Kann man die Gletscherschmelze stoppen?

Wissenschaftler wollen mit gewaltigen Bauwerken in den Polregionen den Anstieg des Meeresspiegels aufhalten.

Von Andrea Henke
Veröffentlicht am 9. Nov. 2018, 09:17 MEZ
Die Antarktis erwärmt sich. Felsen liegen wie ein Pfad vor angeschwemmten Brocken aus Meereis.
Die Antarktis erwärmt sich. Felsen liegen wie ein Pfad vor angeschwemmten Brocken aus Meereis.
Foto von Keith Ladzinski

„Der Klima-Völkermord wird kommen, sagt die UN. Und es wird eigentlich noch schlimmer.“ So überschrieb das „New York Magazine“ einen Artikel über den jüngsten Klimabericht der Vereinten Nationen. Und zählte die Fakten auf: Das Ziel, die Klimaerwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, ist in weite Ferne gerückt. Realistisch ist, dass die weltweite Durchschnittstemperatur um drei bis vier Grad ansteigt. Das bedeutet: Südeuropa verwandelt sich eine permanente Dürrezone. Überflutungen nehmen zu, in Großbritannien beispielsweise um das 60-fache. Die weltweiten Getreideernten sinken um 50 Prozent, das weltweite Bruttosozialprodukt um 30 Prozent. Die Autoren betonen: Dies ist kein Katastrophen-Szenario, sondern die Wirklichkeit in ein paar Jahrzehnten.

In solchen kritischen Zeiten bedenken Wissenschaftler Lösungen, die sie vorher als nicht machbar verworfen hätten. Menschgemachte Eingriffe in den Klimahaushalt, unter dem Schlagwort „Geoengineering“ zusammengefasst, gehören zu solchen Projekten. Eine der spektakulärsten Ideen aus diesem Bereich schlägt vor, das Abschmelzen der arktischen und antarktischen Gletscher zu verhindern: mit gigantischen Dämmen und künstlichen Inseln.

Klimawissenschaftler schätzen, dass Grönland und die Antarktis zusammen seit 1992 pro Jahr rund 208 Kubikkilometer Eis verloren haben, das sind rund 200 Milliarden Tonnen jährlich. Dieses Abschmelzen der Eisschilde hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt. Sollte die Entwicklung anhalten, könnte nach den Prognosen einiger Wissenschaftler der Meeresspiegel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 1,80 Meter ansteigen.

Das Abschmelzen wollen einige Ingenieure verhindern, indem sie antarktische Gletscher mit einem Damm umgeben. Den kühnen Plan hat Glaziologe John C. Moore, Leiter des Kollegs für Erdsystemforschung in Peking und des Arktis-Zentrums der Universität Lappland zusammen mit Michael Wolovick von der Princeton University im renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature“veröffentlicht. Er beruht auf der Erkenntnis, dass 90 Prozent des Schmelzwassers aus der Antarktis und die Hälfte des Schmelzwassers aus der Arktis über enge, schnelle Ströme ins Meer gelangen. Wenn man diese Ströme mithilfe großer Bauwerke aufhalte, so die Experten, werde sich der Effekt umdrehen, die Eisschichten könnten wieder wachsen.

Mit einer 100 Meter hohen und fünf Kilometer breiten Mauer könne am Jakobshavn-Gletscher im Westen Grönlands erprobt werden, ob die Methode funktioniert. Das Baumaterial könne vom Meeresboden hochgeholt werden. Einmal aufgeschüttet, müsse man die Mauer dann nur noch mit Beton festigen. Nötig sei dafür nur ein Zehntel der Materialmenge, die beim Bau des Suezkanals verwendet wurde. Die Überlegung der Wissenschaftler: Die Bauwerke verhindern den Kontakt des Gletschers mit warmem Ozeanwasser. Blockiert man das Warmwasser, sinkt die Temperatur am Gletscher wieder. Und wenn sein Schmelzwasser nicht abfließen kann, staut es sich und verwandelt sich wieder in Eis.

Für die Antarktis machen die Glaziologen Vorschläge von noch unglaublicheren Dimensionen. Vor den zwei Gletschern Pine Island und Thwaites wollen sie 300 Meter hohe Strukturen errichten. Sie sollen in Form einer gigantischen Böschung oder von künstlichen Inseln auf dem Meeresboden entstehen. Baut man diese Strukturen direkt vor den Gletschern auf, sollen sie wie ein Stützpfeiler wirken und das Abrutschen der Gletscherkanten stoppen. Die beiden Gletscher in der Westantarktis gelten als größte einzelne Gefahrenquellen für den Anstieg des Meeresspiegels.

Moore und Wolovick wissen, dass ihre Vorschläge mehr erfordern als eine gewaltige Ingenieursleistung. Die Antarktis wird von insgesamt 28 Staaten verwaltet, und diese Länder müssten sich zunächst einmal einig werden. Zudem friert das Meer immer wieder zu – man müsste das gigantische Bauwerk zeitweise auch unter Eisschollen bauen. Und, wenden andere Forscher ein: Woher sollten die gewaltigen Baumaterialen in die Eiswüste Antarktis gelangen? Außerdem würde die Unterbrechung des natürlichen Wasserflusses die Flora und Fauna massiv verändern.

Im „Nature“-Artikel wehren sich Moore und Wolovick: „Können wir zusehen, dass Gletscher einfach verschwinden, wenn dadurch eine Million Menschen ihr Zuhause verlieren? Oder zehn Millionen? Hundert Millionen?“. Zudem seien alle absehbaren und nicht absehbaren Folgen der Gletscherstopper „zwergenhaft klein“ wenn man bedenke, was passiere, wenn die Eisschilde der Arktis und der Antarktis zerbrechen und der Meeresspiegel sehr rasch ansteige. „Sollen wir große Summen ausgeben, um alle Küsten der Welt abzuschotten, oder können wir das Problem an der Wurzel packen?“, fragen sie.

Lesen Sie auch unseren Artikel "Der Riss im Eis" über die Veränderungen in der Antarktis in Heft 11/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Abo abschließen!

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