Drohende Hungerkrise: Krieg und Klima bringen unser Ernährungssystem an seine Grenzen

Krieg und Klimawandel drohen in einigen Teilen der Welt eine nie da gewesenen Hungerkrise auszulösen. Expert*innen plädieren für eine Umstellung des globalen Ernährungssystems.

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 1. Juni 2022, 17:07 MESZ
Traktor in der Landwirtschaft

Krieg und Klimawandel drohen in einigen Teilen der Welt eine nie da gewesenen Hungerkrise auszulösen. Expert*innen plädieren für eine Umstellung des globalen Ernährungssystems.

Foto von Richard Bell / Unsplash.com

Statt Milch, Fleisch und Eiern gibt es wieder nur Tee und Brot, wie fast jeden Tag. Für viele Familien im Libanon ist dies mittlerweile der Normalzustand geworden. Die allgemeinen Preise sind im Land am Mittelmeer vier mal so hoch wie noch vor einem Jahr, bei Lebensmitteln ist die Inflation noch stärker. Beginnend mit einer Finanzkrise 2019 und verschärft durch Corona sind die Zustände hier immer untragbarer geworden, doch mit dem Ukraine-Krieg kam der nächste Schock: Über Nacht stiegen die Preise für Getreide auf den Weltmärkten nahezu um das Doppelte. Russland und die Ukraine ernten zusammen mehr als ein Viertel der weltweiten Weizen und 15 Prozent des Mais. Russland hat einen Exportstopp auf Getreide verhängt und die Bestände in der Ukraine können nicht abtransportiert werden, da die russische Flotte die Schwarzmeerhäfen blockiert. Zudem können viele Bauern in den umkämpften Gebieten ihre Äcker nicht bestellen. Zehn bis zwölf Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine dürften dieses Jahr dadurch auf dem Weltmarkt fehlen.

Das spüren wir nun in den Supermärkten. Essen wird teurer, Sonnenblumenöl ist oft ausverkauft – die Ukraine ist hier Marktführer, doch die Engpässe kommen auch von Hamsterkäufen. Während hierzulande bis auf wenige Ausnahmen alle Produkte normal verfügbar sind, drohen in vielen Regionen der Welt Hungerkatastrophen. Laut Vereinten Nationen sind 300 Millionen Menschen akut von Hunger betroffen. Dazu zählen vor allem Länder in Afrika südlich der Sahara, oder auch der Jemen und Libanon. Dies kann auch sozialen Unruhen und bewaffneten Konflikte schüren.

Doch nicht nur die fehlenden Ernten aus der Ukraine treiben die Preise. Der Krieg führt auch zu einem deutlichen Preisanstieg der Energiekosten – wiederum mit Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise. Nicht nur Benzin und Diesel für Traktoren und LKWs hat sich verteuert. Für Stickstoffdünger müssen Bauern seit Ende letzten Jahres dreimal so viel zahlen wie zuvor. Um ihn bei hohen Temperaturen im Haber-Bosch-Verfahren herzustellen, wird meist Gas verwendet; viele Produktionsanlagen stehen in Russland und Belarus. Die konventionelle Landwirtschaft ist in hohem Maße auf diese Dünger angewiesen, ohne sie wären die Erträge nur halb so hoch.

Hungerkrise: Klimawandel sorgt für Ernteausfälle

Nicht zuletzt treibt der Klimawandel die Preise für Lebensmittel in die Höhe: weltweit kommt es vermehrt zu Ernteausfällen, etwa durch Hitzewellen in Indien, den USA und Frankreich, sowie durch die schlimmste Dürre in Ostafrika seit über 40 Jahren. In China sind wegen starker Überschwemmungen im vergangenen Jahr die Ernten zurückgegangen. Nun ist es keineswegs so, dass Krieg, Energiekrise und Extremwetterereignisse unglücklicherweise gerade zufällig aufeinander treffen. Doktor Martin Frick, Leiter des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Deutschland spricht, von einer „giftigen Mischung“. Unser Ernährungssystem sei ein zentraler Treiber für den Klimawandel. Neben der Landwirtschaft selbst müsse man auch den Transport, Energieverbrauch, Plastikverpackungen und vieles mehr berücksichtigen. Wenn man diese zusammenzähle, verursache die Ernährung 40 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen.

Anschaulich sehe man die Auswirkungen des Klimawandels gerade in Indien. Das Land leidet derzeit unter einer Hitzewelle mit bis zu 46 Grad. Am Boden erreichten die Temperaturen bis zu 62 Grad. „Die Hitze liegt genau über den Weizenfeldern“, so Frick. Dies sei kein Zufall: „Dort gibt es riesige Monokulturen ohne Baum und Schatten, deswegen verbrennt die Erde.“ Dabei sei Weizen traditionell gar kein Grundnahrungsmittel in Indien. Dort baue die Ernährung wesentlich auf Linsen auf, die viel gehaltvoller für die Menschen seien. Zudem würden sie in gemischten Kulturen angebaut, was für die Biodiversität wichtig sei. „Seitdem in Indien die westliche Diät modern geworden ist, haben wir ein viel höheres Aufkommen von Diabetes und Herzkrankheiten.“ Indien hat nun seine Getreideexporte gestoppt, auch weitere Länder haben Beschränkungen erlassen.

Die Massentierhaltung steht häufig in der Kritik. Denn 60 Prozent des Getreides werden in Deutschland als Futtermittel verwendet. Etwa neun Prozent werden zur Energiegewinnung genutzt – während in anderen Regionen der Welt Nahrungsmittel fehlen.

Foto von Jo-Anne McArthur / Unsplash.com

Ernährungskrise als komplexes Problem

Für Frick ist die Ernährungskrise ein komplexes Problem, das sich nicht einfach dadurch lösen lässt, mehr Dünger auf die Felder auszubringen und dadurch die Produktion zu steigern. Dagegen könne man in den westlichen Industriestaaten keineswegs von einer Hungerkrise sprechen, wie Tina Andres, Vorsitzende vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, betont. Hierzulande hätten wir vielmehr eine „Futter- und Düngemittelkrise. 60 Prozent unseres Getreides verfüttern wir in Deutschland an Tiere, vorwiegend an Schweine. Über 30 Prozent unserer Lebensmittel werden weggeschmissen.“ Die Produktion der Futtermittel findet häufig in Monokulturen und unter großem Einsatz von Düngemitteln statt. Hinzu kommen Importe, etwas von Soja aus den USA und Brasilien, wo große Naturräume für die Ernährung der europäischen Rinder und Schweine in Ackerland umgewandelt wurden. Das mit EU-Geldern subventionierte Fleisch wird dann nach einer aktuellen Untersuchung des WWF wieder weltweit verkauft: „Wir importieren Futtersoja und exportieren Fleisch und Milchprodukte.“

„Auf einem Markt im Tschad kann man ein französisches Hühnchen immer noch billiger kaufen, als ein lokal produziertes“, sagt Martin Frick. Lange Zeit hätten die westlichen Staaten Entwicklungsländern dazu gebracht, ihre Landwirtschaft auf Exporte für den Weltmarkt zu spezialisieren. Mit riesigen Plantagen für Baumwolle, Bananen, Kakao oder Kaffee versuchen sie, Einnahmen zu erzielen – und machen sich damit in hohem Maße von Importen abhängig. In Zeiten steigender Preise kann dies fatal wirken. Die G7-Staaten, unter dem aktuellen Vorsitz von Deutschland, haben angekündigt, den wachsenden Unsicherheiten mit offenen Märkten begegnen zu wollen.

EU will stillgelegte Flächen für Anbau von Futtermitteln reaktivieren

Zusätzlich will die EU die eigene Produktion stärken. Sie hat sogenannte Ökologische Vorrangflächen, die eigentlich nicht bewirtschaftet werden dürfen, zum Anbau von Futtermitteln freigegeben. Für Frick ein Schritt in die falsche Richtung: „Eine Brachfläche ist kein unproduktives Land. Sie wird benötigt für Biodiversität.“ Udo Hemmerling vom Deutschen Bauernverband hingegen meint, dass in der jetzigen Situation die Produktion stabilisiert werden müsste. Die weitere Stillegung von Flächen ab 2023 solle aufgeschoben werden.

Erst 2020 hatte die EU nach langen Verhandlungen eine umfangreiche Agrarreform beschlossen, einen „Green Deal“, der vorsieht, die Landwirtschaft in Europa bis 2030 ökologischer zu gestalten. Er enthält Vorgaben für den Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden, einen höheren Anteil von Bioerzeugnissen und mehr Brachflächen. Dieses Vorhaben ist keineswegs unumstritten. Laut einer Studie der Universität Kiel könne der Green Deal dazu führen, dass in der EU weniger produziert und folglich mehr Lebensmittel klimaschädlich importiert werden müssten. Tina Andres fürchtet hingegen, dass die EU von ihren ökologischen Zielen wieder abrückt, wenn sie nun die Bewirtschaftung von stillgelegten Flächen wieder zulassen will: „Ich will erstmal nachgewiesen bekommen, dass wir damit den Hunger im globalen Süden abbauen. Das Getreide wird wieder verfüttert und landet im Trog.“ Dabei gehe es darum, die Tierbestände abzubauen.

Zudem will die EU die Landwirte direkt finanziell unterstützen, um deren gestiegene Betriebskosten auszugleichen. Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges sicherte sie den Bauern 500 Millionen Euro zu, weitere Gelder sollen folgen. Neben den direkten staatlichen Zuschüssen verursacht die Landwirtschaft auch enorme ökologische Kosten, etwa durch Treibhausgasemissionen oder die Zerstörung natürlicher Lebensräume und Böden, die von zu viel Dünger mit Nitrat verseucht sind.

„Wir haben über viele Jahrzehnte Landwirtschaft wie Bergbau betrieben. Wir reißen aus der Natur heraus was wir brauchen und machen uns keine Gedanken, wie die Vorräte wieder aufgefüllt werden“, meint Martin Frick dazu. Angesichts der Klimakrise sei es dringend geboten, das globale Ernährungssystem umzustellen. Durch die Bewirtschaftung können die Böden weniger CO2 aufnehmen, das Land ist weniger fruchtbar und kann bei Überschwemmungen weniger Wasser halten.„Wir haben hier ein riesiges Problem, aber auch einen Schlüssel zur Lösung. Momentan ist die Lebensmittelerzeugung der größte Treiber von Entwaldung und dem Verlust von Biodiversität. Dabei könnte Landwirtschaft positiv für die Natur ausgeübt werden.“

BELIEBT

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    Unsere heutige Landwirtschaft ist in hohem Maße auf künstliche und tierische Düngemittel angewiesen. Diese können die Erträge deutlich steigern, aber verunreinigen auch das Grund- und Trinkwasser.

    Foto von Etienne Girardet / Unsplash.com

    Umstellung auf ein nachhaltiges Ernährungssystem

    Es gibt durchaus nachhaltige Alternativen. Für Tina Andres bedeutet die Öko-Landwirschaft eine Systemtransformation. Diese sei zwar auch auf tierische Düngemittel angewiesen, aber die Kombination aus Fruchtfolgen, Untersaaten und Leguminosen könnte die Nitrate im Boden binden. Bisher sind die Erträge im Ökolandbau nur halb so groß wie in der konventionellen Landwirtschaft. Einer der Gründe, weshalb Udo Hemmerling vom Bauernverband darauf hinweist, dass eine Kombination der verschiedenen Anbaumethoden notwendig sei. Laut Tina Andres werden aber bisher auch nur knapp über einem Prozent der Forschungsgelder der Agrarwirtschaft für die Verbesserung ökologischer Anbaumethoden verwendet. Mit mehr Einsatz könnten sich die Erträge also in Zukunft deutlich ausbauen lassen. Udo Hemmerling vom Deutschen Bauernverband will „das beste aus allen Welten kombinieren: Die Erkenntnisse, die wir aus dem ökologischen und konventionellen Anbau haben und Züchtungs-Technologien wie CRISPR/Cas9, um die Pflanzen resistenter zu machen.“

    Martin Frick setzt seine Hoffnung darauf, dass Anbaumethoden wie Urban Gardening oder Hydrokulturen die Ernährung sinnvoll ergänzen können. Zudem sei es wichtig, die Produktion wieder stärker zu regionalisieren. Das UN-Welternährungsprogramm unterstützt etwa Kleinbauern, die mit einfachen Methoden Regenwasser im Boden sammeln, damit ohne künstliche Bewässerung und teure Maschinen Ackerbau betreiben, Bäume pflanzen und der Wüste wieder Land abtrotzen können. Statt Monokulturen im großindustriellen Stil anzulegen, müssten die Ernährungssysteme resilient gegen alle Arten von Schocks gestaltet werden, insbesondere gegen die immer drängender werdenden klimatischen Bedingungen.

    Diesen Übergang der Landwirtschaft zu gestalten wird ähnlich wie die Energiewende eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Die Agrarindustrie und die mit ihr verbundene Düngemittelindustrie, sowie die Handelsketten haben ein lukratives Geschäftsmodell mit der Lebensmittelwirtschaft etabliert – mit Klimaschutz und gerechter Verteilung lässt sich dies auf Dauer aber nur schwer vereinbaren.

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