Pusteblume statt Kautschukbaum: Die Erfindung des Öko-Reifens

Kautschuk für Reifen wird auf gerodetem Regenwaldgebiet angebaut. Münsteraner Forscher entwickeln eine umweltverträgliche Alternative aus Löwenzahn.

Von Eileen Stiller
Veröffentlicht am 13. Apr. 2022, 20:15 MESZ
Kautschuk für Reifen wird auf gerodetem Regenwaldgebiet angebaut. Münsteraner Forscher entwickeln eine umweltverträgliche Alternative aus Löwenzahn.

Kautschuk für Reifen wird auf gerodetem Regenwaldgebiet angebaut. Münsteraner Forscher entwickeln eine umweltverträgliche Alternative aus Löwenzahn.

Foto von Gidlark / Unsplash.com

Ihre Blüten leuchten im Frühling gelb, im Sommer werden sie über Nacht weiß und als fedrige Schirmchen vom Wind fortgeweht. Die Pusteblume ist ein wandelbares Gewächs. Dirk Prüfer würde ergänzen: ein verkanntes. Der Molekularbiologe erforscht seit über 20 Jahren Löwenzahnpflanzen und hat mit einem 25-köpfigen Forscherteam herausgefunden, dass der Korbblüter dazu beitragen könnte, die Mobilität der Zukunft nachhaltiger zu gestalten.

Naturkautschuk aus Löwenzahn

In dem klebrigen Milchsaft des Löwenzahns, der beim Pflücken aus Stängel und Wurzel rinnt, steckt Kautschuk. Kautschuk wiederum steckt in mehr als 40000 Produkten: vor allem in Autoreifen, aber auch in Dichtungen, Matratzen oder Schuhsohlen. Bislang wird der Rohstoff fast ausschließlich aus Kautschukbäumen in Süd- und Südostasien gewonnen. Um den – weiterhin steigenden – weltweiten Bedarf von rund 14 Millionen Tonnen Naturkautschuk im Jahr zu decken, entstehen riesige, mit Pestiziden belastete Monokulturen, denen zumeist Regenwälder weichen müssen.

„Der Schutz unserer Tropenwälder hat im Kampf gegen den Klimawandel oberste Priorität“, sagt Prüfer, der als Professor für Pflanzenbiotechnologie an der Universität Münster lehrt. „Mein Ziel ist, dass nicht noch mehr Regenwald abgeholzt wird, sondern wir den Mehrbedarf in der Naturkautschuk verarbeitenden Industrie künftig anders abdecken.“ Seit 2011 arbeitet der 58-Jährige daran, Kautschuk aus Löwenzahn zu gewinnen – regional angebaut und in umweltfreundlichen Verfahren extrahiert. Anders als der tropische Kautschukbaum gedeiht Löwenzahn in moderaten Klimazonen überall auf der Welt.

Anfangs „durchaus belächelt“, wie Prüfer einräumt, gibt der wachsende Erfolg seiner Vision recht. 2019 kamen Fahrradreifen aus Löwenzahn-Kautschuk (Urban Taraxagum) auf den Markt. „Ein Produkt überzeugt halt mehr als die wissenschaftliche Erkenntnis“, meint Prüfer lapidar. Letzten Dezember war sein Projektteam für den Deutschen Zukunftspreis nominiert und unterlag knapp den Mainzer Corona-Impfstoffentwicklern von BioNTech.

Russischer Löwenzahn für die Gummi-Industrie

Lastwagenreifen stellen die Königsklasse der Gummi-Industrie dar. Zwar gibt es Synthesekautschuk. Aber selbst Hochleistungsreifen enthalten noch bis zu 40 Prozent des Naturstoffs, weil der elastischer und strapazierfähiger ist. Es braucht also große Erträge. Eine Tonne Kautschuk pro Hektar erwirtschaften die Bäume übers Jahr, so viel muss auch die Pusteblume schaffen. Im Russischen Löwenzahn fand Prüfer die ideale Zuchtpflanze. Taraxacum koksaghyz, ursprünglich in Kasachstan beheimatet, sieht unserem heimischen Löwenzahn ähnlich, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Der Milchsaft in den Wurzeln enthält viel größere Mengen des begehrten Stoffs.

Das Gummi muss dem Alltag des Straßenverkehrs standhalten. Derzeit durchlaufen die Reifen aus Löwenzahn erste Tests. Wenn sie diese bestehen, kann die Serienproduktion starten.

Foto von Geraldoswald62 / Pixabay.com

Die geernteten Wurzeln werden zunächst gekocht und anschließend in einer Kugelmühle zerstoßen. Am Ende schwimmen die bräunlichen Kautschuknuggets auf dem Wasser und lassen sich einfach abfischen. Mit klassischer Züchtung gelang es zudem, den Ertrag der kultivierten Pflanze gegenüber der Wildpflanze von zwei auf durchschnittlich 15 Prozent Kautschuk zu steigern. Ein Pflanzenzüchter aus Niederbayern unterstützt die Münsteraner dabei. Als Grundlage diente unter anderem Saatgut aus der Sammlung des Vavilov-Instituts in St. Petersburg. Aus mehreren Tausend Kreuzungen konnten sieben Samenkörner geerntet werden, auf die der Großteil des heutigen Zuchtmaterials zurückgeht.

Bis aus dem Pusteblumen-Kautschuk in Serie gefertigte Reifen für Autos und Lkw werden, dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Erste Prototypen müssen sich bereits auf Teststrecken bewähren. „Ein nachhaltig produzierter Reifen mit optimalen Fahreigenschaften“, betont Prüfer, „ist einfach von elementarer Bedeutung für Mensch und Umwelt.“

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