Patient nach 15 Jahren aus Wachkoma aufgewacht

Der 35-Jährige konnte seinen Kopf drehen und auf visuelle Reize reagieren. Was bedeutet das für andere Patienten?

Von Karen Weintraub
Veröffentlicht am 30. Okt. 2017, 14:05 MEZ
Eine Illustration zeigt, wie der Informationsaustausch im Gehirn eines Patienten im Wachkoma nach der Vagus-Stimulation zugenommen hat.
Foto von Corazzol et al

Wenn ein Mensch ein Jahr lang in einem vegetativen Zustand verbracht hat, gilt dieser als permanent – viele Menschen erlangen dann nie wieder ein Bewusstsein.

Gerade deshalb ist es so überraschend, dass französische Forscher in der Lage waren, das Bewusstsein eines Patienten zu verstärken, der seit einem Autounfall vor 15 Jahren im Wachkoma liegt. Gehirne funktionieren eigentlich nicht auf diese Art.

Die Forscher haben ein Gerät in die Brust des 35 Jahre alten Mannes implantiert, welches seinen zehnten Hirnnerv (auch Nervus vagus oder nur Vagus genannt) stimulierte. Dieser erstreckt sich vom Kopf bis auf Bauchhöhe und spielt eine Rolle beim Wachheitszustand und der Aufmerksamkeit.

Nach einem Monat der täglichen Vagus-Stimulation übertrafen die dramatischen Verbesserungen beim Zustand des Mannes alle Erwartungen, wie das Team in „Current Biology“ mitteilte.

Wir haben zusammengefasst, was über die neue Behandlungsmethode bekannt ist und was das für Patienten im Wachkoma bedeutet.

WAS GENAU IST EIN VEGETATIVER ZUSTAND?

Eine Person in einem vegetativen Zustand kann allein atmen und erlebt Momente des Wachseins. Allerdings ist sie sich ihrer Umgebung nicht bewusst und kann nicht kommunizieren oder auf externe Stimuli reagieren. Nach einem Jahr gilt ein vegetativer Zustand als Wachkoma. „Sie sind nicht präsent in der Welt“, erklärt die Studienleiterin Angela Sirigu vom Institut für kognitive Wissenschaften Marc Jeannerod in Lyon, Frankreich.

Bei einem Koma hingegen sind die Augen der Person geschlossen. Es ist möglich, sich von einem Koma zu erholen und wieder vollständig aufzuwachen. Eine komatöse Person kann auch in einen vegetativen Zustand oder einen Zustand des minimalen Bewusstseins übergehen oder ein Locked-in-Syndrom entwickeln. Dabei ist die Person bei Bewusstsein, kann sich aber nicht bewegen und höchstens über Augenbewegungen kommunizieren.

WACHTE DER MANN NACH 15 JAHREN PLÖTZLICH AUF?

Nein, aber seine Fortschritte waren dennoch überraschend. Medizinisch gesehen ging der Patient von einem vegetativen zu einem minimal bewussten Zustand über. Nach einem Monat der Stimulation des Vagus konnte der Mann einfach Anordnungen Folge leisten und zum Beispiel seinen Kopf langsam von links nach rechts drehen, sagt Sirigu.

Er konnte länger als zuvor wach bleiben und dabei zuhören, wie ein Therapeut ihm ein Buch vorlas. Außerdem reagierte er auf empfundene Bedrohungen. So weiteten sich beispielsweise seine Augen, wenn jemand plötzlich dicht an sein Gesicht herankam, so Sirigu. Menschen in einem vegetativen Zustand zeigen keine solchen Reaktionen.

Hirnscans des Patienten zeigten nach der Vagus-Stimulation erhöhte Aktivität im parieto-okzipitalen Kortex, im Thalamus und im Striatum.
Foto von Corazzol et al

Die Fortschritte des Mannes waren auch bei Hirnscans sichtbar. Die Analysen zeigten eine verstärkte Kommunikation zwischen den Hirnregionen und eine erhöhte Stoffwechselaktivität.

KÖNNTE SICH DER ZUSTAND DES MANNES EINFACH ZUFÄLLIG VERBESSERT HABEN?

Wahrscheinlich nicht. Die Forscher wählten ganz bewusst einen Patienten aus, der sich schon lange in diesem Zustand befand, um die Möglichkeit einer zufälligen Verbesserung auszuschließen.

WIE STIMULIERTEN DIE FORSCHER DEN HIRNNERV?

Die Aktivierung dieses Nervs löst Signale an die sogenannten noradrenergen Bahnen aus, die ausschlaggebend für Erregung, Aufmerksamkeit und die Kampf-oder-Flucht-Reaktion sind. Die Vagus-Stimulation wird bereits eingesetzt, um Epilepsie und gelegentlich auch Depressionen und neurologische Störungen zu behandeln. Diese Technik wurde auch schon benutzt, um kürzlich entstandene, traumatische Hirnverletzungen zu behandeln.

Uzma Samadani, die bereits Patienten mit mittelschweren Hirnverletzungen per Vagus-Stimulation behandelt hat, ist von den Ergebnissen aus Frankreich begeistert. „Ich befürworte diese Forschungsrichtung ganz ausdrücklich“, schrieb sie in einer E-Mail. Samadani ist eine Professorin am Institut für Neurochirurgie der Universität von Minnesota.

„Ich glaube, dass wir noch kein umfassendes Verständnis für die Mechanismen von beeinträchtigten Bewusstseinszuständen haben, die mit Traumata assoziiert werden. Aber die Vagus-Stimulation scheint in diesem Einzelfallbericht vielversprechend zu sein.“

WAS BEDEUTET DAS FÜR ANDERE MENSCHEN MIT SCHWEREN HIRNVERLETZUNGEN?

Auch wenn der aktuelle Fall bemerkenswert ist, ist er nur ein Beispiel. Die Forscher werden ihre Befunde noch mit Hilfe zahlreicher anderer Patienten bestätigen müssen, um das volle Potenzial der Vagus-Stimulation begreifen zu können.

Aber wenn sich herausstellen sollte, dass die Methode bei einer Vielzahl von Fällen funktioniert, könnte sie Menschen mit einem eingeschränkten Bewusstsein zumindest ein bisschen freien Willen und die Möglichkeit zur Verständigung geben. Sirigu fügt hinzu, dass die Vagus-Stimulation wahrscheinlich effektiver ist, wenn sie kurz nach dem Erfolgen der traumatischen Hirnverletzung passiert. Das möchte sie als nächstes untersuchen.

„Je eher wir stimulieren können, desto eher können wir in die Körperfunktionen eingreifen und eine Art körperliches Gleichgewicht wiederherstellen“, sagt sie.

GEHT ES DEM MANN JETZT WIRKLICH BESSER, WENN ER SICH SEINES ZUSTANDES NUN BEWUSST IST?

Das ist schwer zu sagen. Seine Familie hat es abgelehnt, sich öffentlich zu seinen Fortschritten zu äußern. Aber Sirigu ist optimistisch. „Es ist immer besser, zu verstehen, als sich gar nicht darüber bewusst zu sein, was andere mit einem tun oder einem sagen“, sagt sie. „Ich würde es in jedem Fall vorziehen, bei Bewusstsein zu sein.“

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