15 erstaunliche Fakten über Pilze: Von Bakterienautobahn bis Wood Wide Web
Pilze sind essenziell für unser Ökosystem – und intelligenter als bisher angenommen. Nun wird erforscht, wie Pilzmyzelien bei der Sanierung von kontaminierten Böden helfen können.
Von der Hefe über Mykorizzhapilze bis zu Schimmelpilzen: Sie alle spielen eine herausragende Rolle im Stoffkreislauf unserer Umwelt.
Sie sorgen für die Apokalypse in „The Last of us“, indem sie Menschen in willenlose Zombies verwandeln und führen in der Serie „Akte X“ bei den beiden Hauptfiguren Mulder und Scully zu Halluzinationen. Die Stories klingen, als wären sie dem Reich der Fantasie einiger Drehbuchautoren entsprungen – doch sieht man sich die Fähigkeiten von Pilzen genauer an, sind diese fiktiven Eigenschaften gar nicht so weit hergeholt.
Pilze sind die größten Lebewesen auf der Erde, zählen weder zu den Pflanzen noch zu den Tieren und wachsen so gut wie überall, selbst an Orten ohne Sauerstoff, wie in den Mägen von Kühen und Schafen. Man geht davon aus, dass sie seit rund 800 Millionen Jahren existieren und es zwischen drei und sechs Millionen Arten gibt – davon nur knapp 5 Prozent wissenschaftlich beschrieben. Viele von ihnen leben versteckt im Untergrund oder im Wasser und wachsen als Fadengeflecht, das auch Myzel genannt wird.
Für uns ist über der Erde meist nur der Fruchtkörper sichtbar. Das Myzel als weitaus größerer Teil des Pilzes liegt unter der Oberfläche. Dieses Pilzgeflecht ist gigantisch: „In einem Gramm Boden kann man bis zu einem Kilometer dieser Pilzfäden finden“, sagt Mikrobiologe Dr. Lukas Y. Wick vom Department für Angewandte Mikrobielle Ökologie am Helmholtz Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig. Außerdem kann sich ein Pilzmyzel mehrere Quadratkilometer ausdehnen. „Ein Myzel-bildender Hallimasch Pilz in Oregon gilt als größter lebender Organismus auf unserer Erde“, weiß Dr. Wick. „Er ist vermutlich Tausende von Jahren alt und bildet ein Netzwerk von bis zu neun Quadratkilometern Fläche.“ Das entspricht etwa 1.200 Fußballfeldern. Dabei sind die Pilzfäden äußerst fein – teils nur zehn Mikrometer klein. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist zehnmal so dick.
Ein gewohntes Bild: Pilze und Bäume gehen häufig eine Symbiose ein.
Aufgaben der Pilze: Tauschhandel mit der Umwelt
Eine der wichtigsten Aufgaben der Pilze in unserem Ökosystem: Zersetzen. „Das Zersetzen gibt den Pilzen die Energie und die Stoffe, die sie zum Leben brauchen“, erklärt Dr. Wick. Dabei kommt es bei Mykorrhiza, also Pilzen im Wurzelbereich von Pflanzen, zu einer Art Tauschhandel. „Die Pflanzen nehmen das CO₂ aus der Luft und wandeln es mittels Fotosynthese in energiereiche organische Materie um“, so der Experte. Einen Teil, etwa 20 bis 30 Prozent, geben sie an die Mykorrhizapilze weiter und erhalten von diesen im Gegenzug Mineralien, Stickstoff, Phosphor und Wasser. Knapp 90 Prozent aller Landpflanzen gehen eine Art Lebensgemeinschaft mit Mykorrhiza-Pilzen ein.
Dabei fungieren Pilze als geradezu gigantische Kohlenstoffschlucker: Einer Studie zufolge erhalten Mykorrhiza-Pilze so jährlich etwa 13 Gigatonnen Kohlenstoff. Das ist mehr als ein Drittel des Kohlenstoffs, der jedes Jahr weltweit bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen ausgestoßen wird. Einen Teil dieses Kohlenstoffs geben Pilze zum Beispiel an Bakterien weiter, ein weiterer Teil davon wird im Myzel gespeichert, bis er zerfällt, ein wiederum anderer Teil wird veratmet.
Pilze sind auch Champions im Recycling. „Als sogenannte Saprobionten bauen sie abgestorbenes organisches Material wie tote Blätter oder totes Holz ab und wandeln es in Produkte um, die sie selbst, aber auch andere Organismen verwenden können“, so Dr. Wick.
Kommunikation über das Wood Wide Web
Pflanzen und Mikroorganismen können auch über Myzelien kommunizieren, wenn sie sich zum Beispiel gegenseitige Warnsignale geben. Wie genau der Austausch stattfindet, wird noch erforscht. Fest steht: Pilze können chemische Verbindungen, sogenannte Pheromone und extrazelluläre Signalmoleküle freisetzen und diese auch erkennen. „Diese Stoffe ermöglichen ihnen, ihr Wachstum zu koordinieren, ihre Fortpflanzung einzuleiten oder sich auch vor Fressfeinden zu schützen“, zählt Dr. Wick auf. Aktuell wird sogar diskutiert, ob Pilze – ähnlich wie in tierischen Nervenzellen – elektrische Impulse erzeugen und so innerhalb ihres Myzels mittels einer elektrischen Signalsprache kommunizieren können.
Das Myzel als Bakterienautobahn
Das weitverzweigte Myzeliennetz übernimmt im Untergrund noch weitere Aufgaben. Es dient auch als Transportweg für Bakterien und Viren. „Bakterien können nicht wie Vögel selbstbewegt durch die Luft fliegen. Sie sind für ihr Fortkommen auf Flüssigkeitsfilme angewiesen“, erklärt Dr. Wick. Böden sind allerdings sehr heterogen und nur teilweise wassergesättigt. „Schon eine winzige Luftpore von wenigen Mikrometern Durchmesser stellt daher ein unüberwindbares Hindernis für Bakterien dar“.
Mit ihrem feingliedrigen Myzel durchdringen Pilze den Boden oder überziehen Oberflächen.
Das gilt allerdings nicht für Pilze. Deren Myzelien wachsen unbeirrt durch den Boden und überwinden auch kleine Lufträume darin. „Ihre Hyphen oder Pilzfäden sind mit einem dünnen Flüssigkeitsfilm überzogen. Dieser genügt, damit sich Bakterien – ähnlich wie wir Menschen auf Autobahnen – effizient auf dem Pilzgeflecht fortbewegen und dabei auch luftgefüllte Poren überwinden können.“ Fungal highways nennt Dr. Wick die unterirdische Pilzautobahn für Bakterien. „Sie sind die wohl ökologischste und auch längste ‚Autobahn‘ der Welt“, findet der Experte. Zudem übernehmen sie in ihrer Doppelfunktion als Transportnetz und als Zersetzer eine für den Menschen immer drängendere Aufgabe: Sie unterstützen den Schadstoffabbau in verunreinigten Böden und Wässern.
Bodensanierung mittels Pilz–Bakterien-Interaktionen
„Wie für den Zersetzer Pilz, sind Schadstoffe auch für Bakterien keine Schadstoffe“, stellt der Mikrobiologe klar. Vielmehr dienen die Schadstoffe ihnen als Nahrung, denn Bakterien zersetzen die Chemikalien und erzeugen so Energie und Stoffe, die sie zum Leben brauchen.
Viele Schadstoffe wie Erdöl oder die durch Verbrennung entstehenden, giftigen und teilweise krebserregenden polyzyklischen Kohlenwasserstoffe sind in verschmutzten Böden allerdings ungleichmäßig verteilt. „Luftporen oder mangelnde Feuchtigkeit stellen dann unüberwindbare Hindernisse für die sie zersetzenden Bakterien dar.“ Abhilfe schaffe das weitverzweigte Pilzmyzel: „Es ermöglicht Bakterien, sich effizient im Boden zu verteilen und bietet einen Lebensraum für Bakterien, um Schadstoffe abzubauen.“
Mikroskopische Aufnahme des Mikroorganimus Pythium ultimum (gehörig zu den Eipilzen), dessen Hyphen Phenanthren angereichert haben und in ihrem Innern über zentimeterweit verschieben können.
Forschung zum Abbau von Erdölschadstoffen
Wie in einem Forschungsprojekt von Dr. Wick zum biologischen Abbau von Erdölschadstoffen gezeigt wurde, können Bakterien auch gezielt auf der Pilzautobahn navigieren. Sogenannte chemotaktische Bakterien sind dabei in der Lage, Konzentration-Gradienten von Chemikalien zu erfassen und sich dorthin zu bewegen, wo die Konzentration für ihren Stoffwechsel am günstigen ist – also ähnlich wie sich hungrige Partygänger bei einem Fest zum kalten Buffet begeben.
Außerdem wurde am UFZ gezeigt, dass Myzele auch Ölschadstoffe aufnehmen und diese in ihrem Geflecht, ähnlich wie in einer Ölpipeline, von einem Ort zu anderen verschieben können. In ihrer Nähe bilden Myzele also die ideale Infrastruktur für eine gute Versorgung von Schadstoffabbauenden Bakterien.
„Wenn wir das Wachstum von Pilzen und ihr Zusammenspiel mit Schadstoffabbauenden Bakterien gezielt fördern, können wir zu einer effektiveren Sanierung von verschmutzten Gebieten beitragen“, so Wick. Zusätzliche Hilfe bieten hier auch Computermodelle, denn sie ermöglichen eine sogenannte ökologische Modellierung. Damit kann die Pilz-getragene Verbreitung und die Abbauaktivität von Bakterien abgeschätzt werden.
Das Wunderwerk Pilz ist also nicht nur essenziell für beinahe alle Lebewesen auf dieser Erde. Vielleicht kann es schon bald dabei helfen, vom Menschen gemachte Probleme auf unserem Planeten besser zu beseitigen.
Cover National Geographic 9/24
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