Der Wettlauf im Eis
Die Arktis schmilzt. Schon wetteifern mehrere Länder um die Kontrolle über Rohstoffe und Seewege. Und manche schicken sogar Soldaten.

Es ist ein grauer Novembertag in der arktischen Ortschaft Gjoa Haven. Marvin Atqittuq steht vor der Küste auf dem zugefrorenen Meer und ruft seine Soldaten für eine Besprechung zusammen. Eisiger Wind aus dem Süden treibt Schnee heran. Es herrschen etwa 30 Grad minus. Für den Polarkreis ist das kalt, aber nicht bitterkalt. Der Aufklärungstrupp besteht aus etwa 20 Männern und einigen Frauen, alle sind Inuit. Sie haben ihre Gewehre über die Schulter gehängt und tragen handgenähte Jacken aus Karibufell, Hosen aus Eisbärfell oder Kleidung aus dem normalen Geschäft. Die Gruppe gehört zu den Canadian Rangers, den Reservetruppen des kanadischen Militärs. Mit ihnen wird Atqittuq seine erste Mission als Kommandant absolvieren: eine einwöchige Patrouille per Schneemobil entlang der baumlosen Küste auf der King-William-Insel, inklusive GPS-Training, militärischen Schießübungen, Such-und-Rettungs-Simulationen – und reichlich Jagen und Eisfischerei.
Mit einer Fläche von 2,1 Millionen Quadratkilometern ist Nunavut ungefähr sechsmal so groß wie Deutschland. „Falls etwas schiefgeht und du von der Gruppe getrennt wirst, bleib einfach ruhig an der Stelle, bis dich jemand findet“, sagt er zu mir. „Und halt dich ja von Eisbären fern.“
Die elementare Bedeutung der Ranger für die Verteidigung des Landes ist ebenso wenig bekannt wie der hohe Norden selbst. Seit je müssen die Ranger mit winzigen Budgets und gebrauchter Ausrüstung zurechtkommen. Ihre Repetiergewehre mit der eingeprägten britischen Krone stammen aus den Vierzigerjahren.

Doch das soll sich jetzt ändern. Es mehren sich die Zeichen, dass es bald ein internationales Wettrennen geben wird: um neue Gebietsansprüche in der wärmer werdenden Arktis und die riesigen unerschlossenen Bodenschätze im hohen Norden, die der Klimawandel nun freigibt. Politiker in Ottawa haben den Rangern deshalb bereits bessere Ausrüstung und finanzielle Unterstützung versprochen.
„Wir Inuit reden schon lange über den Klimawandel“, sagt Atqittuq. „Jetzt hat es auch die Regierung kapiert und will, dass wir die Region beschützen. Warum nicht? Wir sind stolze Kanadier.“ Er grinst. „Wären wir doch bloß gut genug für anständigen Handyempfang.“
Anfang Mai reiste US-Außenminister Mike Pompeo nach Rovaniemi. In Lapplands Hauptstadt hielt er eine Rede vor dem Arktischen Rat. Die Organisation besteht aus den acht Arktisstaaten Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und USA. Dazu kommen Vertreter der indigenen Völker der Region und nichtarktische Staaten mit Beobachterstatus, unter ihnen auch Deutschland. „Es ist an der Zeit, dass Amerika als Polarstaat Verantwortung übernimmt und die arktische Zukunft mitgestaltet“, erklärte Pompeo auf einer Veranstaltung vor Beginn des Treffens. „Denn die Arktis ist nicht das öde Hinterland, für das sie lange gehalten wurde ... Sie steht ganz vorn, was Chancen und Reichhaltigkeit angeht.“
Schon lange vermuten Forschungsreisende, Spekulanten und Wissenschaftler reiche Bodenschätze unter dem Polareis sowie potenzielle Seewege oberhalb des 66. Breitengrads. Doch tödliche Kälte, lähmende Dunkelheit und riesige Entfernungen verhinderten bislang die Ausbeutung der Region.
Heute ist die arktische Landschaft grüner, als man es sich vorstellen mag. Es gibt weniger Karibus und Rentiere, dafür wärmere Sommer und mehr Mücken. Im Meer verschwindet das treibende Sommereis. Laut einer Schätzung der Nasa verliert die Arktis jährlich etwa 54 000 Quadratkilometer Eis. Die Verfasser des Nationalen Klimaberichts von 2014 rechnen damit, dass das Nordpolarmeer vor dem Jahr 2050 im Sommer eisfrei sein wird. Der Wettbewerb wird sich nicht wirklich um Gebietsansprüche drehen. Bis auf wenige strittige Abschnitte sind die Grenzen in der Arktis festgelegt. Viel mehr werden Staaten und Konzerne um ihre Anteile an den Billionen Dollar konkurrieren, die mit Gold, Diamanten und seltenen Erden sowie mit Erdöl, Erdgas und Fischerei zu verdienen sind. Und es geht um den Zugang zu den neuen Seewegen.
Das zurückweichende Eis hat an einigen Stellen schon umfangreiche Investitionen nach sich gezogen. Russland und Norwegen sind die aktivsten Arktisstaaten. In den vergangenen zehn Jahren haben sie Milliarden für die Infrastruktur zur Gewinnung von Erdgas und Erdöl, für Tiefseehäfen und für Schiffe ausgegeben, die das eisige Nordpolarmeer befahren können. China versucht ebenfalls, in der Region Fuß zu fassen, indem es russische Erdgasprojekte unterstützt und anderen Küstenländern Entwicklungskredite bietet. Die Chinesen bauen außerdem eine eigene Eisbrecherflotte auf – eine klare Zukunftsinvestition für einen Staat, der mehr als 4000 Kilometer südlich des Nordpols liegt.
Im Gegensatz dazu haben die meisten westlichen Länder den Norden bislang weitgehend ignoriert. Das gilt auch für Kanada und die Vereinigten Staaten, die zusammen fast die Hälfte der arktischen Küstenlinie kontrollieren. Die USA verfügen über gerade einmal fünf Eisbrecher (Russland besitzt 51) und haben keine Tiefwasserhäfen nördlich des Polarkreises.
Auf der King-William-Insel bekommen die Ranger wenig mit vom Ringen um die Vorherrschaft. Sie fahren in einer langen Schneemobilkarawane nach Westen. Einige ziehen schwer beladene Holzschlitten hinter sich her, mit Lebensmitteln, Camping und Militärausrüstung. Nach mehreren Stunden bitterkalter Fahrt durch die Dunkelheit erreicht die Kolonne den zugefrorenen See Kakivakturvik.
Bald leuchtet warmes Licht in den Zelten. Kerosinkocher flüstern. Becher mit dampfendem Tee werden herumgereicht. Dann geht es nach draußen. In kleinen Gruppen schwärmen die Ranger aus. Sie hacken Löcher in das 30 Zentimeter dicke Eis und lassen Fangnetze in das schwarze Wasser hinunter.
Der Tag beginnt und endet an den Netzen. Es gibt so viele iqalupik, Seesaiblinge, dass bald neben jedem Zelt gefrorene rosafarbene Fische mit dem Schwanz zuerst in den tiefen Schneeverwehungen stecken. Wer Hunger hat, greift einfach aus dem Zelt.
Am nächsten Morgen begleite ich Marvin und einige andere auf die Karibujagd. Ein Schneesturm zieht auf und verschluckt unsere Jagdgesellschaft. Ich fahre hinter Marvin her. Die Welt um mich herum ist so grell weiß, dass ich nicht weiß, wo der Boden aufhört und der Sturm anfängt. Meine Sturmhaube verrutscht und legt ein paar Quadratzentimeter Haut frei. Ich spüre ein Brennen, als hätte jemand eine glühende Münze auf meine Wange gedrückt, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, Anschluss zu halten, und kann mich nicht darum kümmern. Später im Zelt bemerkt Jacob die Erfrierung und drückt mit dem Daumen darauf. „Gut“, sagt er anerkennend.
An einem Morgen im August 2007 begann die Öffnung der neuen Grenze im hohen Norden. Zwei russische Tauchboote gingen im Arktischen Ozean auf 4 000 Meter Tiefe und stellten am Nordpol auf dem Meeresboden eine Flagge aus Titan auf. Die Bilder von der russischen Trikolore in der Tiefsee gingen um die Welt.
Heute nimmt Russland eine Vormachtstellung in der Arktis ein. Es verfügt über die größte Flotte, die ganzjährig in den Gewässern des hohen Nordens verkehren kann. Das Land unterhält mehrere Dutzend Militärstützpunkte oberhalb des Polarkreises. Die USA haben nur einen einzigen Stützpunkt im Nordpolargebiet – und einen Flugplatz auf einer gemieteten Fläche im Norden von Grönland.

Viele wollen nun ein Stück vom Kuchen abbekommen. Die Nordamerikaner müssen damit leben, dass sie es jahrzehntelang versäumt haben, die Gebiete im Norden zu erschließen und in deren Bevölkerung zu investieren.
Joe Savikataaq, der Premierminister des kanadischen Territoriums Nunavut, ist der Meinung, dass die Inuit auch in den Plänen für die neue Arktis wieder nicht vorkommen. „Wir sind froh und stolz, dass wir zu Kanada gehören“, erklärt er, „aber wir fühlen uns wie der arme Bruder, der nur die Reste abbekommt.“
Nach knapp einer Woche Rangereinsatz wird das Wetter endlich besser. Marvin Atqittuq bestimmt, dass es Zeit ist, auf Russen zu schießen. Zusammen mit Sergeant Dean Lush man, einem ehemaligen kanadischen Infanteristen, der heute Ranger ausbildet, schleppt er ein Bündel Schützenscheiben aus Pappe heran, heftet sie an Holzlatten und stellt ein halbes Dutzend außerhalb des Lagers in den Schnee. Jedes Ziel ist mit dem Bild eines angreifenden, brüllenden Soldaten bedruckt, der ein Gewehr mit Bajonett trägt.
Die Schießscheiben wurden im Kalten Krieg für Nato-Truppen entwickelt. Sie stehen Schulter an Schulter am Fuß einer niedrigen Erhebung und sind die höchsten Objekte im Umkreis von Kilometern. Sie heben sich vom Schnee ab und sind unmöglich zu übersehen.
Die Canadian Rangers wurden im ersten Ost- West-Konflikt gegründet. Damals sorgten sich Militärstrategen um ballistische Raketen und das Wettrüsten im Weltraum. Es war nie vorgesehen, dass die Ranger gegen einfallende Armeen kämpfen würden. Bis heute besteht ihre Aufgabe vor allem darin, passierende Schiffe zu sichten. Mit dem Rückgang des Eises werden gewiss häufiger Eisbrecher, Frachter und Kreuzfahrtschiffe vorbeifahren.
Am letzten Abend brausen lange nach Sonnenuntergang mehrere junge Inuit mit ihren Schneemobilen ins Lager. Einer von ihnen stürzt aufgeregt in die Gruppe. Er berichtet, ein junger Mann sei vom Schlitten gefallen, den er mit seinem Schneemobil gezogen habe, und nun nicht mehr aufzufinden, irgendwo da draußen in der Tundra. Marvin Atqittuq erfragt ein paar Einzelheiten. Das ist genau die Art von Such-und- Rettungs-Mission, die von den Rangern geübt wurde. Bevor Atqittuq den Einsatz organisieren kann, haben zwei Ranger ihre Ausrüstung angelegt und rasen los. Ich denke an die vor ein paar Tagen gesichteten Bären und versuche mir vorzustellen, was der junge Mann jetzt wohl macht – allein da draußen.
Dieser Text wurde gekürzt. Lesen Sie die ganze Reportage in Heft 9 des National Geographic-Magazins! Dort gibt es noch weitere spannende Geschichten rund um die Arktis.
