Durch den Klimawandel breiten sich tropische Krankheiten in Richtung Arktis aus

Die Temperaturveränderungen auf der ganzen Welt sorgen dafür, dass Krankheitserreger in unerwartete neue Gebiete vordringen und viele Risiken für die dort lebenden Menschen mit sich bringen.

Von Craig Welch
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:35 MEZ

Er war im Golf von Mexiko schwimmen gegangen, ohne zu ahnen, dass dessen warmes Wasser sein Ende bedeuten sollte. Der 31-jährige Mann wurde drei Tage nach seinem Bad im Atlantik ins Parkland Memorial Krankenhaus in Dallas eingeliefert. Erdrückende Schmerzen breiteten sich von seinem Tattoo am Fußgelenk aus – ein Bild von zwei Händen, die ein Kreuz umklammerten, und der Schriftzug „Jesus is my life“ (dt. Jesus ist mein Leben). Er hatte Fieber und gefährlich niedrigen Blutdruck. Schwarze Blasen bildeten sich um seine Fußgelenke herum. Seine Nieren und seine Lunge hatten zu versagen begonnen. An seinen Hüften und Zehen bildete sich gangränöses Gewebe. Innerhalb von zwei Monaten starb der Mann.

Der Täter war ein lästiges Bakterium namens Vibrio vulnificus, das in warmem Meerwasser vorkommt. Es kann über Kratzer und frische Wunden – wie die, die durch Tattoonadeln entstehen – in den Körper eindringen. Infektionen wie jene, die den Mann 2016 das Leben gekostet haben, kommen seit Jahren sporadisch in den warmen Gewässern von Texas bis Maryland vor. Während die Treibhausgase die Temperaturen weltweit ansteigen lassen, breiten sich seltene Erreger wie dieser aus wärmeren Gegenden in Richtung der Pole aus. Dadurch entstehen ungeahnte Risiken für Menschen. Tödliche Krankheiten, die durch Vibrionen ausgelöst werden, treten nun sogar schon in der Nähe des Polarkreises auf.

„Es eröffnen sich eine Menge neuer Gebiete für diese Bakterien“, sagt Craig Baker-Austin. Der Vibrionen-Experte ist der Laborleiter des Zentrums für Umwelt, Fischerei und Aquakulturwissenschaften in Großbritannien. „Im Grunde befeuert der Klimawandel diesen Prozess, besonders die Erderwärmung.“

Es ist kein Geheimnis, dass sich durch den Klimawandel Krankheiten wie das West-Nil-Virus, Zika und Malaria ausbreiten können. Die steigenden Temperaturen lassen Krankheitsüberträger wie Stechmücken in neue Regionen vordringen, von den Hochländern Äthiopiens bis in die USA. Aber die wärmeren Temperaturen und der Wandel im Wettergeschehen wirken sich auch auf subtilere Weise aus. Veränderungen bei Niederschlägen, Wind und Wärme verschieben die Bedrohungen durch andere menschliche Krankheiten geografisch, ob nun Cholera, seltene Süßwasser-Geißeltierchen, die Hirnhautentzündungen verursachen, oder Infektionen wie das Hantavirus, die durch Nagetiere übertragen werden. Die Bedeutung dieser Gefahren wird in Zukunft noch signifikanter.

„Vermutlich wird das jeder im Laufe seines Lebens zu spüren bekommen“, sagt Stanley Maloy. Der Mikrobiologe ist der Dean des College of Sciences an der San Diego State University. „Vielleicht sind es Übertragungen von Krankheiten durch Mückenstiche, und zwar an Orten, an denen es diese vorher nicht gab. Es kann eine einfache Salmonelleninfektion sein. Aber es wird uns alle betreffen.“

KRANKHEITSFLUT?

Ein Großteil der Aufmerksamkeit ruhte bisher auf den direkten Folgen des Klimawandels ­– zum Beispiel auf dem Anstieg des Meeresspiegels oder Dürreperioden. Die Wissenschaftler fangen gerade erst an, die vielen potenziellen Implikationen im Bereich der Krankheiten zu verstehen. Das liegt teils daran, dass sich komplexe Ökosysteme auf komplexe Art und Weise verändern. Die Verhaltensanpassung der kleinsten Rädchen im Getriebe, also beispielsweise Mikroben und Insekten, wird am schwersten vorherzusagen sein.

Einige Hinweise lassen etwa vermuten, dass Veränderungen in der Feuchtigkeit die Ausbreitung eines Pilzes beeinflussen können, der für das sogenannte Talfieber oder Kokzidioidomykose verantwortlich ist. Mit Sicherheit können die Wissenschaftler das aber nicht sagen. Infektionen wie Tuberkulose, die sich über die Luft verbreiten, könnten länger dort verbleiben und womöglich einfacher in Regionen übertragen werden, die laut Vorhersagen in Zukunft feuchter sein werden. Neue Studien deuten darauf hin, dass die Ausbreitung von Raubwanzen die durch sie übertragene Chagas-Krankheit nach Nordamerika bringen wird. Es leiden bereits Millionen Menschen weltweit an einer chronischen Form der Krankheit, die zu lebensgefährlichen Herzschäden und Schlaganfällen führen kann. Die meisten Betroffenen leben in Südamerika.

Es gibt allerdings auch viele Erreger, deren geografische Verläufe durch die Emissionen fossiler Brennstoffe bereits verändert werden.

„Es ist so oft der Fall, dass wir über viele Folgen des Klimawandels sagen, dass sie 2030 oder 2050 oder 2100 ein Problem sein werden, und das klingt so weit weg“, sagt Maloy. „Aber wir reden hier über Dinge, bei denen unser [aktueller] Temperaturanstieg von einem Grad schon genug ist, um Infektionen zu beeinflussen.“

In Europa haben sich Zecken, die Lyme-Borreliose übertragen und früher größtenteils im Süden zu finden waren, schon bis nach Schweden ausgebreitet. Manche Winter sind nicht mehr kalt genug, um junge Nymphen abzutöten, die dann in der nächsten Saison aktiv sind. Ein ähnliches Problem trat in einer russischen Region in der Nähe des Uralgebirges auf. Dort gab es in den letzten 20 Jahren einen 23-fachen Anstieg einer durch Zeckenbisse ausgelösten Hirnhautentzündung. Die steigenden Temperaturen haben die Zeckensaison circa um die Hälfte verlängert. Derweil treten Sandmücken, deren Parasiten Leishmaniose übertragen können, bereits im Norden von Texas auf. Einige Arten dieser Krankheit können Hautläsionen oder Schäden an Milz und Leber verursachen.

„In manchen Fällen haben wir klare Beweise dafür, dass sich da bereits etwas tut. Und diese Beweise hängen eng mit den Veränderungen in der Umgebungstemperatur, extremen Wetterlagen oder Wassertemperatur zusammen“, sagt Maloy.

Zu den am besten dokumentierten dieser neuen Bedrohung zählt die Verbreitung von Vibrionen, die sich über warmes Wasser ausbreiten. Sie können ahnungslose Schwimmer oder Menschen, die Meeresfrüchte essen, erkranken lassen oder sogar töten.

STEIGENDE TEMPERATUREN ALS URSACHE

Es gibt mehr als 80 Arten von Vibrionen. Mindestens ein Dutzend von ihnen kann bei Menschen und Fischen Krankheiten auslösen. Zu denen zählt auch das Bakterium, das Cholera verursacht. Weltweit leiden Millionen von Menschen an dieser Krankheit, die jährlich 100.000 Leben fordert. Arten, die keine Cholera verursachen, machen dennoch jedes Jahr 50.000 Amerikaner krank. Die meisten von ihnen leiden durch Verzehr von infiziertem Fisch unter leichter Übelkeit. Aber ein kleiner Teil von ihnen erleidet wie der Mann in Dallas auch schlimme Infektionen, wenn die Bakterien durch frische Wunden in den Blutkreislauf gelangen.

In diesem speziellen Fall war die Infektion auch deshalb so fatal, weil der Mann sehr viel Alkohol zu sich nahm. Er trank regelmäßig sechs Bier am Tag, und Leute mit Leberkrankheiten sind noch anfälliger für das Bakterium.

„Er wurde sehr schnell sehr krank“, sagt der Arzt, der ihn behandelt hat. Nicholas Hendren arbeitet in der Inneren Medizin des Parkland Health and Hospital System und am Medizinischen Zentrum der Universität von Texas. Er veröffentlichte einen Fallbericht in einer britischen Fachzeitschrift für Medizin. Hendren verglich den unkontrollierbaren Infektionsverlauf mit „einem Lastwagen, der ohne Bremsen einen Berghang hinunterrast.“

Die Schmerzen können ungeheuerlich sein, erinnert sich Wendy Billiot. Die ehemalige Angelführerin infizierte sich 2012 am Mittelfinger mit einem Vibrio-Bakterium. Sie hatte eine Gruppe im Golf von Mexiko geführt und den Tag damit verbracht, Krabben zu zerteilen, um die Angelhaken mit Ködern zu präparieren. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die rauen Krabbenpanzer ihren Mittelfinger wundgescheuert hatten, über den dann die Bakterien eindringen konnten. Vier Tage später war ihr Finger violett angelaufen. Da sie nicht wusste, was damit nicht stimmte, ging sie zum Arzt.

„Ich habe eine hohe Schmerztoleranz, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Qualvolles erlebt – und ich habe sechs Kinder bekommen“, erzählt sie. „Ich hatte sehr viel Glück, dass ich meinen Finger, meine Hand, meinen Arm und mein Leben nicht verloren habe.“

Für Menschen birgt so eine Infektion beträchtliche Risiken. Die Bakterien vermehren sich bei Temperaturen von 13 bis 15 °C schnell. Im Sommer sind solche Temperaturen im Golf und einigen Meeresarmen des Atlantiks (wie denen bei der Chesapeake Bay) schon seit Langem normal. In letzter Zeit haben aber weltweit die Cholerafälle zugenommen. Auch andere Krankheiten, die durch Vibrionen ausgelöst werden, treten häufiger auf. Die einzige Konstante dabei sind die steigenden Temperaturen

Vor 2004 nahm man zum Beispiel noch an, dass die Gewässer Alaskas zu kalt seien, um eine Menge an Vibrionen zu begünstigen, die groß genug ist, um Krankheiten auszulösen. Um den 4. Juli desselben Jahres herum erkrankten dann mehrere Dutzend Passagiere eines kleinen Kreuzfahrtschiffs, nachdem sie Austern aus dem Golf von Alaska gegessen hatten – 1.000 Kilometer weiter nördlich als der bis dato nördlichste bekannte Vibrionen-Vorfall. Die Gewässer um die Austernbänke waren in diesem Sommer etwa zwei Grad wärmer als je zuvor gewesen.

„Was da passiert, hat mit dem Klimawandel zu tun, keine Frage“, sagt Jay Grimes. Der Mikrobiologe arbeitet am Forschungslabor der University of Southern Mississippi's Gulf Coast.

Schließlich fand eine Studie zu Untersuchungen des Meeresplanktons im Nordatlantik und der Nordsee heraus, dass der dramatische Anstieg der Vibrionenpopulationen mit dem Anstieg der Oberflächentemperatur des Meeres einherging. Ebenso erhöhte sich in Korrelation damit die Zahl der Vibrionen-Infektionen an der europäischen Küste und der Ostküste der USA.

Diese Ausbrüche waren nirgends sonst so dramatisch wie 2014 an der Ostsee. Dort traf ein durch Vibrionen ausgelöster Krankheitsausbruch eine Gegend, in der man die Bakterien am wenigsten erwartet hatte: den Norden Skandinaviens. Einige Menschen aus nördlichen Provinzen an der Küste von Finnland und Schweden wurden von den Krankheitserregern befallen. Das Alter der Betroffenen reichte von 3 bis 93 Jahren. Sie litten unter schlimmen Geschwüren und Hautläsionen. Einige von ihnen erlitten eine gefährliche Blutvergiftung, während ein paar von ihnen beinahe Organe oder Gliedmaßen verloren. Einer von ihnen starb.

Insgesamt erkrankten 89 Personen – alle, nachdem sie in der Ostsee gebadet hatten. Bei dem Vorfall handelte es sich in beiden Ländern um den größten bisher verzeichneten Krankheitsausbruch durch Vibrionen. Sechs der Betroffenen erkrankten auf Höhe des 65. Breitengrades – nur knapp über 300 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Damit waren es die nördlichsten Infektionen, von denen je berichtet wurde. Und kein Wunder: Zum sechsten Mal binnen 20 Jahren verzeichnete der Norden Skandinaviens in jenem Sommer eine Rekordhitzewelle. Mehrere Tage lang lagen die Temperaturen bei über 20 °C. Das Thermometer kletterte dort auf den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen.

„Ich war wirklich überrascht, auf diesem Breitengrad Infektionen zu sehen“, sagt Baker-Austin. „Das ist eine Umgebung, die für einen Großteil des Jahres gefroren ist. Die Klimaerwärmung hat den Bereich, in dem sich diese Bakterien vermehren können, stark ausgeweitet – mit umfangreichen Auswirkungen auf die damit verbundenen Infektionen.“

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