Klimawandel: Gefahr durch Bakterien aus schmelzendem Gletschereis?

Gletscher bedecken rund 10 Prozent der Erdoberfläche und gelten als wichtige Süßwasserressourcen. Durch den Klimawandel könnten immer mehr, bislang im Eis eingesperrte und potenziell gefährliche Mikroorganismen freigesetzt werden.

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 15. Juli 2022, 09:31 MESZ
Das Hochland von Tibet: Bergpanorama mit Gletschereis.

Die Qinghai-Tibet-Hochebene wird auch als Wasserturm Asiens bezeichnet. Den hier liegenden Gletschern entspringen einige der größten Flüsse der Erde. Forschende warnen nun, dass die Gletscherschmelze bald auch Ursprung für mögliche Krankheitserreger sein könnte.

Foto von Viktorov.pro / Adobe Stock

Die Gletscherschmelze ist im vollen Gange. Weltweit schrumpfen die Eismassen nahezu im Eiltempo dahin. Gefährliche Gletscherbrüche wie zuletzt an der Marmolata in Italien oder schwindende Trinkwasserreserven können die Folge sein. Auch im Hochland von Tibet sieht die Zukunft der Gletscher durch die globale Erwärmung düster aus. Wegen ihrer geografischen Lage gilt die Region als die größte von Gletschereis bedeckte Fläche in niedrigen Breiten – und ist besonders stark von der Gletscherschmelze betroffen. Seit den Siebzigerjahren verlieren ihre eisigen Riesen jährlich rund 130 km² an Größe.

Forschende der Chinesischen Akademie der Wissenschaften warnen nun vor einer potenziellen zusätzlichen Gefahr: Bakterien, die aus dem zurückgehenden Eis befreit werden, könnten schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung hervorrufen.

Unbekannte Mikroorganismen aus dem Eis

„Trotz extremer Umweltbedingungen wie niedriger Temperatur, hoher Sonneneinstrahlung, Zyklen mit periodischen Frost-Tau-Wechseln und Nährstofflimitierung beherbergen die Oberflächen von Gletschern ein vielfältiges Spektrum an Leben“, so die Forschenden um Yongqin Liu. Darunter seien beispielsweise Bakterien, Algen oder Pilze, die sich im gefrorenen Wasser oder darauf angesammelten Ablagerungen tummeln. Um diese rauen und lebensfeindlichen Ökosysteme besser zu verstehen, entnahmen sie zwischen 2006 und 2020 Proben aus dem Eis und Schnee von 21 tibetischen Gletschern.

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Für die im Magazin Nature Biotechnology erschienene Studie wertete das Team diese Proben dann aus. Um mehr über sie herauszufinden und um ihr Genom besser entschlüsseln zu können, kultivierten sie zusätzlich einige der Mikroben im Labor. Die Ergebnisse der Sequenzierung überraschte selbst die Experten und Expertinnen. Insgesamt fanden sie 968 mikrobielle Spezies – davon 98 Prozent unbekannt. Ganze 11 Prozent dieser Spezies entstammen ausschließlich einem einzigen der untersuchten Gletscher, während 10 Prozent in beinahe allen Eisschilden vorkamen. 

Ihre Ergebnisse hat das Team um Liu in einem umfangreichen Genom- und Genkatalog namens Tibetan Glacier Genome and Gene, oder kurz TG2G, festgehalten. Dieser bietet als erster seiner Art eine wissenschaftliche Datenbank für die Archivierung, Analyse und den Vergleich der vielfältigen Gletscher-Ökosysteme. „Das glaziale Mikrobiom stellt auch eine unschätzbare Chronologie des mikrobiellen Lebens auf unserem Planeten dar“, so die Studie. Diese zu erhalten wäre im Zuge des rasanten Rückgangs des Gletschereises nur durch Kultursammlungen oder Anlagen zur Lagerung von Eiskernen möglich.

Trinkwasser der bevölkerungsreichsten Länder in Gefahr?

Doch eine solch hohe Anzahl „neuer” Mikroorganismen birgt womöglich auch Gefahren. Denn das Tibetische Hochland ist für viele Menschen der bevölkerungsreichsten Länder der Welt – vor allem China und Indien – von enormer Bedeutung. Auch als Wasserturm von Asien bekannt, werden daraus einige der größten Flüsse der Welt gespeist, beispielsweise der Jangtze oder der Ganges. Über sie könnten beispielsweise aus dem Eis gelöste Bakterien in den Wasserkreislauf gelangen.

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    “Im Eis eingeschlossene moderne und alte pathogene Mikroben könnten zu lokalen Epidemien und sogar Pandemien führen.”

    von Liu et al.

    „Diese Mikroorganismen können neuartige Virulenzfaktoren tragen, die Pflanzen, Tiere und Menschen angreifbar machen“, warnen Liu und sein Team. Immerhin wurden anhand des Genom- und Genkatalog der Studie 27.267 potentielle Virulenzfaktoren identifiziert. Zoonosen, die sich zu lokalen Epidemien oder gar weltweiten Pandemien entwickeln könnten, wären eine mögliche Folge. 

    Mögliche Gesundheitsrisiken, die durch die Wechselwirkung zwischen unbekannten, teilweise Jahrtausende alten und modernen Mikroorganismen entstehen könnten, müssten also in Zukunft evaluiert werden. Hilfreich wird die Studienarbeit von Liu und seinen Kollegen und Kolleginnen dabei sicherlich sein. „Wir gehen davon aus, dass der Katalog die Grundlage für eine umfassende globale Quelle für glaziale Mikrobiomdaten bilden wird“, so die Forschenden.

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