Wird die Menschheit das sechste große Massenaussterben überleben?
Einer neuen Studie zufolge vollzieht sich das Artensterben mit einer beunruhigenden Geschwindigkeit. Für die Schriftstellerin Elizabeth Kolbert stellen sich dadurch Fragen zu unserem Überleben.
In den letzten 500 Millionen Jahren wurde das Leben auf der Erde fünfmal fast ausgelöscht. Ursachen waren Phänomene wie Klimawandel, eine extreme Eiszeit, Vulkanausbrüche und der Meteorit, der vor 65 Millionen Jahren in den Golf von Mexiko einschlug und die Dinosaurier sowie eine Reihe andere Arten ausrottete. Diese Ereignisse werden als die fünf großen Massensterben bezeichnet, und es deutet alles darauf hin, dass ein sechstes bevorsteht.
Eines, für das wir dieses Mal selbst verantwortlich sind. Einer vergangene Woche im Wissenschaftsmagazin „Science Advances“ veröffentlichten Studie zufolge könnte die aktuelle Aussterberate mehr als hundert Mal höher sein als normal – und das bezieht sich nur auf die Tierarten, über die wir am meisten wissen. In den Ozeanen und Wäldern der Erde befindet sich eine unermessliche Zahl von Tierarten, von denen viele vermutlich aussterben werden, bevor wir sie überhaupt kennenlernen.
Mit ihrem Buch „The Sixth Extinction“ hat die Journalistin Elizabeth Kolbert den diesjährigen Pulitzer-Preis in der Kategorie Sachbuch gewonnen. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, was uns diese neuen Erkenntnisse über die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten verraten könnten. Gibt es noch eine Chance, dass wir diesem massiven Sterben ein Ende setzen? Wird die Menschheit Opfer ihrer eigenen ökologischen Verantwortungslosigkeit?
Die neue Studie, die für so viel Gesprächsstoff gesorgt hat, geht davon aus, dass in einigen Menschengenerationen bis zu drei Viertel aller Tierarten ausgestorben sein könnten – eine absolut alarmierende Vorstellung.
Ja. Bei dieser Studie werden umfassend erforschte Tiergruppen untersucht. Sie ist auf Wirbeltiere wie Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien beschränkt und beobachtet, was tatsächlich geschieht. Die Autoren dokumentieren ziemlich überzeugend, dass die Aussterberaten bereits [im Jahr] 1.500 extrem hoch waren und immer weiter steigen.
Die Zahlen sind enorm, und die Leute gewöhnen sich daran. Kinder und junge Menschen, die vor zehn, zwanzig Jahren geboren wurden, kennen solche Zahlen, seit sie leben. Sie halten sie nicht für besonders außergewöhnlich.
Es gibt Stimmen, die sagen, dass wir bereits mitten in einem sechsten Massenaussterben stecken. Was glauben Sie?
Ehrlich gesagt ist dies eine der Diskussionen, bei der wir uns meiner Ansicht nach auf das Falsche konzentrieren. Bis wir diese Frage endgültig beantwortet haben, sind möglicherweise bereits drei Viertel aller Arten von der Erde verschwunden. Wir möchten gar nicht an den Punkt gelangen, an dem wir die Frage definitiv beantworten können.
Eines steht außer Frage: Wir leben in einer Zeit mit sehr, sehr hohen Aussterberaten. Sie bewegen sich in einem Bereich, der einem Massenaussterben entsprechen könnte, wobei diese sich über viele Tausend Jahre erstrecken können.
Gibt es Lebensräume, Arten oder Gruppen von Tieren, die durch die stattfindenden Veränderungen besonders gefährdet sind?
Inselpopulationen sind aus verschiedenen Gründen viel eher vom Aussterben bedroht. Sie haben in der Regel isoliert gelebt. Wir aber heben die Grenzen auf, die diese Inselspezies geschützt haben. In Neuseeland gab es ursprünglich keine Landsäugetiere. Die Arten, die sich in Abwesenheit dieser Raubtiere entwickelt haben, waren extrem empfindlich. Deshalb sind in Neuseeland bereits Unmengen von Vogelarten ausgestorben, und die übrig gebliebenen sind stark bedroht.
Orte, die lange isoliert waren, sind also anfällig. Das gleiche gilt für Arten, die auf einer sehr begrenzten Fläche an nur einem Ort auf der Welt existieren. Wenn ihr Lebensraum zerstört wird, können sie nicht ausweichen und haben einfach keine Chance.
Welche Hinweise gibt es, dass wir Menschen für das sechste Massenaussterben verantwortlich sind?
Ich denke, es gibt keinen Zweifel daran, dass wir für die hohen Aussterberaten verantwortlich sind. Uns sind kaum, vielleicht sogar überhaupt keine Artentode aus den letzten 100 Jahren bekannt, die auch ohne menschliches Zutun stattgefunden hätten. Ich habe noch nie gehört, dass jemand gesagt hat: „Ach, Aussterberaten sind doch vollkommen natürlich, die würde es auch ohne den Menschen geben.“ Das kann man unmöglich bestreiten.
Wir feuern eine Waffe ab, die wir mit unterschiedlichster Munition geladen haben.
Zu diesem Thema gibt es Abertausende wissenschaftliche Artikel. Wir gehen jagen. Wir haben invasive Arten eingeführt. Wir verändern das Klima nach geologischen Standards auf unglaublich schnelle Weise. Wir verändern die Chemie aller Ozeane. Wir verändern die Oberfläche des Planeten. Wir holzen Wälder ab und pflanzen Monokulturen an, was vielen Arten schadet. Wir überfischen. Die Liste ist endlos.
Munition gibt es ohne Ende, und wir haben ein ziemlich großes Arsenal.
Können wir das Artensterben noch bremsen?
Wir haben über zahlreiche Faktoren gesprochen, wie wir den Planeten verändern, und für jeden einzelnen Fall kann ich unendlich viele Berichte nennen, die uns sagen, was wir besser machen können. Da sind beispielsweise die Todeszonen im Ozean. Sie werden durch unseren verantwortungslosen Einsatz von Dünger verursacht. Wir bringen Stickstoff auf die Felder im Mittleren Westen der USA auf, der über den Mississippi in den Golf von Mexiko gespült wird und zur Entstehung dieser Todeszonen führt.
Die grundlegende Frage hier lautet: Können 7,3 – und schon bald 8 oder 9 – Milliarden Menschen gemeinsam mit all den Arten, die es momentan noch gibt, auf diesem Planeten leben? Oder befinden wir uns auf einem Kollisionskurs, der auch darin begründet ist, dass wir viele Ressourcen verbrauchen, die andere Lebewesen ebenfalls gerne konsumieren würden? Diese Frage kann ich nicht beantworten.
Wie lange hat es gedauert, bis sich der Planet von den anderen fünf Massensterben erholt hat?
Bis die ursprüngliche Artenvielfalt wiederhergestellt ist, dauert es offenbar mehrere Millionen Jahre.
Dann kann es also sein, dass die Menschheit nie wieder in einer Welt leben wird, die sich nicht irgendwie von einem Aussterbeereignis erholt – oder gerade mittendrin befindet?
So ist es. Wenn man bei Wirbeltierarten (zu denen ja auch wir gehören) von einer durchschnittlichen Lebenszeit von einer Million Jahren ausgeht und eine Spezies, die bereits seit 200.000 Jahren existiert, ein Massenaussterben hervorruft, kann man – selbst wenn man die Frage ausklammert, ob wir Opfer unseres eigenen Massenaussterbens werden – nicht davon ausgehen, dass diese Art noch vertreten ist, wenn sich der Planet erholt hat.
Da haben Sie eine interessante Frage aufgebracht. Werden die Menschen Opfer ihres eigenen Massenaussterbens werden?
Ich möchte nicht behaupten, dass wir den Verlust von sehr vielen Arten nicht überleben können. Wir haben bereits bewiesen, dass wir dazu in der Lage sind. Wir sind sehr anpassungsfähig. Die Sache ist jedoch: Das möchten Sie gar nicht herausfinden.
Es stellen sich zwei Fragen. Die eine lautet: Können wir, nur weil wir den Verlust von soundso vielen Arten verkraftet haben, immer so weitermachen, oder gefährden wir letztendlich die Systeme, die die Menschheit am Leben lassen? Das ist eine sehr große, unglaublich ernste Frage.
Und es gibt eine weitere: Selbst wenn wir überleben können – möchten wir in so einer Welt existieren? Möchten wir, dass alle zukünftigen Generationen der Menschheit ein einer solchen Welt leben? Das ist eine andere Frage. Beide sind bitterernst. Ernster geht es eigentlich gar nicht.
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Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 23. Juni 2015