regenzeit missdeutet werden. «Wenn dann aber kein Wasser vorhanden ist, hat das fatale Folgen für die Art», heißt es in einer Dokumentation der Fachstelle für Lärmschutz im Schweizer Kanton Zürich über die Auswirkungen von menschengemachtem Lärm auf das Verhalten der Tierwelt.

Ach je, die Schaufelfusskröte, mag mancher bei sich denken. Na und? Doch es ist ja nicht nur dieses warzige Amphibium, dessen Wanderverhalten durch den Menschen so irritiert wird, dass sein Überleben auf dem Spiel steht. Was ist mit den Walen, die orientierungslos stranden, weil der Lärm von Supertankern und Ölbohrplattformen ihre Navigation stört? Was ist mit den Zugvögeln, die im Meer ertrinken, weil ihnen die Lichtverschmutzung über den großen Städten die Sicht auf die Sterne nimmt? Was mit den Elefanten und Antilopen, deren Routen von Drahtzäunen und Asphaltbarrieren verstellt werden? Was wird mit den Walrossen der Arktis, die nach einer langen Reise aus dem Nordpazifik hinauf durch die Beringstraße ihre Jungen auf dem Treibeis der Tschuktschensee großziehen? Denn an den Stränden droht dem Nachwuchs die Gefahr, unter den massigen Leibern der Bullen erdrückt zu werden. Doch das Eis schmilzt durch den Klimawandel immer früher, so dass die Walrosskühe inzwischen oft keine andere Wahl mehr haben, als ihre Kälber an Land zu bringen. «Ohne Eis», schreibt Karen M. Kostyal in dem neuen Standardwerk „Das große Wunder der Tierwanderungen“, «wird das Schauspiel, bei dem Tausende von Walrossen durch die Beringstraße gen Norden treiben, bald Geschichte sein.»

Auch deshalb beobachten heute Biologen und Naturschützer die großen Schwärme und Herden in der Luft, an Land und zu Wasser mit immer raffinierterer Technik: Um vielleicht Wege weisen zu können, wie man die Tiere gegen die Folgen der Zerstörung ihrer Lebensräume durch den Menschen und durch den sich anbahnenden Klimawandel schützen könnte.

Zwar werden, wie seit Jahrhunderten, Vögel beringt in der Hoffnung, dass jemand die Sichtungen an Forschungsinstitute meldet. Aber heute ist die Telemetrie per Funk oder Satellitenortung (GPS) die bevorzugte Methode. Zu Grzimeks Zeiten wurden größeren Tieren noch plumpe Funkhalsbänder umgelegt, deren UKW- Signale man zu Fuß oder vom Auto aus mit Antennen aufzufangen versuchte. Heute hat Martin Wikelski die Sender so weit miniaturisiert, dass er sie sogar auf die zerbrechlichen Körper der Monarchfalter kleben und die Insekten in Kleinflugzeugen verfolgen kann.

Solche Sender bei Landtieren anzubringen ist vergleichsweise einfach, bei Walen, Seekühen und Hochseehaien oft eine technische Herausforderung. Man muss Geräte entwickeln, die längere Zeit im Salzwasser überstehen, und man braucht Leute, die mutig und geschickt genug sind, die Sender anzubringen – Lebensgefahr nicht ausgeschlossen, wie der Amerikaner Mike Shepard am eigenen Leib erfuhr. Als der Techniker für das Migrationsprojekt des NATIONAL GEOGRAPHIC CHANNEL eine Kamera an der Rückenfinne eines Weißen Hais anbringen wollte, rammte der das Boot, und Shepard fiel ins Wasser. Plötzlich war er von vier Haien umringt, schaffte es aber heil zurück an Bord.

Weniger gefährlich, wenn auch kaum unkomplizierter, sind die Pinguine, deren Wanderwege der Kieler Meeresbiologe Rory Wilson kennenlernen wollte. «Denn wo die sich die meiste Zeit des Jahres herumtreiben, nachdem sie in der Antarktis ihre Jungen aufgezogen haben, das wissen wir immer noch nicht», sagt Manfred Niekisch. Obwohl Wilson schon vor Jahren zigarettenschachtelgroße Fahrtenschreiber und Peilsender entwickelte, die er den Pinguinen wie kleine Rucksäcke umschnallte. Mehr als dürftige Daten über individuelle Schwimmwege gewann er dabei aber nicht. Immerhin: Einer konnte über 1400 Kilometer bis zur peruanischen Küste und zurück verfolgt werden. Unklar blieb, ob er allein oder in Gesellschaft war.

Ein anderes Rätsel, das Wilson nicht lösen konnte: warum dort, wo Schiffe große Krillschwärme orteten – die Hauptnahrung der Pinguine –, die Vögel nie zu sehen waren. Dafür stießen die Forscher in Regionen, in denen seit Tagen kein Krill gesichtet worden war, überall auf Pinguine, die offenbar vollgefressen waren. «Die Routen der Tiere in den Ozeanen sind für uns immer noch ein großes Rätsel», verabschiedete mich Niekisch nach meinem Besuch im Frankfurter Zoo. Durch das geöffnete Fenster in seinem Vorzimmer brüllte mir ein Löwe hinterher, dessen Freigehege nicht weit entfernt ist.

Einigen seiner Vettern begegne ich wenige Tage später in der Savanne. Hier müssen die Forscher die Objekte ihrer Neugier nicht in den lichtlosen Tiefen der Ozeane aufspüren. In der afrikanischen Graslandschaft können sie ihnen, wie wir, einfach im Jeep hinterherfahren.

Zwei Tage sind vergangen, seit die Zebras die Überquerung des Flusses verweigert haben. Gestern hat es geregnet. Schwarze Wolken hatten zunächst einen roten Staubsturm vor sich her nach Süden gepeitscht, und unser Fahrer hatte es eilig, vor dem Unwetter zurück ins Camp zu gelangen. Zu groß war die Gefahr, im Schlamm stecken zu bleiben und im offenen Auto nachts von Löwen attackiert zu werden.

Heute riecht die Hochebene nach nassem Gras, und die Herden sind unruhig. Es muht und gnuht überall. Aufbruchstimmung. Der Regen ist abgezogen, in die Serengeti hinein.

Am frühen Morgen formieren sich Zehntau- sende von Gnus und Zebras. In drei Reihen nähern sie sich dem Fluss. Zweimal noch scheuen sie vor dem aufgewühlten Wasser zurück, dann siegt der Instinkt. An der Spitze der Kolonne staksen zwei Dutzend Zebras vorsichtig die steile Böschung hinab. Sie werfen sich in die Flut und paddeln mit nickenden Köpfen vorwärts. Die Gnus folgen, erst einzeln, dann Rücken an Rücken in einem anschwellenden Strom muskulöser Leiber, die sich in den Mara stürzen.

Ein Kalb, vielleicht ein Jahr alt, wird angerempelt und von einer Welle überspült. Die Strömung reißt es fort, es ringt sich hoch, angstvoll stöhnend prustet es Wasser in silbernen Fontänen aus den geblähten Nüstern. Doch seine Kraft reicht nicht, es gibt auf – und lässt sich hundert Meter unterhalb in einer Biegung des Mara wieder ans Ufer zurücktreiben. Minutenlang steht es keuchend im Schlamm, dann schüttelt es sich das Wasser aus dem Fell und rennt stromauf, zurück zur Herde.

Inzwischen verbindet der Strom der Gnus die beiden Flussufer wie ein lebender Damm. Im Schutz dieser Wellenbrecher wirft sich das Kalb erneut in den schäumenden Mara. Es kämpft und strampelt, und schließlich spürt es wieder Boden unter den Hufen. Mit letzter Kraft wirft es sich vorwärts, mit vor Erschöpfung einknickenden Beinen stolpert es die Böschung hinauf und reiht sich ein in den großen Zug der Artgenossen. Nach Süden. In die Serengeti.

(NG, Heft 12 / 2010, Seite(n) 47 bis 79)

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