Lebendiger Boden: Mikroskopische Vielfalt im Schwarzwald

Gesunde Waldböden beherbergen eine faszinierende und kaum gesehene Vielfalt an Lebensformen – wie eine mikroskopische Expedition in den Schwarzwald zeigt.

Von Ferris Jabr
bilder von Nicole Ottawa, Oliver Meckes
Veröffentlicht am 14. Sept. 2022, 11:26 MESZ
Bärchentier

Diese neu im Schwarzwald entdeckte Spezies stellt eine von etwa 1300 bekannten Bärtierchen-Arten dar. Dieses Wesen ist eine von zig Milliarden Lebensformen des Waldbodens, die für das Funktionieren unseres Planeten unerlässlich sind, hier in 2400-facher Vergrößerung.

Foto von Nicole Ottawa

Nehmen wir eine Handvoll Erde aus dem Schwarzwald, dem Tongass National Forest in Alaska oder dem Waipoua Forest in Neuseeland. Halten wir sie dicht vor die Augen. Was ist zu sehen? Erden natürlich – weich, fruchtbar, dunkelbraun wie Kakao. Kiefernnadeln. Verrottende Blätter. Partikel von Moos oder Flechten. Die blasse Ziehharmonika eines umgedrehten Pilzhuts. Ein Regenwurm vielleicht, der sich vom Licht fortschlängelt, oder eine Ameise, verwirrt wegen des plötzlichen Höhenunterschieds.

Sue Grayston weiß, dass in dieser Handvoll Erde sehr viel mehr steckt. Bereits während ihrer Collegeausbildung beobachtete die gebürtige Engländerin unter dem Mikroskop fasziniert die verschiedenartigen Bodenlebewesen, die zu klein waren, um sie mit bloßem Auge erforschen zu können. Sie hatte ihre Berufung gefunden. Als Wissenschaftlerin am Macaulay Land Use Research Institute (heute James Hutton Institute) in Schottland startete sie gemeinsam mit Pflanzenökologen ein Projekt, das sie für einen Großteil ihrer Karriere in Beschlag nehmen sollte: Sie untersuchten die komplexen Verbindungen zwischen den kleinsten und größten Besiedlern unserer Böden, zwischen Mikroorganismen und Bäumen. Mit einer Kombination aus innovativer Feldforschung und fortschrittlichen Gensequenzierungstechniken haben Grayston und weitere Ökologen inzwischen ein sehr viel genaueres Bild der weitgehend unsichtbaren Lebensgemeinschaft im Waldboden gezeichnet, ohne die dieses Ökosystem zusammenbrechen würde.

​Organismen im Boden: Unerlässlich für das Funktionieren des Planeten

„Ein beträchtlicher Teil der Artenvielfalt verbirgt sich unter der Erde, aber lange Zeit war darüber nicht viel bekannt“, erzählt Grayston. „Das hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert.“ Tief unter den Laubdächern der Wälder verbinden Geflechte aus hauchdünnen Pilzfäden die Baumwurzeln zu Mykorrhiza-Netzwerken, mit deren Hilfe die Bäume Wasser, Nährstoffe und Informationen austauschen. Amöboid bewegliche Zellen verschmelzen zu Klumpen von wandelbarer Gestalt, den sogenannten Schleimpilzen, die, im oder am Boden wabernd, zur Falle für Bakterien und Pilze werden. Winzige Gliederfüßer, die Springschwänze, huschen umher und katapultieren sich in Sekundenbruchteilen um mehr als das Zwanzigfache ihrer Körperlänge vorwärts. Hornmilben, groß wie ein Zehntel einer Linse, schieben sich schwerfällig über das – aus ihrer Perspektive zerklüftete – Gelände. Andere Kreaturen sind so klein, dass sie sich nur schlängelnd oder rudernd im dünnen Feuchtigkeitsfilm fortbewegen können, der die Pflanzen und Bodenpartikel umgibt. Zu jenen bizarren Gestalten zählen transparente Fadenwürmer, Rädertiere mit wirbelnden Kränzen aus haarartig Strukturen, die Nahrung in ihre vasenförmigen Körper strudeln, und Bärtierchen, die wie achtbeinige Gummibärchen aussehen, mit Krallen und einem stacheligen Saugmund.

Pilze wie dieser Resinicium bicolor gehören zu den Bewohnern des Waldbodens, die mit der Zersetzung abgestorbener Bäume beginnen. Sie können Lignin abbauen – jene komplexe Verbindung, die bei der Verholzung von Pflanzenzellen eine Rolle spielt. 7000-fach vergrößert.

Foto von Nicole Ottawa, Oliver Meckes

Noch winziger sind die Protozoen, eine vielgestaltige Gruppe einzelliger Organismen, die sich mit flatternden Bewegungen ihrer zahlreichen Körperanhänge oder durch Verformung ihres gelartigen Zellinhalts fortbewegen. Darüber hinaus wimmelt der Waldboden von allen möglichen Bakterien und Archaeen, die auf den ersten Blick den Bakterien ähneln, aber eine eigene Domäne des Lebens bilden. Ein einziges Gramm Waldboden kann bis zu einer Milliarde Bakterien, bis zu einer Million Pilze, viele Hunderttausend Protozoen und fast tausend Fadenwürmer enthalten. Böden sind keine inaktive Substanz, in der sich Pflanzen verankern. Das Erdreich stellt ein dynamisches Netzwerk aus Organismen und Lebensräumen dar. Eine Vielzahl von Mineralen und organischen Partikeln sowie die zwischen diesen Komponenten befindlichen Bodenporen, die mehr als 50 Prozent des Volumens der Böden ausmachen, bilden diesen Lebensraum. Grayston und andere Ökologen fordern, dass diese Sichtweise zu tiefgreifenden Veränderungen in der Forstwirtschaft führen sollte. Nach ihren Erkenntnissen verursacht die Praxis des – in Kanada oder Skandinavien praktizierten – Kahlschlags viel großräumigere und längerfristige Schäden als bisher angenommen. Fällt man Bäume, dann sollte man nicht nur die Folgen für den sichtbaren Wald, die Stämme und Kronen, bedenken. Eine wirklich nachhaltige Forstwirtschaft muss auch die Konsequenzen für den darunterliegenden Lebensraum berücksichtigen.

Vor Milliarden von Jahren gab es auf der Erde noch keine humusbedeckten Böden, sondern nur eine steinige Kruste, die Regen, Wind und Eis mit der Zeit auslaugten. Als Mikroorganismen, Pilze, Flechten und Pflanzen das Land eroberten und sich in das Gestein gruben, es durch Absonderung von Säure auflösten oder mithilfe der mechanischen Kraft ihrer Wurzeln aufbrachen, führte dies zu einer stark beschleunigten Verwitterung. Zugleich reicherte sich die mineralische Erdkruste mit organischem Material aus der Zersetzung abgestorbener Organismen an. Fossilien belegen, dass Wälder – und mit ihnen Waldböden – erstmals im Devon vor 420 bis 360 Millionen Jahren auftraten.

​Abholzung: Deutlich verringerte Zahl an Mikroorganismen

Lebewesen in Böden tragen dazu bei, terrestrische Ökosysteme zu erhalten. Der Waldboden steckt voller essenzieller Nährstoffe wie Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor und Kalium. Ohne die Aktivitäten von Kleinstlebewesen blieben allerdings viele dieser Elemente fest im Boden gebunden oder auf andere Weise unzugänglich. Pflanzen, die durch Photosynthese Sonnenenergie in kohlenstoffreiche Moleküle umwandeln, geben einen Teil dieser Verbindungen über ihre Wurzeln ins Erdreich ab; dort dienen sie Mikroorganismen und Pilzen als Nahrung. In enger Wechselwirkung unterstützen Mykorrhizapilze und bestimmte Wurzelbakterien Pflanzen bei der Wasser- und Nährstoffaufnahme. Für die Pflanze nicht nutzbare Stickstoffformen wandeln sie in verwertbare Moleküle um. Welken und sterben Pflanzen, zerlegen Würmer, Gliederfüßer, Pilze und Mikroben deren oft sehr widerstandsfähige Gewebe und führen die Nährstoffe so wieder dem Boden zu. Zugleich sorgt das kontinuierliche Krabbeln, Gleiten, Wühlen der winzigen Lebewesen für eine Durchmischung der Bodenschichten und eine gute Belüftung. Indem sie Unmengen an Erde verdauen, schleimige Substanzen absondern und Kot ausscheiden, reichern Würmer, Nacktschnecken und Gliederfüßer die Erde mit organischer Substanz an. Indem sie die Haftung der Partikel begünstigen, verbessern sie die Bodenstruktur.

Im Jahr 2000 reiste Grayston im Rahmen ihrer Arbeit für das Macaulay Institute nach Tuttlingen an der Donau, um gemeinsam mit ihren Kollegen die Böden des Schwarzwalds zu erforschen. In den Mittelgebirgsregionen des Schwarzwalds und der benachbarten Schwäbischen Alb wurde besonders im späten Mittelalter und der Neuzeit teils großflächig abgeholzt. Die Wissenschaftler besuchten Standorte von 70 bis 80 Jahre alten Buchen mit knorrigen Stämmen und weicher, silberfarbener Rinde. Die Buche zählt zu den häufigsten sommergrünen Baumarten in Europa; sie wird als Brenn- und Nutzholz verwertet. Einige Untersuchungsgebiete waren stark vom Holzeinschlag betroffen, andere relativ unbeeinträchtigt. Mithilfe eines metallenen Erdbohrers entnahm Grayston an verschiedenen Stellen Bodenproben, die sie in Kühlboxen lagerte und auf schnellstem Weg zur genaueren Untersuchung nach Schottland brachte. Labortests und Zellkulturanalysen offenbarten, dass sich durch die intensive Abholzung die Vielfalt und Anzahl der Mikroorganismen deutlich verringert hatte.

Mit Blick auf die Zukunft der weltweiten Wälder und ihrer Böden ist Grayston ebenso begeistert wie besorgt. Noch immer fasziniert sie das große Geheimnis all dessen, was es dort noch zu entdecken gibt. „Wir haben bedeutende Fortschritte gemacht“, sagt Grayston, „doch wir wissen bis heute noch nicht, wer zu bestimmten Zeiten aktiv ist und welche Organismen konkret für verschiedene Prozesse im Erdreich von Bedeutung sind.“ Zugleich beunruhigt sie der stete Rückgang der Wälder in vielen Regionen der Welt, bedingt durch übermäßige Rodungen, schlechtes Landmanagement und die Folgen des Klimawandels. Die sich überschneidenden Ökosysteme der Erde sind so stark miteinander vernetzt und so essenziell für das Überleben sämtlicher Lebensformen, dass sich die Schäden, die wir den Bäumen und Böden unseres Planeten zufügen, letztlich auch zu unserem Nachteil auswirken. „Wir würden knietief in Abfällen versinken, wenn es keine Mikroorganismen im Boden gäbe“, sagt Grayston. „Ohne sie wäre das Leben auf der Erde zu Ende. Sie würden wunderbar ohne uns auskommen, aber wir wären ohne sie verloren.“

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    Foto von National Geographic

    Dieser Artikel erschien in voller Länge im National Geographic Magazin 9/22. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

    Das Projekt Eye of Science stellt mikroskopische Details optisch dar. Geleitet wird es von der Biologin Nicole Ottawa und dem Fotografen Oliver Meckes.

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