Das neue Gesicht des Hungers

Millionen Amerikaner wissen
 trotz Jobs nicht, wie sie und ihre Familie vernünftig satt werden sollen.

Von Tracie Mcmillan
Foto von Amy Toensing, Kitra Cahana und Stephanie Sinclair

An diesem goldgrauen Morgen schickt Christina Dreier ihren Sohn Keagan ohne Frühstück in die Tagesstätte. Sie weiß, dass der Dreijährige die kostenlose Mahlzeit dort oft verweigert. Aber sie denkt, dass er vielleicht doch zugreift, wenn sie
ihn mit knurrendem Magen in die Kita schickt. Dann wäre er mittags weniger hungrig – und es bliebe mehr übrig für die anderen. Alltagssorgen einer Familie in Mitchell County im US-Bundesstaat Iowa.

Leider ignoriert Keagan das heutige Essen in der Kita. Am Mittag ist er so ausgehungert, dass seine Mutter verzweifelt versucht, aus den Resten im Tiefkühlfach eine Mahlzeit für ihn und seine kleine Schwester zusammenzustellen. Sieben Hähnchen-Nuggets landen auf einem abgenutzten Blech, ein paar Kartoffelkroketten und einige Würstchen aus dem Kühlschrank. Dann schiebt sie alles zusammen in den Backofen. Was sie in der Woche zuvor von einer karitativen Verteilstelle bekommen hat, ist fast aufgebraucht. Sie selbst wird essen, was die Kinder übrig lassen. Falls sie etwas übrig lassen.

Die Angst, ihre Kinder nicht satt zu bekommen, überschattet den Alltag von Christina Dreier. Sie und ihr Mann Jim müssen ständig entscheiden, welche Rechnung am dringendsten ist: Telefon, Miete, Gas? Immer versuchen sie, etwas zurückzulegen, um Dinge kaufen zu können, die sie nicht als Spenden oder mit den staatlichen Lebensmittelgutscheinen bekommen, den „food stamps“. Diese Form der Sozialhilfe aus Washington wurde vom Kongress im vergangenen Jahr um fünf Milliarden Dollar gekürzt. Die Dreiers erhalten seitdem pro Monat nicht mehr 205, sondern nur noch 172 Dollar auf einer Bezugskarte für Lebensmittel gutgeschrieben, umgerechnet etwa 125 Euro.

An diesem Nachmittag gilt ihre Sorge vor allem dem Familien-Van, der vom Händler gepfändet zu werden droht. Sie brauchen ein Bankkonto, auf das Jims Arbeitgeber seinen Lohn überweist, anstatt ihn per Scheck zu bezahlen. Dann könnten sie einen Dauerauftrag einrichten, anstatt wegen jeder fälligen Rate in bar immer wieder in Terminnot zu geraten. Um rechtzeitig in der Bank zu sein, müsste Jim aber früher als sonst von der Arbeit kommen. Es ist Haupterntezeit, und er arbeitet jetzt oft bis acht Uhr abends auf den Feldern landwirtschaftlicher Großbetriebe, für 14 Dollar die Stunde. Der Gang zur Bank bedeutet, dass er auf den Verdienst für Überstunden verzichten muss – auf Geld, das seine Familie für Lebensmittel braucht.

So sei es jeden Monat, sagt Christina Dreier. Rechnungen werden nicht beglichen, weil Lebensmittel Vorrang haben. «Wir müssen ja essen», sagt sie, «wir können doch nicht hungern.»

Hunger in einer Mittelschichtsfamilie in den USA? Bei jemandem wie Christina Dreier, die weiß, verheiratet, ordentlich gekleidet, sogar ein wenig übergewichtig ist? Die in einer bürgerlichen Gegend wohnt? Tatsache ist: Die heutige Situation in den Vereinigten Staaten ist in keiner Weise vergleichbar mit der Ära der Großen Depression in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als ausgemergelte Arbeitslose auf den Straßen der Städte um eine Mahlzeit bettelten. «Dies ist nicht der Hunger, den unsere Großeltern kannten», sagt die Soziologin Janet Poppendieck von der City University of New York. «Heute leiden erwerbstätige Leute und ihre Familien Hunger, weil die Löhne so geschrumpft sind.»

In mehr als der Hälfte der Haushalte in den USA, in denen zeitweilig gehungert wird, leben Menschen weißer Hautfarbe. In zwei Dritteln dieser Haushalte mit Kindern ist wenigstens ein Erwachsener erwerbstätig, in der Regel in Vollzeit.

Das neue Bild des Hungers bringt auch neue Begriffe: 2006 ersetzte die US-Regierung das Wort „Hunger“ durch „Nahrungsunsicherheit“. Die gilt für Haushalte, in denen sich im zurückliegenden Jahr Mitglieder zeitweise nicht ausreichend ernähren konnten. Die Zahl dieser Menschen hat sich in den USA dramatisch erhöht und ist bis 2012 auf 48 Millionen gestiegen. Das sind fünfmal so viele wie Ende der sechziger Jahre. Parallel stieg die Zahl nichtstaatlicher Hilfsprojekte wie Suppenküchen oder Tafeln. 1980 gab es im gesamten Land einige hundert Einrichtungen, die Lebensmittel verteilten, heute sind es 50.000. Jeder sechste US-Bürger hat wenigstens einmal im Jahr nicht genug Vorräte im Schrank, um satt zu werden.

Wer sich mit Hunger in den USA befasst, trifft regelmäßig auf Menschen, in deren Kühlschrank nichts anderes zu finden ist als Senf und Ketchup. Das ist vielen keine Bemerkung wert, und sie schämen sich auch nicht. Bei ihnen bestehen Mahlzeiten aus gespendeten Fertiggerichten: Makkaroni mit Käse oder ähnlichen Industrieprodukten. Frisches Obst oder Gemüse gibt es nur in den ersten Tagen nach der Gutschrift der „food stamps“.

In dieser Welt leben nicht nur hungernde Erntehelfer, sondern auch pensionierte Lehrer, Neubürger ohne Arbeitserlaubnis ebenso wie Familien, deren Stammbaum bis zur „Mayflower“ zurückreicht, der ersten Generation von Einwanderern aus Europa, die im Jahr 1620 ankam. Sich vom Essen auf der Arbeitsstelle verstohlen etwas für zu Hause in die Tasche zu stecken oder Mahlzeiten auszulassen, damit die Vorräte länger reichen, ist zum Alltag geworden.

Natürlich liegt bei Familien, die Lebensmittelhilfe erhalten, die Frage nahe: «Wieso seid ihr übergewichtig, obwohl ihr zu wenig zu essen habt?» Das sei kein Widerspruch, sagt Melissa Boteach, Vizepräsidentin der Denkfabrik „Center for American Progress“ und zuständig für das Programm „Armut und Reichtum“. «Hunger und Übergewicht sind zwei Seiten einer Medaille», erklärt sie. «Die zusätzlichen Pfunde sind ein Nebeneffekt schlechter Ernährung.»

Bei Familien, die Lebensmittelhilfe erhalten, liegt die Frage nahe: «Wieso seid ihr dick, obwohl ihr zu wenig zu essen habt?» Doch in den USA – und nicht nur dort – ist Übergewicht ein Nebeneffekt der Mangelernährung.

Geändert haben sich die Adressen, wo Hunger herrscht. Am Rand der texanischen Metropole Houston liegt die Gemeinde Spring, eine Vorstadtsiedlung mit kurvenreichen Straßen, schattenspendenden Bäumen und Gartenzäunen. In solchen Vorstädten – den suburbs – war einmal der Amerikanische Traum zu Hause, aber jetzt wächst hier die Armut. Weil das Wohnen in der Stadt zu teuer geworden ist, ziehen Geringverdienende an den Stadtrand. In den suburbs nimmt der Hunger heute rascher zu als in den Städten.

Dass fast alle hier Auto fahren, scheint dem Bild von Notleidenden zu widersprechen, ist aber kein Luxus, sondern Notwendigkeit: Die Wege sind weit, öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum. Kleidung und Spielzeug billig auf privaten Flohmärkten oder in Trödelläden zu kaufen hilft, den Anschein einer Mittelschichtsexistenz zu wahren. Fernseher und andere Unterhaltungselektronik erwirbt man auf Kredit.

In den suburbs nordwestlich von Houston kann man gut beobachten, wie die Ernährung von Menschen aussieht, die vom Mindestlohn leben. Obwohl hier in der Regel mindestens ein Familienmitglied voll arbeitet, ist der Anteil der Haushalte, die auf Lebensmittelbeihilfe angewiesen sind, kaum irgendwo höher.

Die Schwestern Meme und Kai Jefferson wohnen in einem Haus mit vier Schlafzimmern, einer Doppelgarage, Bad und einer Gästetoilette. Zum Haushalt gehören Kais Freund Frank und mehrere Verwandte: ihre kranke Mutter, die fünf Söhne der Schwestern und eine Schwiegertochter. Im Wohnzimmer steht ein alter PC, in den meisten Räumen gibt es TV-Geräte, aber im gesamten Haus nur zwei richtige Betten. Die meisten Bewohner schlafen auf Matratzen oder auf einem Haufen Decken auf dem Fußboden.

Obwohl drei Erwachsene Vollzeit arbeiten, reicht ihr Einkommen nicht aus, den Haushalt dauerhaft ohne Beihilfe zu ernähren. Das zentrale Problem ist, dass die Löhne für die meisten Jobs nicht hoch genug sind, den Unterhalt einer Familie zu sichern. Also sind staatliche Lebensmittelmarken die allgemein akzeptierte Methode geworden, um die niedrigen Einkommen aufzustocken. Die Jeffersons erhalten jeden Monat 125 Dollar Beihilfe, eine karitative Organisation liefert das Essen für die Mutter.

Dennoch ist die nächste Mahlzeit nie gesichert. Meme zeigt mir die Vorräte: Im Kühlschrank liegen ein paar Schachteln mit Resten aus Schnellrestaurants, Getränke, aber kaum frische Lebensmittel. In zwei Küchenschränken stehen Konserven mit Bohnen und Fertigsaucen. In den zwei Kühltruhen in der Garage lagert je eine Lage Tiefgefrorenes, genug für nur wenige Tage. Meme sagt, sie habe die Kinder schon vor Monaten ermahnt, weniger zu essen. Und vor allem: weniger zu verschwenden.

Auch Jacqueline Christian in Houston hat eine Vollzeitstelle, sie fährt eine komfortable Limousine und macht mit ihrer Kleidung Eindruck. Ihr älterer Sohn, der 15-jährige Ja’Zarrian, trägt Markenschuhe aus der Designer-Linie eines Basketballstars. Die Not der Familie ist nicht offensichtlich, doch die Kleidung der Mutter stammt aus Discountläden, für seine Sneakers hat Ja’Zarrian einen Sommer lang den Rasen anderer Leute gemäht, die Christians wohnen in einer Obdachlosenunterkunft, und sie beziehen jeden Monat 325 Dollar Lebensmittelbeihilfe. Ständig ist die Sorge da, ob es genug zu essen gibt.

Jacqueline Christian arbeitet als mobile Krankenpflegerin. Sie verdient 7,75 Dollar (knapp sechs Euro) die Stunde, ihre Kunden leben über den gesamten Großraum Houston verstreut. Neben dem geringen Einkommen bestimmt ihr Dienstplan, was sie isst. Oft bleibt nur Zeit für die warme Theke in einem Supermarkt.

Neben einem Dutzend Besorgungen musste sie heute noch im Kreditbüro um einen Tag Zahlungsaufschub für die nächste Rate bitten. Nun holt sie Ja’Zarrian und den siebenjährigen Jerimiah von der Schule ab. Als die Neonreklame eines Schnellrestaurants an der Straße sichtbar wird, quengelt der Kleine. Er möchte eine Portion frittierte Hühnermägen.

Das Menü kostet 8,11 Dollar, doch drei Kreditkarten werden nacheinander zurückgewiesen. Jacqueline Christian ruft ihre Mutter an, die in der Nähe wohnt. Sie legt den Betrag aus. Erst als der Geruch heißen Fetts das Wageninnere füllt, entspannt sich die Stimmung. Noch vor der Ankunft im Heim haben die Jungs alle Hühnermägen verputzt und sind eingeschlafen.

Jacqueline Christian gibt zu, dass diese Ernährung nicht gesund ist. Aber sie sei zu gestresst gewesen – wenig Zeit, Jerimiahs Genörgel, knappe Kasse –, um nicht nachzugeben. «Ich konnte einfach nicht mehr nein sagen.»

Dabei ist es möglich, sich gut und gleichzeitig preisgünstig zu ernähren. Viele Geringverdiener wissen nur nicht, wie. Kyera Reams aus Iowa hat es sich selber beigebracht. Die Hausfrau mit Highschool-Abschluss betreibt einigen Aufwand, ihre sechsköpfige Familie gesund zu ernähren – auch mit Lebensmittelspenden und den 650 Dollar Beihilfe, die ihr monatlich zustehen. Als sie erfuhr, dass man die Beihilfe auch verwenden kann, um Gemüsesetzlinge zu kaufen, legte sie im Garten zwei Beete an und weckt einen Teil der Ernte ein. Sie hat auch gelernt, wo man in der Natur wilden Ingwer und Beeren findet und welche Pilze essbar sind. Auf ihre Initiative hin stehen nun in der örtlichen Bücherei einige Naturführer über essbare Wildpflanzen.

Reams schätzt, dass ihre Familie drei Monate lang von den angelegten Vorräten an nahrhaften Lebensmitteln satt werden könnte. Ihre Familie genießt Nahrungssicherheit, weil Kyera Reams sich ganztägig um die Versorgung kümmert – und um die Pflege ihres Ehemanns, dessen Invalidenrente das einzige Einkommen ist.

Viele andere Geringverdiener im ländlichen Iowa sind dagegen mangelernährt, obwohl ringsumher der Mais bis zum Horizont wächst. Iowas Böden gehören zu den fruchtbarsten in den USA, etwa ein Sechstel der gesamten Mais- und Soja-Ernte des Landes kommt von hier.

Die US-Regierung subventionierte den Anbau im Jahr 2012 landesweit mit elf Milliarden Dollar. Der Ertrag landet in Form von Würst
chen aus dem Fleisch mit Mais gefütterter Rinder, als Softdrink mit Maissirup oder als Frit
tieröl für Hähnchennuggetts auf Christina
Dreiers Küchentisch. Der Anbau von Obst oder
Gemüse, obwohl in den staatlichen Ernährungs
richtlinien festgeschrieben, wird deutlich weniger gefördert. 2011 gab es für diese „besonderen Anbaugüter“ lediglich 1,6 Milliarden Dollar. Diese Prioritäten werden auch im Supermarkt deutlich: Obst und Gemüse kosten heute nach aber mehr als 800 Meter Abzug der Inflationsrate 24 Prozent mehr als vor 30 Jahren. Mit Maissirup gesüßte Softdrinks dagegen sind im gleichen Zeitraum 27 Prozent billiger geworden.

«Wir haben ein System geschaffen, das zwar die Lebensmittelpreise insgesamt niedrig hält, gesunde Nahrung aber wenig unterstützt», fasst der amerikanische Welternährungsexperte Raj Patel zusammen. «Es nützt auch nichts, den Leuten zu erzählen, sie sollten mehr Obst und Gemüse essen. Ursache des Problems ist die wachsende Armut. Und der Grund dafür ist, dass Arbeit immer schlechter bezahlt wird.»

Also kämpfen die Dreiers weiter. Wie Familie Reams haben sie nun hinter dem Haus kleine Gemüsebeete angelegt. Aber wenn die Ernte aufgebraucht ist, müssen sie bei jedem Gang zum Supermarkt oder zur Lebensmittelverteilung wieder schwierige Entscheidungen treffen. Gesunde Produkte sind für sie kaum erschwinglich, bei der Verteilstelle auch selten im Angebot. Nur wenn die Beihilfezahlung kommt, greift Christina Dreier beim frischen Gemüse zu und leistet sich auch mal eine Tüte Bio-Weintrauben und einen Beutel Äpfel. «Die Kinder lieben Obst», sagt sie. Am meisten gibt sie aber für Fleisch, Eier und Milch aus, bei der Verteilstelle bekommt sie gespendete Nudeln und Tomatensauce.

Meistens, sagt Christina Dreier, habe sie gerade so genug Lebensmittel in ihrer Küche. Eng wird es, wenn eine Rechnung fällig wird oder sie tanken muss. Ohne Auto kommen die Kinder nicht zur Schule. «Wir verhungern hier nicht», sagt sie, während sie Milchpulver für ihre Tochter anrührt. «Aber an manchen Tagen knurrt der Magen schon.»

(NG, Heft 8 / 2014, Seite(n) 62 bis 83)

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